Foto: Jordi Bernabeu Farrús | Flickr | CC BY 2.0

Wie Europa sich erfolgreich abschottet – ganz ohne Mauer

Trump will eine Mauer bauen. Die Empörung ist, zu recht, groß. Was wir aber dabei vergessen, Europa hat schon längst eine, auch wenn man sie nicht sieht. Damit beschäftigt sich Helen heute in ihrer Kolumne „Ist das euer Ernst?”.

Europa: Was wirklich zählt

Eigentlich wollte ich diese Woche über das Wahlrecht in Deutschland schreiben. In den Medien läuft derzeit wieder einmal eine lebhafte Debatte darüber, ob das Wahlrechtsalter nicht gesenkt werden sollte. Einige fordern die Möglichkeit der Stimmabgabe auch für Wahlen auf Bundesebene ab 16 Jahren. Darüber hinaus gibt es sogar Bestrebungen ein Wahlrecht ab der Geburt einzuführen. Dieses würde dann von Eltern stellvertretend für ihre Kinder ausgeübt würden.
Gerade für mich als junge Wählerin ist das Wahlrecht ab 16 in Anbetracht des immer weiter fortschreitenden Demografischen Wandels eine wichtige und spannende Frage im Bezug auf die Bundestagswahl, die dringend erörtert werden sollte – allerdings nicht heute.

Denn während wir hier über eine Absenkung des Wahlrechts diskutieren, uns die Finger wund schreiben über Trumps oder Erdogans neueste Ausfälle und den „Schulz-Effekt” von allen Seiten beleuchten, sterben vor den Toren Europas jeden Tag weiter Menschen. Allein von Januar bis Mitte Februar dieses Jahres sind auf der sogenannten zentralen Mittelmeerroute von Libyen nach Italien 366 Menschen ertrunken. Das sind dreimal mehr Tote als auf der gleichen Route in den ersten 53 Tagen in 2016, wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichtet.

In Syrien ist immer noch Krieg

Im März 2011 begann der Syrienkrieg, über sechs Jahre lang geht er nun schon. Auch die dritte Runde der „Syrien-Gespräche” blieb Anfang 2017 ohne nennbaren Erfolg. Der UN-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, sagte, es dürfe keinen siebten Jahrestag des Beginns des Krieges geben. Ob er selbst noch an diese Worte glaubt? Auch dort sterben jeden Tag weiter Menschen. Laut dem UNHCR sind 13,5 Millionen Menschen Vorort auf humanitäre Hilfe angewiesen, 6,3 Millionen Menschen finden sich innerhalb des Landes auf der Flucht und knapp 3 Millionen Kinder unter fünf Jahren kennen nichts anderes als den Krieg.

#StandwithAleppo gab uns im Dezember 2016 das Gefühl, endlich aktiv zu werden und einzustehen für die Menschen in Syrien. So wichtig das auch war, es hätte uns nicht reichen dürfen. Für ein paar Tage war die Empörung groß, dann kam das nächste Thema. „Aber, in Deutschland kommen kaum noch Flüchtlinge an, so schlimm kann es also gar nicht mehr sein, oder?” denken wir uns und sind schon längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Warum das so ist, wird in den Medien aber kaum besprochen. Während wir uns über Trumps Mauerpläne echauffieren, wird die Festung Europa munter weiter ausgebaut. Die EU braucht erfreulicher Weise dank des Mittelmeers gar keine richtige Mauer um ihre Grenzen dicht zu machen. Wir schließen einfach Abkommen mit anderen Staaten, das fällt auch nicht so auf …

Abkommen statt Mauer

Mit Marokko zum Beispiel gibt es das Ganze schon seit einigen Jahren. Dort werden Flüchtlinge, die aus Sub-Sahara-Afrika über Marokko fliehen wollen, von der marokkanischen Regierung daran gehindert, nach Europa zu gelangen – dafür gibt es zum Beispiel Geld für den marokkanischen Staat und Visa-Erleichterungen für marokkanische Bürger, die nach Europa wollen. In Marokko liegen auch die beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla und damit die einzigen Landgrenzen zwischen Europa und Afrika. An diesen Grenzen gibt es deshalb auch hochmoderne Grenzzäune, die Trump vor Neid erstarren lassen müssten. Die Flüchtlinge, die deshalb in Marokko stranden, leben unter menschenunwürdigen Umständen und müssen täglich mit Gewalt und Repressalien rechnen. So furchtbar die Lage in vielen Flüchtlingslagern ist, in Marokko gibt es gar keine. Auch die Menschenrechtslage in dem afrikanischen Staat ist kritisch. Amnesty International dokumentiert dort immer wieder Verfolgung, Folter und Misshandlungen und hat sich gerade erst dafür ausgesprochen, dass das Land nicht als „sicherer Herkunftsstaat” eingestuft werden darf. Klingt nach einem tollen Partner für die Bekämpfung der Flüchtlingskrise, oder?

Ein weiteres Beispiel für die Externalisierung der europäischen Außengrenze: Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Während die Bundesregierung sich irgendwann, nach genug medialen Druck, dazu durchringen konnte, Erdogan für die unrechtmäßige Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücels (#FreeDeniz!) zu kritisieren, feiert eben dieses Abkommen am 20. März sein Einjähriges. Teil des Abkommens ist es, dass Geflüchtete, die über die Türkei nach Griechenland (und damit in die EU) gekommen sind, in die Türkei zurückgeschoben werden können, wenn sie in der Türkei bereits vermeintlich sicher waren. In Griechenland, das als sogenannter „Hot-Spot” gilt, werden die Asylgesuche in der Konsequenz nicht mehr inhaltlich geprüft. Dadurch ist eine schnelle Abschiebung möglich. Allerdings warten immer noch Tausende Flüchtlinge auf den griechischen Ägäis-Inseln auf eben diese Entscheidung. Deswegen sind diese Inseln, wie Pro Asyl es formuliert, zu einem riesigen Freiluftgefängnis für Geflüchtete geworden. 15.000 Menschen, die seit Beginn des Abkommens auf den griechischen Inseln angekommen sind, befinden sich immer noch dort – unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die EU nimmt das in Kauf. Auch die griechischen Asylrechtsbestimmungen wurden seit dem EU-Türkei immer wieder verstärkt, um sie mit dem Deal in Einklang zu bringen.

Vom 20. März 2016 bis Anfang März 2017 wurden dank dieses Abkommens 1.487 Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei „rückgeführt”. Die in die Türkei zurückgeschobenen haben, laut Pro Asyl, keinerlei Informationen darüber, was mit ihnen passieren soll und wie lange sie in der Türkei inhaftiert bleiben sollen. Mit dem Deal hat die EU auch ihre Verantwortung für die Geflüchteten weggeschoben: eine Beobachtung der Situation der Zurückgeschobenen, durch EU-Institutionen, ist in dem Deal nicht vorgesehen.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Was aber passiert mit den vielen Menschen, die immer noch vor Krieg, vor Vertreibung und Armut fliehen? Sie sind ja nicht einfach verschwunden: Der Krieg in Syrien ist nicht beendet, auch im Irak tobt der Kampf gegen den IS und Afghanistan, wohin Deutschland seit Dezember 2016 92 Menschen abgeschoben hat, wird von Experten unter die fünf intensivsten Konflikte weltweit eingestuft. Was das EU-Türkei-Abkommen gemeinsam mit der Schließung der Balkanroute erreicht hat ist, dass viele dieser Menschen einfach nicht mehr ins sichere Europa durchkommen. Sie stranden in Marokko, der Türkei, Griechenland oder zum Beispiel Serbien. Das Leid schafft es nicht mehr bis zu unserer deutschen Türschwelle, da fällt das Verdrängen dann gleich viel leichter. Diese Abkommen werden scheinbar wie nebenbei beschlossen und durchgeführt. Alle regen sich über die menschenverachtenden Abschiebungsforderungen der AfD auf – das ist richtig und wichtig. Wir dürfen aber nicht aus dem Blick verlieren, dass schon die derzeitige Realität vielen Menschen den Schutz verwehrt, der ihnen eigentlich zusteht. Auch darum sollte es deshalb bei unserer Wahlentscheidung im September gehen.

Geflüchtete Menschen fliehen vor Krieg, dem Tod und sexualisierter Gewalt. Von Europa erhoffen sie sich vor allem eins: Sicherheit. Es wird Zeit, dass wir uns wieder dafür einsetzen, dass ihnen diese Sicherheit gewährt wird. Dafür gibt es viele Möglichkeiten: Wir können Initiativen wie Flüchtlinge Willkommen, die sich für die Verbesserung der Situation von Geflüchteten hier in Deutschland einsetzen, unterstützen, mit Engagement, Geld oder Reichweite. Wir können selbst aktiv werden, über die Flüchtlingspolitik der EU sprechen, schreiben und diskutieren. Wir können Projekte unterstützen, die Geflüchtete auf der Balkanroute, in Griechenland, der Türkei und vor den Toren Europas helfen. Und wir können uns die Wahlprogramme der Parteien mit besonderem Fokus auf dieses Thema anschauen. Für was man sich auch entscheidet, wichtig bleibt, dass wir etwas tun.

Titelbild: Jordi Bernabeu Farrús | Flickr | CC BY 2.0

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