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13 Reasons Why: Mehr fühlen, als man sagen kann

Die Serie 13 Reasons Why ist am 31. März 2017 auf Netflix erschienen. Dieser Text enthält Spoiler und thematisiert sexualisierte Gewalt.

 

Die Welt von 13 Reasons Why  ist die einer normalen High School im heutigen Amerika. Jugendliche haben Smartphones und Autos, aber ansonsten besteht sie aus den Requisiten, die wir aus unzähligen Coming of Age Filmen kennen: Jocks und Cheerleader regieren die Schule. Es gibt die Unscheinbaren im Kapuzenpullover und den Uncoolen, der immer für das Jahrbuch fotografiert. Gelbe Schulbusse, von innen bunt beklebte Schließschränke, Partys mit roten und blauen Plastikbechern, erste Küsse. Überforderte Eltern.

Wir kennen diese Welt, auch wenn wir selbst nie an einer amerikanischen High School waren. Wir kennen sie so gut, dass wir wissen, was es bedeutet das Tablett mit Essen und Trinkpäckchen durch die Cafeteria zu tragen und keinen Tisch zu finden, an den man sich setzen darf. Wie schlimm es ist, niemanden für eine Tanzveranstaltung zu haben oder in der Dating-Rangordnung abzusteigen.
Die Geschichten, die darüber erzählt werden sind Variationen auf das immer gleiche Thema: Junge Menschen versuchen sich selbst zu finden und dabei trotzdem noch dazuzugehören. Das ewige Spiel von Abgrenzung und Anschluss, Unterscheiden und Gleich-Sein, in einem Chaos in dem man mehr fühlt, als man sagen kann. Egal, welche Farbe unsere Plastikbecher auf Partys hatten, wir alle haben unsere Demütigungen in der Vita, die 13 Reasons Why ins Zentrum der Erzählung rückt. Das kann es schwierig machen über die Serie zu sprechen, ohne auch über sich selbst und seine eigenen Erfahrungen zu sprechen.

Dem Opfer eine Stimme geben

13 Reasons Why macht dabei vieles richtig. Zum Beispiel gibt es einem Opfer eine Stimme. Hannah Baker erzählt. Sie erzählt von Demütigungen, von Übergriffen, Feigheit, Vergewaltigungen, Leere und Hilflosigkeit. Sie erzählt gnadenlos weiter; selbstbestimmt, aber tot. Ihre Stimme leitet uns durch ihre Geschichte, von der wir längst wissen wie sie ausgeht. Parallel dazu aber erfahren wir, was mit jenen passiert, die sie zurückgelassen hat. Und diese Geschichten bleibt offen. Es ist wichtig, dass wir dabei zwei Figuren folgen: Einem Jungen und einem Mädchen. Stünde Hannah Baker allein im Zentrum, würde uns vermutlich suggeriert, wir hätten es hier mit einer „Frauenserie“ zu tun. Denn das passiert leider allzu häufig: Die Innenwelt von Männern gilt als allgemein, die Innenwelt von Frauen als frauenspezifisch. 13 Reasons Why schafft es aber die Geschichte eines Mädchens zu erzählen, ohne sie speziell für Mädchen zu erzählen.

Hannah Baker wird zum Objekt gemacht

Hannah Bakers Geschichte beginnt mit einem Foto. Im Grunde ist es keine so
große Sache, dass dieses Bild von ihr die Runde macht. Sie sitzt auf einer Rutsche auf einem Kinderspielplatz und man kann zwischen ihren Beinen ihre Unterhose sehen. Verheerend ist das, was das Bild für die Jungen an ihrer Schule symbolisiert. Hannah Baker ist „easy“, Hannah Baker ist eine Schlampe, Hannah Baker ist ein Objekt. Auf der gesellschaftlich forcierten Gratwanderung zwischen erstrebenswerter Attraktivität für Männer und dem Label „Schlampe“ ist Hannah Baker in die schlechtere der beiden Kategorien gefallen. Und daraus wird sie nicht mehr entlassen. Diese Kategorie ermöglicht es erst, dass ihr eine eigene Gefühlswelt abgesprochen wird, Freundinnen sich abwenden, um nicht mit ihr unterzugehen, und schlussendlich niemand mehr da ist, dem sie vertrauen kann.

Wessen Geschichte erzählt die Gewalt

13 Reasons Why macht noch etwas richtig: Es nutzt Vergewaltigung nicht als einen erzählerischen Kunstgriff. Unsere Medien sind voll mit männlichen
Charakteren, die sich Frauen aufdrängen. Unsere Medien sind dagegen sind
 nicht voll mit den Erfahrungen von weiblichen Opfern. Die Vergewaltigung ist medial instrumentalisiert, um einen bösen Mann zu illustrieren. Triebhaft, dämonisch, falsch. So ist der Vergewaltiger. Aber wie ist sein Opfer? Bei der nächsten Vergewaltigungsszene im Fernsehen lohnt es sich zu fragen, wessen Geschichte eigentlich damit erzählt wird (Spoiler: Meist ist es die des Täters). Nichts illustriert dies so gut, wie James Marsters Interview mit dem AV Club, in dem er die Bedeutung der versuchten Vergewaltigung von Spike an Buffy beschreibt:

„Joss [Whedon] was constantly trying to remind the audience, “Look, guys, I know he’s charming, but he’s evil.” He’s a bad boyfriend. It would be bad to date a guy like this. And I think he wanted to reinforce that in the most dramatic way imaginable. And also give Spike a really good
reason to try to reform and try to become better and try to get a soul.“

13 Reasons Why erlaubt es uns nicht für ein paar Minuten geschockt zu zusehen, wie ein mehr oder weniger nötiger Plotpoint für einen Bösewicht gesetzt wird
und schon geht’s weiter. Die Erfahrung zum Objekt fremder Bedürfnisse degradiert zu werden ist ein tiefer Eingriff in das Seelenleben. Es kann jegliches Gefühl von Sicherheit sprengen, es kann das Leben teilen in ein Davor und ein Danach. Es kann mit Verdrängung einhergehen und mit dem Bedürfnis sich selbst zu zerstören. Man lebt in einem Körper, der einen nicht schützen konnte; in einem Körper, der einen betrogen hat. Es kann sein, dass man wie Jessica Davis weitermacht und sich schließlich jemandem anvertraut. Das lässt darauf hoffen, dass es besser werden kann. Doch dadurch, dass wir auch Hannah Bakers Geschichte hören, versperrt sich die Serie einer Deutung, die Vergewaltigungsopfer als Beispiele mutiger Resilienz inszeniert.

Vergewaltigung entsteht nicht im luftleeren Raum und passiert meistens in Freundes- und Bekanntenkreisen. Auch das erzählt die Serie gut, wenn sie die giftige Seite des „Bro Codes“ zeigt, bei dem der Gruppenzusammenhalt auf die
Kosten anderer geht und daraus auszubrechen schwere soziale Konsequenzen
 hat. Der beliebte Sportler Bryce Walker vergewaltigt Jessica Davis und Hannah Baker und spürt keinerlei Schuldgefühle. Er versteht nicht einmal, was er getan hat – so sehr ist er daran gewöhnt, das zu bekommen was er will. Loyalität unter Freunden und die Angst davor sich dem eigenen Versagen zu stellen beginnen erst zu bröckeln, als Clay Jensen die Beteiligten unermüdlich weiter damit konfrontiert.

„We all killed Hannah Baker“

Streitbar dagegen ist, wie 13 Reasons Why den Suizid von Hannah Baker an sich verhandelt. Es idealisiert ihn nicht. Dafür ist zum Beispiel das Leid der Eltern zu gut auserzählt. Doch die Tapes von Hannah führen zu einer morbiden Form des Erfolgs. Hannah Baker erlangt nach dem Tod, was ihr zu Lebzeiten verwehrt wurde: Kontrolle. Ihre Peiniger haben tiefere Einsichten, empfinden Reue und Angst, die Verbrechen werden aufgedeckt und der Junge, in den sie verliebt war,
sagt endlich, dass er sie auch liebt. Die Anschuldigungen, die Hannah frei heraus verteilt, werden letztlich validiert: „We all killed Hannah Baker“ hören wir immer. Das weiß zwar die Tote nicht, aber wir. Dies anzumerken klingt merkwürdig kulturkritisch, als gäbe man dem Werther Schuld an „Selbsttötungswellen“, oder Videospielen an Gewaltverbrechen. Doch die beeindruckenden Konsequenzen von Hannahs Plan, gemischt mit einem „Und es wird euch allen noch leidtun“ könnten ein gefährliches Narrativ für Menschen sein, die sich in ihrer Verzweiflung einen ähnlichen Effekt erhoffen.

Stuff, Things und What do you think

So läuft die Schuldfrage Gefahr ein anderes Leitthema zu überschatten: das
 Scheitern an sich selbst und der Mangel an Worten dafür. Justin Foley scheitert daran zu widersprechen, als sein bester Freund Jessica vergewaltigt und sagt erst viel zu spät die Wahrheit. Sheri Holland meldet sich nicht bei der Polizei, nachdem sie ein Stop-Schild überfahren hat und statt etwas zu sagen, hilft sie dem Unfalloper im Haushalt. Clay Jensen gesteht Hannah erst nach ihrem Tod seine Liebe. Diese Diskrepanz zwischen dem, was die Jugendlichen erleben und dem, was sie in der Lage sind zu sagen zeigt sich besonders in den Szenen der
Polizeiverhöre. Es passierte „stuff“, man sagte „things“ und was tun die Jungen? – „What do you think.“

Hannah erzählt ihre Geschichte so eloquent, dass man vergisst, wie oft sie selbst daran gescheitert ist in den wichtigsten Momenten etwas sagen. Die Traumata, die sie durch die ständige Objektifizierung erlitten hat machen sie stumm, als sie mit Clay im Bett liegt. Immer wieder friert sie ein: Im Schrank in Jessicas Zimmer, im Pool mit Bryce Walker. Sie schafft es nicht den Namen des Mannes auszusprechen, der ihr stummes Nein nicht gehört hat. Sie schafft es nicht um Hilfe zu bitten. Umso tragischer ist es natürlich, dass auch Personen, wie der Schulseelsorger, der eigentlich Raum schaffen sollte, um die Worte zu finden, selbst völlig unfähig sind.

Zu hoffen wäre, dass 13 Reasons Why ein Beitrag zur Lösung der Probleme ist, die es beschreibt. Auf jeden Fall ist das Gespräch, das darum entsteht ein wichtiges. Sicherlich helfen Figuren und Geschichten bei dem Prozess, den Clay Jensen stellvertretend für uns durchmacht: Erwachsenwerden, Verantwortung
übernehmen, Worte finden und sie sagen. Mündig werden.

Dieser Artikel ist zu erst auf Zebrabutter.net erschienen.

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