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Fast jeder Zweite ist zu erschöpft fürs Privatleben – leben wir bald nur noch für die Arbeit?

Wir arbeiten immer mehr, immer schneller, immer länger. Unser Privatleben bleibt dabei oft auf der Strecke. Das zeigt die aktuelle Studie DGB-Index „Gute Arbeit“. Aber wo steuern wir als Gesellschaft hin, wenn wir uns keine Zeit zum Erholen mehr nehmen?

Ist das Konzept Work-Life-Balance gescheitert?

Seit Jahren geistert der Begriff der Work-Life-Balance durch die Wirtschaft. Er ist inzwischen Synonym für ein erfolgreiches Leben geworden, das Nonplusultra der Arbeitszeitmodelle. Wer es schafft Beruf- und Privatleben strikt zu trennen, oder zumindest zeitlich gut miteinander vereinbaren kann, soll am Glücklichsten sein. Für die meisten Beschäftigten heißt das: Damit ich im Einklang mit mir selbst bin, muss ich einen Beruf finden, der ein Gleichgewicht zwischen meinem Arbeits- und Privatleben zulässt. Klingt gut – doch die Realität sieht anders aus.

Für die aktuelle Studie „Gute Arbeit“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) wurden rund 5.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus verschiedenen Branchen und Altersgruppen befragt. Das Ergebnis, über 40 Prozent der Beschäftigten sind nach der Arbeit „sehr häufig“ oder „oft“ zu erschöpft, um sich noch um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern. Die Gründe dafür sind zahlreich. Vor allem eine zu hohe Arbeitsbelastung und allgemeine Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeitssituation sorgen dafür, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ihr Privatleben nicht richtig genießen können. Die Einführung von flexibleren Arbeitszeitmodellen, die diesem Problem Abhilfe schaffen sollte, garantiert leider auch nicht unbedingt mehr Freizeit.

Die viel beschworene Flexibilität – Wohl und Übel zugleich

Abends, nach Feierabend, oder am Wochenende noch die eine E-Mail für den Chef beantworten? Die Präsentation fürs Meeting morgen noch schnell zu Hause beim Abendessen fertigmachen? Die Zeit hat ja leider tagsüber im Büro nicht gereicht? Kein Problem, dank der neuen digitalisierten Arbeitswelt. Man kann sich schließlich seine E-Mails direkt aufs private Telefon zuschicken lassen und über die Cloud sind alle Dateien und Dokumente ganz easy von Zuhause aus abrufbar.  Aber genau dieses Verhalten birgt auch enorme Risiken. Die Grenzen zwischen Arbeits- und Berufswelt verschwimmen immer mehr und  Arbeitnehmer verlernen, wie sie sich erfolgreich abgrenzen können. Ganz besonders, weil sich die Arbeitgeber gerne mal aus der Verantwortung ziehen, wenn alleine sie durch die neue Flexibilität profitieren.

Und so nehmen wir die Arbeit mit nach Hause, zum Sport oder zum Treffen mit Freunden. Eine Pause gestattet man sich dadurch nahezu gar nicht, denn die Themen des Joballtags sind immer mit dabei. Mit der Digitalisierung ging eine Dienstleistungsgesellschaft einher, die auf immer schneller laufende Prozesse baut. So haben wir uns heutzutage im Gegenzug natürlich auch daran gewöhnt rund um die Uhr die Möglichkeit zu haben einzukaufen, Informationen zu bekommen oder auch einfach unterhalten zu werden. Die Konsequenz daraus sind längere Arbeitszeiten für Beschäftigte. Am Ende sind wir also alle Teil dieses Prozesses – und doch stehen Arbeitgeber hier in der Pflicht eine gesunde Struktur für alle Beteiligten zu schaffen. Denn, wie auch Annelie Buntenbach vom DGB sagt:„ Flexibilisierung der Arbeitszeit ist keine Einbahnstraße.“ Arbeitgeber müssen sich besser auf ihre Mitarbeiter einstellen und verschiedene Arbeitszeitmodelle anbieten, sonst bleibt das Privatleben weiterhin auf der Strecke.

Hat der 8-Stunden-Tag ausgedient?

Aber wie kann das aussehen? Für eine Studie, die Mitte November vom Spiegel und Civey veröffentlicht wurde, wurden 5.000 Beschäftigte aus allen Alters-, Branchen- und Beschäftigungsgruppen befragt. Das Ergebnis zeigt, Deutschland möchte erst mal weiterhin am 8-Stunden-Tag festhalten. Auch zeigt sich: Die meisten Menschen wollen nicht unbedingt von Zuhause aus arbeiten und stören sich nicht daran täglich ins Büro zu kommen. Das Home Office, das von vielen als Heilsbringer gepriesen wird, kommt auch in der Studie des DBG nicht sehr gut weg. Nur 22 Prozent der Befragten wünschten sich hier die Einrichtung eines Home Office. Viel relevanter ist es für rund 55 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass ihre Arbeitszeit klar begrenzt wird bzw. sie in der Regel den 8-Stunden-Tag nicht überschreiten.  Kein Wunder, so hat doch eine ebenfalls jüngst veröffentlichte Studie der Unternehmensberatung „Compensation Partner “ herausgefunden, dass 59 Prozent der Beschäftigten in Deutschland regelmäßig Überstunden machen. Davon bekommen 60 Prozent der Frauen und 47 Prozent der Männer keinen Überstundenausgleich. Ein erschreckendes Ergebnis.

Auffällig bei der Studie des Spiegels ist aber auch, dass vor allem Studierende den klassischen 8-Stunden-Tag für veraltet halten und sich mehr Flexibilität wünschen. 61,7 Prozent der Befragten Studierenden gaben an, dass das 8-Stunden-Modell für sie nicht mehr zeitgemäß ist. Studierende sind die Arbeitnehmer von morgen. Es zeigt sich also, dass es für die Zukunft vielleicht doch einer Veränderung bedarf. Die Generation Y ist im Berufsleben angekommen und die Generation Z steht auch schon in den Startlöchern. Arbeitgeber werden sich dieser Bedürfnisse nicht verschließen können, wenn sie die neuen Toptalente von morgen wollen – aber vor allem auch Arbeitnehmer, die gesund durchs Arbeitsleben kommen.

Zu viel arbeiten macht krank

Seit 15 Jahren verzeichnet die Techniker Krankenkasse einen Anstieg an stressbedingten Krankheitsmeldungen. Seelische Erkrankungen, wie Depressionen und Angststörungen sind in den letzten Jahren massiv angestiegen. Bei der Depression spricht man inzwischen sogar von einer Volkskrankheit, so sollen laut World Health Organization 4,1 Millionen Menschen in Deutschland an einer behandlungsdürftigen Depression erkrankt sein. Sind wir dem Druck der sich immer schneller drehenden Arbeitswelt und immer undursichtiger werdenden Prozessen nicht mehr gewachsen?

2016 veröffentlichte die TK die Studie „Entspann dich, Deutschland“. Dabei wurden rund 1.300 Menschen aus verschiedenen Berufs- und Altersklassen zu ihrem Stresslevel befragt. 46 Prozent gaben an, dass die Arbeit der Hauptstressauslöser Nummer eins in ihrem Leben ist. Zu hohe Anforderungen, regelmäßige Überstunden und nicht genug Wertschätzung am Arbeitsplatz sind nur einige Gründe dafür. Diese Aussagen decken sich auch mit den Zahlen der DGB-Studie. Hier gaben 52 Prozent der Beschäftigten, die „sehr häufig“ oder „oft“ Vereinbarungsschwierigkeiten haben, an, dass ihre Arbeitsqualität insgesamt schlecht ist. Und die Qualität der Arbeit beeinflusst für wie vereinbar Beschäftigte Beruf-und ihr Privatleben halten.

Ein weiterer Grund, aus dem die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich jedoch gestresst fühlen, ist der, dass ein enormer Druck auf ihnen lastet, mehrere Rollen gleichzeitig zu erfüllen. Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen ist nervenzehrend.  52 Prozent jener, die Arbeit-und Familienleben vereinbaren müssen, gaben in der Stresstudie der TK an unter Erschöpfung zu leiden und 19 Prozent davon litten häufig unter niedergedrückter Stimmung.

Vereinbarkeit für Frauen durchweg schlechter

Auffällig ist, dass Frauen in der Studie des DGB bei allen Befragungen schlechter abschneiden, als Männer. Das liegt, unter anderem, an traditionellen Geschlechterrollen, die immer noch tief in unserer Gesellschaft verankert sind und aufgrund derer Frauen größtenteils immer noch die Hauptverantwortlichen für Betreuung und Erziehung der Kinder sind. Von Frauen wird immer noch erwartet, dass sie alles gleichzeitig erledigen. Dabei trifft es Frauen, die in Vollzeit arbeiten besonders hart. Rund 31 Prozent der Frauen in Vollzeit gaben in der Studie an, dass sie „sehr häufig“ oder „oft“ Schwierigkeiten haben, die Betreuung und Erziehung der Kinder mit Ihrer Arbeit zeitlich zu vereinbaren. Deshalb arbeiten mehr Frauen als Männer auf Teilzeitbasis.

Für 71 Prozent der Frauen ist eine bessere Vereinbarkeit von persönlichen Verpflichtungen ausschlaggebend für die mögliche Entscheidung für Teilzeitarbeit. 51 Prozent der befragten Frauen gaben an, dass sie in Teilzeitbeschäftigung arbeiten. Im Vergleich: Bei den Männern waren es nur acht Prozent. Auch wenn viele Frauen sich, berechtigterweise, dazu entscheiden nur noch die Hälfte der Zeit zu arbeiten, um mehr Zeit für Familie oder pflegebedürftige Verwandte zu haben, lässt sich an diesen Zahlen auch erahnen, dass einige regelrecht in die Teilzeit hineingezwungen werden, weil es ihnen sonst nicht möglich wäre, Beruf und Privatleben auf zufriedenstellende Weise zu kombinieren. Hinzu kommt, dass sich bis heute das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit in der Politik nicht durchgesetzt hat, und auch dadurch viele Frauen in der „Teilzeitfalle” stecken bleiben. Dass ein Teilzeitjob oft keine freiwillige, sondern eine notwendige Entscheidung ist, zeigt auch diesjährige Gleichstellungsbericht der Bundesregierung –  die gewünschten Arbeitsstunden und die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden von Frauen mit Kindern liegen nämlich weit auseinander. So wünschen sich zum Beispiel rund 25 Prozent der Frauen mit Kindern eine Arbeitswoche von 30 bis 35 Stunden. In der Realität arbeiten aber lediglich zehn Prozent in so einem Verhältnis.

Hinzu kommt: Während die Vereinbarkeit von Beruf-und Privatleben schon für verheiratetete Paare eine große Herausforderung darstellt, sehen sich Alleinerziehende (und das sind noch mehrheitlich Frauen) mit einer Mammutaufgabe konfrontiert, bei der sie meistens auf der Verliererseite stehen.

Es kann nicht sein, das Frauen (und Männer) das Gefühl haben müssen,  zwischen Karriere und Familie hin- und hergerissen zu sein.  Betreuungsmöglichkeiten müssen ausgebaut werden und Unternehmen im Allgemeinen familienfreundlicher agieren. Etwas, das auch in ihrem Interesse steht, denn glücklichere Arbeitnehmer sind produktiver und effizienter.

Work-Life-Integration als Lösung?

Work-Life-Balance propagiert ein Gleichgewicht zwischen den zwei Faktoren. Dadurch, dass sich beide Aspekte inzwischen unausweichlich miteinander vermischen, ist das Konzept jedoch veraltet. Ein neuer Begriff, der die Runde macht, ist der der Life-Work-Integration. Also ein aktives Unterstützen dieses Vermischungsprozesses. Es soll erlaubt sein bei der Arbeit auch mal privaten Dingen nachzugehen. Im Gegenzug dazu, muss man auch außerhalb der Bürozeiten damit rechnen vom Chef gebraucht zu werden. Doch wie die Studie „Gute Arbeit“ zeigt, kann auch dieses Modell gefährlich enden.

Die DGB fordert deshalb als Lösung mehr Zeitsouveränität für deutsche Beschäftigte. Arbeitnehmerinnen sollen individuell entscheiden können wo und wann sie arbeiten, damit sie gleichzeitig das Maximale an beruflicher Produktivität und auch aus ihrem Privatleben herausholen können. Das hieße natürlich auch, dass Arbeitnehmer entscheiden könnten den 8-Stunden-Tag beizubehalten. Gleichzeitig gibt es denen, die sich ein anderes Modell wünschen, die Chance, sich ihre Arbeitszeiten selbst einzuteilen und variabel zu gestalten. Selbstbestimmung ist hier das Stichwort und das Arbeitsmodell der Zukunft.

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