Foto: Carolin Weinkopf (www.carolinweinkopf.de)

2030: Die Skandal-Autobiographie eines heute 28-Jährigen

Wir schreiben das Jahr 2030 und ihre Autobiographie wurde gerade veröffentlicht. Was sagt die Buchkritik?

Die Wichtigkeit der Autobiographie

Es musste ja so kommen – ein „Wilder“ aus der 80er Generation will der Nachwelt seine Gefühle, seine Erfahrung und seine Wandlung erklären. Ist das wichtig für uns? Ich meine ja. Jemand der so intensiv gelebt hat – mit allen Höhen und Tiefen – hat etwas mitzuteilen. Aber lassen wir ihn selbst zu Worte kommen, um ihn besser kennen zu lernen. „Starr, wirr, resigniert, apathisch schaute ich umher, ohne meine Augen wandern zu lassen – ich probierte, aus dem Augenwinkel zu sehen und die Demütigungen meines Vorgesetzten hin zu nehmen“, so beginnt eine Autobiographie der besonderen Art.

Es bleibt fraglich, ob derartige Elaborate die literarische Welt tatsächlich bereichern. Die Oxford University Press feierte die Autobiographie Robin Haaks, mit den Zynismus unterwanderten Worten „mal was Neues“, und der Rest der Welt hielt es für das hochgestochenste, meist publizierte, jedoch das am schlechtesten verkaufte Werk aller Zeiten. „Irgendwie habe es Charme, dass der geringe Absatz von Haak selbst bewusst angekündigt wurde“ so die Süddeutsche in ihrem Feuilleton. „Diese Autobiographie ist keine Autobiographie – sie ist ein Drama!“ so die Weltpresse.

Der erste Akt: Das Leben als Drama?

Als Drama auch verfasst, habe sie wenigstens Aufsehen erregt, doch wie könnte es bei der Geschichte und der Unverfrorenheit Haaks auch anders sein.

Das Drama beginnt mit seiner Katharsis. In einem unendlich langweiligen Monolog – Haak mittlerweile 29 und im Büro seines Chefs sitzend – beschreibt die Situation seiner Kündigung mit einer sich über drei Seiten erstreckenden Beschreibung der Umgebung: „Es sei makaber, paradox, es prassele nicht in Strömen, keine Regenflut plätschert, nichts geschehe, niemand stürme herein, es sei bestes Wetter bei 30 Grad – auf seinen Lidern laste Blei und keiner würde ihn retten; so habe ich es gewollt (…)“ Nie wirklich erfährt man, was geschah, nur dass der Firmenverlust heute auf über 30 Milliarden Euro geschätzt wird. Die Tragödie nimmt dann ihren Lauf. Es folgt eine Überleitung zum ersten Akt – seiner Exposition, den Anfängen seiner Nacherzählung. Gefärbt von den Idealen der Generation vor ihm, wirft er der Menschheit Apartheid vor.

Die Stunde Null nach dem 2. Weltkrieg sei 1968 gewesen, da die damalige Partizipation sowohl fundiert gewesen ist, als auch Nutzen brachte. Es habe einen Auftrag gegeben: „Die Akzeptanzfrage sei neben aller Transparenz und Kontrolle mit einer neuen Qualität zu betrachten; haben wir es hier doch tatsächlich mit der originär demokratischen Performance und Legitimation neuer Politik zu tun – dass das Handeln des Gehorchenden im Wesentlichen so abläuft, als ob er den Inhalt des Befehls um dessen selbst Willen zur Maxime seines Verhaltens gemacht habe (Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 123) – und als habe sich die Menschheit denn wirklich durch Technik und Erfahrung so verändert. Der Mensch ist nicht klüger als vor tausend Jahren – nur gilt die Hypothese: “Je höher der Grad der Zivilisation, desto mehr Homogenität und dadurch weniger Mord und Totschlag“ (Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, 2. Bd).

Er selbst sei in einer traditionslosen Welt aufgewachsen, einem Ausläufer des Wirtschaftswunders und einem Hinzukommen der Vereinheitlichung – „Homogenität durch Medien, Integration durch Kulturverlust und Globalisierung, nur weil es durch die Interdependenz der Ressourcenverteilung in der Welt eine Pflichtveranstaltung sei und man, ohne sich effektiv wehren zu können – und mitten drin stecke ich (…) die Schere wird immer größer.“ Haak ordnet sein ganzes Leben in die Gesellschaft ein, er akzeptiert den „Neo-Pluralismus“ und erkennt die Unnötigkeit des „particeps“. Wegen des dadurch entstehenden Demokratiedefizits verursacht durch strukturell und institutionell nicht zu lösende Probleme – während die Monopolisierung vorangetrieben und den Menschen per Facebook und anderem ein Stempel der Zugehörigkeit durch ein Internet-Netzwerk aufgedrückt werde – kann er es nicht verstehen, dass diese seine Generation noch nicht zerstört ist. Er wollte nie Arzt werden, nie Anwalt in fünfter Generation – habe sich jedoch immer gewünscht, auch ein Ziel zu verfolgen, so wie sie es taten. Seine Schwester wollte Medizin nur studieren, um zur Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ zu kommen – sie hatte einen Auftrag.

Es sei seine Angst gewesen – gerade weil er anders war, wollte er sich integrieren, jedoch nie assimilieren. Seine Schule bestritt er, sein Studium vollzog er. Während er nie der Beste war, war er auch nie der Schlechteste. Jedoch schien es seine Gabe zu sein: Immer wenn er etwas anfasste, klappte es auch – er beschreibt es immer wieder mit einer „Jäger und Sammler“-Theorie, wobei er zu dem kleinen Kreis der Jäger gehöre und dadurch seinen Platz noch nicht habe finden können.

Der zweite Akt: Die Scham der Generalisten

Die Finanzkrise ab 2008 habe die Menschen nichts lernen lassen. Immer wieder und wieder fragt er sich, wann es mit seiner Generation von Generalisten zu Ende ginge – „Die Blase platzt und diesmal endgültig“, und dem Leser hängt es schon zum Hals raus. Wo seien die Kaufleute, die es von der Pike auf gelernt hätten, die jeden Schritt kannten und auch am Fließband gearbeitet hatten? In Scham sich anzupassen, jedoch es seiner Familie Recht machen wollend, passte er sich der Gier der Menschheit an.

Bachelor, Master, Promotion und ein schneller Einstieg als Assistent der Geschäftsleitung. Immer wieder folgen selbstbewusste Vergleiche, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski, in der Jesus vor der Gesellschaft vom Großinquisitor zurückgehalten bzw. eingekerkert werde: „Die bedauernswerten Blinden nicht wissen, wohin man sie führt und sich wenigstens unterwegs für glücklich halten“ – im Leben Haaks stellte sich oft die Frage, ob es nicht leichter sei, wie ein Kork zu sein – sich oben treiben zu lassen. „Gerade jetzt, gerade heutzutage sind die Menschen mehr als je davon überzeugt, völlig frei zu sein. Dabei haben sie selbst uns ihre Freiheit gebracht und sie uns demütig vor die Füße gelegt.“

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf und die Geduld des geneigten Lesers wird erheblich strapaziert bis ein Übergang von seinem beruflichen Erfolg zu dem unnützen bisherigen Gedanken geschaffen wird, und nachdem sein Leben von hinten her aufgerollt ist, befindet man sich in der Autobiographie wieder am Anfang in dem Büro des Vorgesetzten – dem 3. Akt – dem Höhe- und Wendepunkt.

Der dritte Akt: Die dumme Welt

All die Gier und all das Trading, die Insiderkäufe, die Stock-Verkäufe und die getürkten Einkäufe, so dumm sei die Welt, dass sie von all dem nichts wisse, und doch ginge es ihnen so viel besser, wenn sie die Wahrheit nicht kannten – „Sie seien es, die Nachts haben schlafen können“. Die Situation in seinem Monolog spannt sich zunehmend an und dann kommt der Punkt der Erkenntnis. Er muss an die „Ménagerie du Jardin des Plantes“ in Paris denken – er sähe den Käfig vor sich. „Er ist nicht golden, er ist aus Glas, überall Glas – in ihm ist es wunderschön, aber die Gesellschaft sei grausam und der Anblick nach draußen zu all den Anderen nicht zu ertragen“, „Ein System, das sich so beschleunigte und so unseriös wurde, dass es anschließend geborsten ist und alle mit sich in den Orkus gerissen hat.“ So beschreibt er die Situation 2016, und er zitiert Bertolt Brecht „Warum preisen dich ringsum die Unterdrücker, aber die Unterdrückten beschuldigen dich?“

Alles mehr als nur „ein wenig cheesy“, aber so kennt man ihn. Er erkennt, dass er das Richtige tat. 30 Milliarden Euro einfach dahin. Wie man ihm die Gesamtprokura habe geben können, verstehe er heute noch nicht, aber es sei richtig gewesen. All die Jahre habe er zugeschaut, nie den Sinn gesehen und sein Trott machte ihn müder und müder, bis der Glanz in den Augen nicht mehr zu erkennen war, weil er zu müde war. Er zitiert Erich Fried: „Wo lernen wir uns gegen die Wirklichkeit wehren die uns um unsere Freiheit betrügen will und wo lernen wir träumen und wach sein für unsere Träume damit etwas von ihnen unsere Wirklichkeit wird?” (Erich Fried, Wo lernen wir leben?) Und er hat, wenn auch reichlich spät, erkannt, dass man seine Fesseln nicht spürt, wenn man sich nicht bewegt und auch keine eigenen Spuren hinterlässt, wenn man in denen anderer wandelt.

Der vierte Akt: Alles Satire?

Die Dynamik des Schreibstils verliert an Tempo. Traumszenen, gemeinsam Träumen nachzugeben und ihnen Folge zu leisten, führen in den Anfang des 4. Akts. Der Rest der Autobiographie ist eine eher schlicht gehaltene unterhaltsame Satire, in welcher eine verkappte „Forrest Gump“- Story wiedergegeben wird ( US-amerikanische Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Winston Groom unter der Regie von Robert Zemeckis aus dem Jahr 1994. mit Tom Hanks in der Hauptrolle). Nur ist Robin Haak aufgrund seiner Arbeit nicht gerade der dumme Sympathieträger und Trottel, der durch seine Aufrichtigkeit und Gottes Gnaden zu Ruhm, Ehre und Erfolg gelangte, ohnees zu wissen wie, sondern ein zielstrebiger Mensch, der viel Lebenserfahrung benötigte, um zu erfahren, was „Glück“ heißt.

Neben seinen Tätigkeiten mit dem Aufbau von Kinderdörfern in Afrika, dem gezielten Einsatz seines erarbeiteten Vermögens, für eigene individuelle „Charity-Projekte“ bei Freunden, der Nachbarschaft, für viele, die von ihrem Weg abgekommen waren, und den sehr waghalsigen und lebensmüden Kampfhandlungen für die französische Fremdenlegion, die er sich in Mittelamerika lieferte, erhebt er für sich selbst den Anspruch, mit seinen Kontakten Themen zu fördern, welche die Nachhaltigkeit, Ökologie und soziale Marktwirtschaft ankurbelten. Die wenig glaubwürdige Geschichte von der Wandlung vom „Saulus zum Paulus“ schien die Menschheit wie einen Ring aller Religionen, man möge von Nathan dem Weisen sprechen, zu verbinden. Viele umschrieben es mit Roosevelt und der Vollendung seiner Idee von der „One World“. Mit Abraham als Vater in seinen Reden und immer wiederkehrenden anmaßenden Vergleichen mit dem ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush, der als Alkoholiker über den Glauben an Gott, das Christentum und sich selbst neu entdeckte (wobei gerade diese Vergleiche seine Macht untergraben sollten), scheint es doch interessant, dass Haak nie „geglaubt“ hatte – wie er schreibt – nur immer den Glauben an die Menschen hatte und die Welt als „Globales Bild“ sehen wollte – jedoch auch nie der Schäfer sein wollte.

Durch seine anscheinend große Popularität wurde er dann der Moderator von „Life“, dem Magazin von World News Channel, und schaffte es damit, die Welt zu erreichen und in kurzer Zeit umfassend zur Vereinigung beizutragen. Als wichtigste Ratifizierungen gilt natürlich das Friedensabkommen der 4 Länder, was jedoch nach den Wasserkriegen hauptsächlich zwischen Indien und China verhandelt wurde. Aus seiner Autobiographie lassen sich nochmals tiefe Eindrücke gewinnen, wie groß sein Einfluss, wenn auch indirekt gewesen sein mag.

Mit 44, seinem heutigen Alter, erfolgt mit seiner Autobiographie auch der Ausstieg aus seinem Geschäft. „Es sei an der Zeit, wieder etwas zurück zu geben – Caesar war gewählter starker Führer und damit durch seine Macht auch letzter Kaiser – niemand solle es vermögen, soviel Macht zu besitzen. Und die Idee eines Leviathan, selbst auf Zeit, kann nie die richtige sein. Denn wie paradox scheint es, eine Führung von oben nach unten und nicht umgekehrt zu erhalten“ – er vergleicht es in seiner wiederkehrend anmaßenden Art mit dem Erbe Kemal Atatürks vor dem Beitritt der Türkei zur EU.

Ein Drama ohne 5. Akt – ohne Katastrophe?

Der dramaturgische Bruch ist unverkennbar. Er selbst kündigt sie an und die Geschehnisse werden folgen. Doch bevor er in dem Krieg um die Wasseroption sterben werde, so wie ein jeder, wie er sagt, lebe er nun mit der Frau, die er immer geliebt habe, und seinen drei Kindern – Muckis, wie er sie liebevoll nennt – sehr einfach und abgeschieden. Am Ende sei es die Familie, die ihn glücklich mache und „seine Glückseligkeit habe man selbst zu finden – es ist der Weg und nicht das Ziel“.

Fazit: der Autobiograph vermittelt uns eine aberwitzige Geschichte, bisweilen selbstverliebt, ganz überwiegend phantastisch. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Realität die Visionen des Autors einholt.

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