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Wie die Diagnose einer tödlichen Krankheit einen Menschen verändert

Was macht es mit einem Körper und mit einer Seele und mit einem Herzen, wenn eine tödliche Krankheit diagnostiziert wird? Wie geht man mit diesem gefühlten Verrat durch das Leben um und was ist eigentlich das Glück daran?

 

Dein Körper ist plötzlich der Feind

Du erinnerst dich vor allem daran, dass es kein Buch und keine Worte gab, die deine Konzentration hätten fesseln können, die blieb ganz bei dem Warum verhaftet und zerschlug sich an Krankenzimmerwänden den Kopf. Deine Hände waren während all der therapeutischen Durchleuchtung blutig, wund und offen und dein Herz stolperte erschrocken in deiner starren Brust und hatte den eingängigen Rhythmus verloren. Es ist ja eben auch nur ein Muskel, der innerhalb dieses Körpers durchblutet wird. Dieses Körpers, der dich einfach so verraten hat und dich mit dem klebrigen Schatten der Sinnsuche alleine ließ.

Wie sollst du deinen Lieblingsmenschen erklären, wie dieser Moment sich anfühlt, in dem du auf Autopilot schaltest und das ganze Leben drum herum einfriert? Diese Sekunden, in denen sich die Krankheit wie ein kalter Wal auf dich legt und du nur überlebst, weil du in seinem dunklen Schatten mitschwimmst. Wie sollst du erklären, dass dich der Wahnsinn von Innen befällt und versucht, mit scharfen Kanten, auf denen Tod steht und Angst und dazwischen auch mal Hoffnung, deinen Körper zu tranchieren? Vor allem, wenn alles ganz still ist. Wenn die Sonne scheint und die Blumen blühen und die Autos fahren und die Hunde bellen, dann besonders.

Das Gefühl der Machtlosigkeit

Dann kommen die Putzerlippfische und fressen sich durch deine Organe, saugen dich aus. Übrig bleibt diese Hülle, die nur Totes auf die Welt bringt. Oder Geschwüre produziert. Jedenfalls nichts Lebendiges.
Wie Ebbe und Flut verweilen seitdem diese wenigen Sekunden, in denen du diese Worte aus dem Mund der Ärzte hörst, als alltägliches Ereignis und spülen dir mit der stoischen Penetranz der Gezeiten die zermahlene Felsen deines alten Lebens an deinen Strand.

Wie du es auch drehst und wendest, denn egal welche Therapien du bekommst,
welche Ernährungsform du wählst, welchen Sport du betreibst und welche Bücher du liest: Du kannst diesen Körper nicht verändern. Es wird nicht funktionieren, ihn zu bleichen, schönzufärben oder zu übermalen. Es ist alles in dir eingeschrieben.

Weil es ja auch gar nicht anders geht

Auch wenn sie den Tumor herausgeschnitten haben und damit deine Wünsche und deine Hoffnungen mitnahmen, wird er bei dir bleiben, dieser Körper, der weiterlebt. Ist das beruhigend oder beunruhigend? Und weil es gar nicht anders geht, wurde er repariert und existiert weiter. Was soll er denn auch anderes machen, außer seiner Bestimmung entgegen zu leben?

Du lerntest: dieser Körper hat eine feste, menschliche Anordnung. Er hat Geschichte.

Wie sollst du den Menschen denn dann erklären, dass all die Floskeln über Krankheit und Tod stimmen, dass sich dein Leben von einer Sekunde auf die andere verändert hat, dass nichts mehr ist, wie es war, dass deine Welt aus den Fugen geriet, dass es dir die Luft zum Atmen nahm, dass die Zeit anhielt, dass du nur noch dachtest: „Es ist soweit. Es hat angefangen.”

Dein Kopf überlegt sich Begriffe für all das Namenlose und du bemerkst, dass die Schlichtheit aneinandergereihter Buchstaben genügen muss, um das in Worte zu fassen, was in dir vor sich geht. Es scheint einfach nicht vermittelbar, dass dein Körper funktioniert, aber gleichzeitig eben auch nicht. Dass er lebt und stirbt. Und dass du ihm, diesem Körper, dem du einmal vertrautest, nie etwas davon erklären und zeigen musstest. Weil es immer schon so war. Weil es einfach so passierte. Die Gewöhnlichkeit des Lebens. Diese grauenvolle Banalität der Gesundheit.

Und all diese Funktionen laufen ab wie der Kreislauf der Jahreszeiten. Wie die
solide Zeit. Alles fließt. Immer. „Es ist wie der Kreisel brummt…es ist wie
die Biene summt…es ist wie die Nadel sticht…es ist wie die Brücke
bricht…“ Nur eben dieses Mal nicht. Da kaperte die Abnormität alles. Manchmal denkst du: unaufhaltsam.

Warst du dem Leben etwas schuldig? Hast du diesen Körper nicht genug
gehuldigt? Ihn gepflegt, getrimmt, reifen lassen und durchaus geliebt
zwischendurch?

Du sagtest zu allen ja, hast dich umgedreht und geweint

Du bist in all der Zeit von Krankenbetten zu Fluren, zu Gärten und zu Fenstern und wieder vom Grab zu Krankenbetten gewandert. Als wolltest du dieses Gebirge der medizinischen Maschinerie allein durch das Laufen verstehen. Sie hielten dir zwischendrin Vorträge, dass es wirklich am besten wäre, wenn du jetzt das Leben bejahst und auf jeden Fall optimistisch bist und positiv denkst. Du sagtest zu allen ja, hast dich umgedreht und geweint.
Stell dir vor, du sollst in dein normales Leben zurückkehren, mit so viel Tod in
deinen Zellen. Die Amok gelaufen sind und sogar andere, viel kleinere Herzen in
dir umgebracht haben.

Kann man beschließen diesen Körper nicht mehr haben zu wollen? Kann man ihn ausziehen und an einen Haken hängen? Zur Aufbewahrung sorgfältig in eine Hülle aus Plastik stecken? Ihn nur an den wertvollen Tagen hervorholen und abstauben? Oder kann man diesen Körper mit Wucht gegen eine Wand schleudern und hoffen, dass anschließend der goldene Prinz Unversehrtheit herunterfällt?

Alle Wörter, alle Tränen und die Exzesse bringen nichts

All diese Nächte, in denen du versuchtest dich wahlweise zu häuten oder mit Stahl auszukleiden. All diese Tagen, in denen du deine innere Bionic-Super-Woman rausholen wolltest, die überragende Kräfte in dir kultivieren sollte, welche deine Adern entlang flössen und mit denen du dein eigenes Strahlen behüten wolltest, das von dieser anderen Strahlung übertüncht wurde, ändern ihn nicht. Du kannst trinken bis zur Besinnungslosigkeit, laufen bis die Beine zittern. Du kannst tagelang schlafen und alle Serien der Welt am Stück schauen. Du kannst dir gierige Männer ins Bett holen, um sie zu extatischen Höhepunkten zu führen. Du kannst sie verletzten und verfluchen und hassen und die Reklamationsstelle für defekte und entartete Zellhaufen suchen. Es ändert einfach nichts. Alle Wörter, alle Tränen, all die Gier und die Exzesse nehmen diesen Köper nicht mit. Er bleibt da.

Er wächst und gedeiht weiterhin und mit ihm höchstwahrscheinlich auch diese
anderen Zellen, die auch deine DNA tragen, die auch aus dir entstanden sind und die dieses selbst programmierte, selbst auferlegte Zerstörungsprogramm lostraten. Dieser Körper verweilt, obwohl der Krebs seine Scheren an dir testete und du diesen Puppenspieler Zufall nur bitten kannst, dass es vielleicht doch eher Krill ist. Weil du nie wieder Krebskörbe in deinen Körper werfen willst, um sie einzufangen, sondern stattdessen hoffst, dass dieser große nasse dunkle Wal, der von nun an mit dir schwimmt, einfach alles rausfiltert. Es bleibt diese Raserei über einen Körper, der das Leben plötzlich zum Jubiläum einer Eintagsfliege macht. Der aber trotzdem schön ist. Und deiner. Dieser Körper hat gehobelt. Nun siehst du die Späne fallen und fallen und fallen. Späne, die diese nackte, tiefschwarze, erstickende, unbeschreibliche Höllenangst formen. Späne, die nur der Tod zusammenkehren kann.

Wie kann denn etwas, das lebt, sterben? Wie sollte etwas, das lebt, ausgerechnet nicht sterben? Es ist doch alles ganz logisch. Alles stirbt. Immer.

Und sie sagen dir, alles an dir ist perfekt und du sollst diesen Körper lieben. Und sie sagen dir, dass alles bestimmt einen Grund und einen tieferen Sinn hatte. Und sie sagen, du hattest doch Glück in all dem. Was ja stimmt. Du hattest ja Glück. Deine Prognose ist gut. Deine Statistik ganz vortrefflich. Sie mussten keinen gedopten Pacman durch deine Gefäße schicken. Dir wurde gesagt, du wirst weiterhin ein Leben haben. Statistisch gesehen. Und du überlegst dir, dass es Menschen gibt, die bekommen einfach so Kinder. Sogar drei, vier, ach was: 15! Und es gibt Menschen, die werden einfach so 100 Jahrealt. Was für eine aberwitzige Vorstellung! Was für ein höllisches Glück!

Da löst sich alles in Rauch auf

Und doch: wenn das Trauma eintritt und sich als Dauerzustand in dir eine Höhle
baut. Wenn dein Körper, der 29 war, über Nacht 55 wird. Wenn Hitzewallungen
deinen Tagesablauf bestimmen und deine vielen Babys in dir, die so aufgeregt
auf ihren Auftritt warteten, vertrocknen und sich eine andere Bühne suchen.
Wenn deine geliebte Freundin ganz regelwidrig diesen Angriff durch die
pervertierte Zellvermehrung nicht überlebt und die anderen Patientinnen dich durch die Flure und Gänge jagen, um dich irgendwann doch auf den Treppenstufen vor der Tür stellen und fragen: Und bei Ihnen ist das auch bösartig? Wenn der Möglichkeitsraum des Zufalls so unbegreiflich weit und neblig wird.

Da löst sich alles in Rauch auf. Und vielleicht, nur vielleicht, gelingt es
dir, dein Universum nach diesem Urknall neu zu formen. Es werden dich
schließlich Monde, die unter anderem Erkenntnis und Beklemmung und Sterben und Trost und Grauen heißen, umkreisen und in deiner Flugbahn begleiten, die nicht rund ist sondern hasenherzig. Mittendrin funkelst du und siehst die glitzernden Silberstreifen, welche sie um dich legen und die dich offenbaren.

Und das ist wahrscheinlich das einzig Gute daran. Getrost kannst du sagen: das
alles war das Beste, was dir passieren konnte. Wie du ihn liebst, auf einmal.
Diesen, deinen Körper. Weil er so selbstverständlich war und lief und vor sich hin pulsierte. Wie du dieses unfassbare Wunder plötzlich erkennst und diese
Zerbrechlichkeit festhalten und in Formaldehyd einlegen willst, um es für immer
zu konservieren. Und du lernst dich kennen, nicht wahr?

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