Foto: Kenny Luo | Unsplash

„Das Bild einer alten Frau, die im Müll nach Essen gesucht hat, ließ mich nicht mehr los“

Altersarmut ist bereits heute ein großes Problem und wird in Zukunft noch mehr Menschen betreffen. Häufig reicht die Rente nur knapp zum Leben. Deshalb hat Carina Raddatz einen Verein gegründet, der von Armut betroffene Rentner*innen mit Essenslieferungen unterstützt.

Das Geld reicht nur knapp zum Leben

Die meisten kennen wohl das Märchen vom Rotkäppchen, das sich mit einem Korb voller Lebensmittel aufmacht, die Großmutter zu besuchen. Dort angekommen, wartet der böse Wolf, der die arme Frau gefressen und es dann auch auf Rotkäppchen abgesehen hat. Wie der böse Wolf im Märchen kann auch Altersarmut Menschen verschlucken. Mit diesem bildhaften Vergleich will der Verein Obstkäppchen auf das traurige Thema aufmerksam machen. Und das ist gut so, denn bereits heute ist fast jede*r fünfte Rentner*in von Armut betroffen. Die Dunkelziffer ist vermutlich sogar höher, denn nicht jede*r, der*die Anspruch auf Grundsicherung hat, bezieht tatsächlich Sozialhilfe.

Das Geld, das viele Senior*innen vom Staat erhalten, reicht nur knapp zum Leben – eine ausgewogene Ernährung lässt sich mit den wenigen Euro kaum finanzieren. Aus diesem Grund hat Carina Raddatz den Obstkäppchen e.V. gegründet. Der Name des Vereins ist bewusst angelehnt ans Märchen. Die Vereinsmitglieder, die sogenannten Obstkäppchen, machen sich ein- bis zweimal im Monat auf den Weg, um von Altersarmut betroffenen Senior*innen Lebensmittel zu bringen und Zeit mit ihnen zu verbringen. Wir haben uns mit der Co-Gründerin von Obstkäppchen, Carina Raddatz, über die Gründung des Vereins, Altersarmut, die damit verbundene Scham und ehrenamtliche Arbeit unterhalten.

Wie kam es dazu, dass du Obstkäppchen gegründet hast?

„Ich habe in der Kölner Innenstadt eine alte Frau dabei beobachtet, wie sie im Müll nach Essen gesucht hat. Das hat mich total betroffen gemacht. Insbesondere, weil die Dame weit über 80 Jahre alt gewesen sein muss. Da mich dieses Bild nicht mehr losgelassen hat, habe ich mich intensiv mit dem Thema Altersarmut beschäftigt und festgestellt, dass es kaum Initiativen dagegen gibt. Altersarmut ist in erster Linie ein politisches Thema, aber auch wir als Gesellschaft können aktiv werden.“

Warum hast du dich dafür entschieden, mit Lebensmitteln zu helfen?

„Eine Konsequenz von Altersarmut ist, dass sich Betroffene kaum gesunde Lebensmittel leisten können. Das ist eine gefährliche Abwärtsspirale. Die Menschen sind in der Armut gefangen, können sich nicht ausgewogen ernähren und darunter leidet dann ihre Gesundheit. Ich dachte mir, dass man an dem Punkt ansetzen und die Menschen unterstützen kann.“

Wie funktioniert die Finanzierung von Obstkäppchen und wie kann man sich bei euch engagieren?

„Wir haben zahlende Mitglieder, die mit einem Beitrag von fünf Euro pro Monat jeweils eine Tüte mit Lebensmitteln finanzieren. Dazu kommen die ehrenamtlich arbeitenden Obstkäppchen, die Tüten packen und das Essen an die Senior*innen liefern. Die Lebensmittel beziehen wir von einem lokalen Obst- und Gemüsegroßhändler und lokalen Supermärkten oder bekommen wir teilweise sogar von Unternehmen gespendet.“

Ein- bis zweimal im Monat verteilt der Verein Tüten mit Lebensmitteln an von Armut betroffene Rentner*innen. Quelle: Obstkäppchen e.V.

Wie unterscheidet sich Obstkäppchen von einem Angebot wie jenem der Tafel?

„Bei der Tafel muss man aktiv hingehen und Schlange stehen. Gerade für ältere Menschen ist das aus körperlichen Gründen aber nicht so leicht. Dazu kommt die Tatsache, dass die Tafel öffentlich ist, was vielen Rentner*innen unangenehm ist. Sie haben ihr Leben lang gearbeitet und müssen sich nun outen, dass sie von Armut betroffen und auf Hilfe angewiesen sind. Viele nehmen diese Art von Angebot aus genau dem Grund gar nicht in Anspruch. Wir hingegen bringen die Lebensmittel zu den Rentner*innen nach Hause und garantieren Anonymität. Abgesehen von den ausliefernden Obstkäppchen erfährt also niemand von ihrer Situation.“

Wie entsteht dann der Kontakt zu den Betroffenen?

„Wir haben eine Kooperation mit dem Amt für Soziales. Dort geben wir an, wie viele Menschen wir aktuell beliefern können und das Amt verschickt dann unser Infomaterial an jene Rentner*innen, die gemäß ihren Berechnungen am dringendsten auf unser Angebot angewiesen sind. Sobald die Leute unsere Flyer erhalten, können sie uns direkt kontaktieren, um in unsere Kartei aufgenommen zu werden, sie werden sozusagen unsere Senior*innen. Ihre Daten behandeln wir streng vertraulich, unsere Mitglieder müssen alle eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben.“

Wie geht ihr mit dem Thema Scham oder Wut im Kontakt mit den Renter*innen um?

„Wir haben im direkten Kontakt kaum Erfahrungen mit Scham oder Wut gemacht. Es kam bis jetzt auch noch nie vor, dass Senior*innen komplett anonym bleiben oder gar keinen Austausch mit uns wollten. Die meisten haben ihr Schicksal akzeptiert und nehmen die Unterstützung gern an. Da schimpft auch keine*r verbittert auf das System oder den Staat. Die meisten sind einfach nur dankbar, dass sich jemand kümmert. Das liegt sicher auch daran, dass die Not dieser Menschen so groß ist.“

Frauen sind stärker von Altersarmut betroffen als Männer. Spiegelt sich das auch in eurer Senior*innen-Kartei wieder?

„Absolut. Wir beliefern mehr Frauen als Männer. Ein häufiger Grund dafür ist, dass viele der heutigen Rentnerinnen ihr Leben lang als Hausfrau tätig waren – was früher normal war – sich aber nun in der Rente bemerkbar macht. Dann gibt es einige Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Arbeit im Niedriglohnsektor von Altersarmut betroffen sind. Viele der Menschen, die sich jetzt im Rentenalter befinden, sind während des Krieges aufgewachsen, konnten deshalb keine richtige Ausbildung machen und dadurch auch nie einen gut bezahlten Job bekommen. Diese beiden Probleme betreffen sowohl Frauen als auch Männer. Generell sind wir von jedem einzelnen Schicksal sehr betroffen. Die Leute sind alt, können nicht mehr so, wie sie gern wollen und leiden dann noch unter Armut.“

Wie hat sich dein Blick auf das Thema Altersvorsorge verändert, seit du Obstkäppchen gegründet hast?

„Ich habe mir früher kaum Gedanken über die Altersvorsorge gemacht. Die Arbeit für Obstkäppchen hat mir gezeigt, dass es superwichtig ist, dass Thema Vorsorge nicht vor sich her zu schieben. Jede*r sollte sich damit auseinandersetzen – und das nicht erst ab dem 40. Lebensjahr. Niemand kann sich auf sein Schicksal verlassen oder seiner Gesundheit sicher sein. Das hat mir insbesondere der Fall einer Seniorin gezeigt, die nach einer schweren Krebserkrankung mit Anfang 40 arbeitsunfähig wurde. Seither hat sie sich stets ehrenamtlich in Suppenküchen und Krankenhäusern engagiert. Richtig arbeiten und fürs Alter vorsorgen konnte sie nicht mehr. Jetzt hat sie gerade mal 200 Euro pro Monat zur Verfügung. In so eine Situation kann jede*r von uns geraten. Dass es solche Schicksale in Deutschland überhaupt gibt, finde ich schlimm. Wie man an der Lage vieler Rentner*innen sieht, ist es wichtig auf verschiedenen Wegen vorzusorgen und sich nicht auf die Versorgung durch den Staat zu verlassen.“

In Zukunft werden voraussichtlich noch mehr Menschen von Altersarmut betroffen sein. Was muss aus deiner Sicht geschehen?

„Meines Erachtens muss die Politik das Rentensystem komplett erneuern. Zudem muss das Thema Altersvorsorge bereits in der Schule besser vermittelt werden. Niemand nimmt die Leute an die Hand und zeigt ihnen, welche Investitionsmöglichkeiten es gibt. Wie soll man vorsorgen, wenn man nichts über das Thema weiß? Die Gesellschaft braucht ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass jede*r mit dem Risiko lebt, irgendwann von Altersarmut betroffen zu sein.“

Was nimmst du noch mit aus der Arbeit für Obstkäppchen?

„Mir ist aufgefallen, dass es extrem viele Menschen gibt, die sich sozial engagieren wollen, aber nicht wissen, wo und wie. Durch Obstkäppchen habe ich gemerkt, dass es in der Gesellschaft großen Bedarf gibt, Gutes zu tun und dass man dieses Potenzial viel stärker nutzen sollte. Bei uns engagieren sich Menschen aus verschiedensten Generationen und mit unterschiedlichen Backgrounds. Schüler*innnen, die die Essenstüten mit dem Fahrrad ausliefern, Familienväter, Student*innen oder auch Senior*innen, die selbst nicht von Altersarmut betroffen sind und ihre Zeit zum Helfen nutzen wollen.“

Du arbeitest Vollzeit und hast nebenbei Obstkäppchen gegründet. Welche Tipps hast du für andere, die etwas Ähnliches im Sinn haben?

„Eben weil ich in einem Vollzeitjob arbeite, ist es wichtig, dass man ein Team hat, auf das man sich verlassen und in dem jeder seine spezifischen Stärken einbringen kann. Deshalb habe ich mir bei der Gründung von Obstkäppchen Chris und Johannes an die Seite geholt, die sich mit den Themen Gründen und Finanzen auskennen. Anschließend habe ich unendlich viele Stellen angeschrieben, um ein Netzwerk an Kontakten aufzubauen. Anfangs bekamen wir richtig viele Absagen, wichtig ist da, dass man nicht aufgibt und immer weitermacht.“ 

Carina Raddatz, die Co-Gründerin von Obstkäppchen. Bild: zVg.

Ihr liefert die Lebensmittel nicht nur, sondern verbringt jeweils auch Zeit mit den Senior*innen. Wie kam es dazu?

„Eine weitere Konsequenz von Armut ist soziale Isolation. Einsamkeit ist bei alten Menschen generell ein Thema, doch die Armut verstärkt das nochmal. Die Rentner*innen haben kein Geld für gesellschaftliche oder kulturelle Unternehmungen und bleiben Zuhause. Allein. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, bei der Lieferung der Tüten immer auch Zeit mit den Senior*innen zu verbringen. Wir haben festgestellt, dass sich viele fast noch mehr über die gemeinsame Zeit, als über die Tüte mit Lebensmitteln freuen. Die Menschen sind teilweise wochenlang alleine. Wenn sich dann mal jemand für eine halbe Stunde zu ihnen reinsetzt, freuen sie sich sehr.“

Was für schöne Erlebnisse machst du durch die Arbeit für Obstkäppchen?

„Ich beliefere eine Seniorin, die so liebenswert ist. Nach den ersten Lieferungen hat sie mich zum Kaffee reingebeten und aus ihrem Leben erzählt. Das ging dann ein paar Wochen so, bis irgendwann plötzlich eine kleine Pflanze auf dem Tisch stand. Sie hatte kein Geld, um mir ein Geschenk zu kaufen, wollte mir aber dennoch etwas mitgeben. Und weil ich mal einen Kommentar darüber gemacht habe, wie schön ihre Pflanzen sind, hat sie mir einen Ableger gezüchtet. Sie meinte dann, dass sei für sie symbolisch: Wir würden mit Obstkäppchen etwas Gutes in die Gesellschaft pflanzen und sie hoffe, dass das wächst. Ich fand das so rührend – und die Pflanze steht bis heute bei mir und wuchert (lacht).“

Wie sehen denn die Zukunftspläne von Obstkäppchen aus?

„Gestartet haben wir 2017 in meinem Heimatort Hennef mit 25 Senior*innen, inzwischen beliefern wir dort 85 Personen. Im Herbst wollen wir unser Angebot auf Köln ausweiten. Die Stadt ist natürlich zu groß, als dass wir alle Viertel beliefern können, deshalb starten wir erst mal in Ehrenfeld. Unser Traum ist, dass wir irgendwann bundesweit tätig sind, aber das ist noch Zukunftsmusik.“

Hier erfährt ihr mehr über Obstkäppchen.

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