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Die 28-Stunden-Woche muss Realität werden – jetzt, bedingungslos und für alle!

Die 28-Stunden-Woche? Ja, aber nicht nur für zwei Jahre! Der Wandel muss viel radikaler sein.

Zeit für weniger Arbeit

Die IG-Metall fordert die 28-Stunden-Woche – aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Luisa Jacobs von unserem Partner Zeit Online Arbeit arbeitet selbst nur vier Tage die Woche. Hier erklärt sie, warum es einen radikalen Wandel braucht.

Klavier- statt Computertasten

Die wichtigsten Antworten zuerst: Ja, ich kann davon leben. Und nein, ich arbeite wirklich nicht an meinem freien Tag. Natürlich gibt es die schwachen Momente. Noch immer passiert es mir, dass ich an meinem freien Freitag beiläufig Slack, unser Chatprogramm im Büro, öffne. Oder meine E-Mails checke. Könnte ich nicht vielleicht doch gebraucht werden? Irgendjemand wird doch sicher etwas wollen?

Aber der Appetit darauf, immer überall arbeiten zu wollen, lässt nach, je weniger man es tut. Seit knapp einem Jahr arbeite ich nun 80 Prozent als Redakteurin und mittlerweile klappe ich freitagmorgens nicht mehr als Erstes meinen Laptop auf, sondern den Deckel meines Klaviers. Klimpere statt auf der Tastatur auf den Tasten herum.

Arbeiten oder Klavierspielen? Beides!

Ich lebe, wovon eigentlich alle träumen: die 28-Stunden-Woche, das Drei-Tage-Wochenende, die ultimative Work-Life-Balance. Freitags gehe ich ins Schwimmbad statt ins Büro. Ich habe (noch) keine Kinder und (noch) keine pflegebedürftigen Eltern, um die ich mich kümmern muss. Ich mache das, weil ich es gut so finde. Mein Job macht mir Spaß. Klavier spielen auch.

Arbeiten ja, aber bitte nicht so viel. Mit dieser Einstellung bin ich nicht allein. Weniger arbeiten zu wollen, wurde in den Medien, auch bei ZEIT ONLINE, lange als die abgehobene Anspruchshaltung der um die 30-Jährigen (auch Generation Y genannt) belächelt: die Wunschvorstellung einer jungen, gut ausgebildeten und wohlhabenden Elite.

Und jetzt, großes Taadaaaa, fordert auch die IG Metall, Deutschlands größte und bodenständigste Gewerkschaft, die 28-Stunden-Woche. Am heutigen Montag streiken die Gewerkschafter bundesweit für eine „verkürzte Vollzeit” in der gesamten Metall- und Elektrobranche. Das klingt groß, nach Aufbegehren von der Basis. Doch wenn man genauer hinsieht, ist es nicht mehr als ein vorsichtiges Antippen des work-hard-Imperativs. Die IG Metall fordert die 28-Stunden-Woche. Bei Bedarf. Auf bestimmte Zeit. Höchstens zwei Jahre. Mit Rückkehrrecht auf Vollzeit. Gähn.

„Wirklich, nichts für ungut, ich wünsche den 3,9 Millionen Beschäftigten, dass es klappt. Aber es ändert nichts.”

Klar, die Forderungen sind nicht falsch. Es ist gut, wenn Arbeitnehmer weniger arbeiten können, um sich um ihre Familie zu kümmern. Besonders zeitgemäß und sozial ist, dass Menschen, die in ihrer arbeitsreduzierten Zeit Kinder oder Eltern pflegen, einen Lohnausgleich erhalten sollen. Wirklich, nichts für ungut, ich wünsche den 3,9 Millionen Beschäftigten, dass es klappt.

Am grundsätzlichen Problem ändert das aber leider nichts: Die Deutschen arbeiten viel zu viel. Nicht nur die Metaller, auch die Makler, Erzieher, Ärzte, Berater, Kellner, Lehrer: 43,5 Stunden im Schnitt jede Woche, mehr als noch vor 20 Jahren, ganz selbstverständlich auch am Wochenende und nach Feierabend, zu Hause aus dem Bett sowieso. Packt man die halbe Stunde Kantinenzeit und die durchschnittlich 16,9 Kilometer Pendelweg noch oben drauf, Sie kennen die Rechnung, viel Zeit für anderes bleibt nicht übrig.

Mit dem Arbeiten ist es ein bisschen wie mit dem Essen: Ohne könnten wir nicht überleben, aber wir haben das Maß verloren. Obwohl wir es besser wissen, arbeiten wir mehr, als uns gut tut. Manche bis zum Zusammenbruch. Und wir ahnen: Mit ein bisschen weniger ginge es uns besser.

Die Forderung der IG-Metall wirkt höchstens wie ein gut gemeintes, aber befristetes Diätangebot

Intervallfasten. Aber nur für die besonders schweren Fälle (bei Bedarf) und mit der Garantie, wieder zur gewohnten Kalorienzufuhr zurückkehren zu dürfen (Rückkehrrecht). Für den Alltag bedeutet das: Nachdem Sie die Kinder Kita-reif gezogen oder die Eltern ins Altersheim gepflegt haben, dürfen Sie sich endlich wieder selbst kaputt arbeiten. Bei voller Stundenanzahl und vollem Gehalt. Hurra.

Über ein solches Rückkehrrecht kann sich nur freuen, wer eine Welt, in der ein Mensch dann was zählt, wenn er vollzeitmäßig oder mehr arbeitet, gar nicht mehr in Frage stellt. Ein Büro, das nur an vier Tagen besetzt ist? Cafés mit unregelmäßigen Öffnungszeiten? Supermärkte, die vor Mitternacht schließen? Unvorstellbar in einer Gesellschaft, die sich an das hohe Arbeitspensum gewöhnt hat wie ein aufgeblähter Magen an die ständige Nahrungszufuhr.

Keine E-Mails nach Feierabend zu lesen, reicht nicht

Wenn so schonungslos gearbeitet wird wie heute, hilft kein Intervallfasten mehr. Es reicht nicht, E-Mails nach 19 Uhr löschen zu lassen, wie es der Betriebsrat bei Porsche vorgeschlagen hat, oder Arbeitnehmern mal zwei Jahre lang etwas mehr Zeit für ihre Familie zu gönnen, wie es jetzt die IG Metall fordert. Was wir brauchen, ist ein radikales „Friss die Hälfte” für die Arbeitswelt: die gesetzlich verankerte 28-Stunden-Woche. Für Frauen, Männer. Angestellte, Chefs. Gerüstbauer, Werbetexter. Journalisten, Ärzte, Lehrer. Weniger Arbeit für alle.

In Paragraf 3 des Arbeitszeitgesetzes, in dem seit 1994 eine Höchstarbeitszeit von acht Stunden am Tag festgeschrieben ist, muss ergänzt werden: Die Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden am Tag und 28 Stunden in der Woche nicht überschreiten.

Zu viel Arbeit macht krank und unzufrieden

Utopisch? Der Umverteilungsbedarf jedenfalls ist groß: Gut eine Million Arbeitnehmer würden nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes gern weniger arbeiten. Gleichzeitig gibt es 2,7 Millionen Beschäftigte, die gern mehr arbeiten würden, wenn man sie ließe.

Ob eine Umverteilung der Arbeit Vorteile für die Wirtschaft bringt, ist zwar umstritten, dem Menschen aber, daran besteht kein Zweifel, täte sie gut: Zu viel Arbeit macht krank und unzufrieden. Wer länger am Schreibtisch sitzt, schläft schlechter. All das belegen Studien.

Das Recht auf Teilzeitarbeit gibt es übrigens – ganz unabhängig von zu pflegenden Kindern oder Eltern – schon jetzt. Für jeden. Allerdings nur mit entsprechend weniger Lohn. Bis es also soweit ist und unsere Workaholic-Gesellschaft eine staatlich geregelte Arbeitszeit-Entschlackung verschrieben bekommt, kann ich nur allen, die es sich leisten können und auch nur ein einziges Mal im vergangenen Jahr gedacht haben „Ich arbeite zu viel” empfehlen: Tun Sie es, arbeiten Sie weniger. Es ist gut.

Dieser Text ist zuerst auf ZEIT ONLINE Arbeit erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.

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