Foto: privat

Brauchen wir ein Europa ohne die „alten Männer”?

Befindet sich Europa in einer gefährlichen Lage? Die Verfasser einer Online-Petition wollen jetzt einen Generationswechsel in Europa einleiten.

 

Europa nicht den alten Herren überlassen

Europapolitik ist langweilig? „Dann lasst uns das gemeinsam ändern”, schreiben die Initiatoren von „Europa: Eine neue Version ist verfügbar”„Letztlich geht es darum, die Generationsübergabe einzuleiten. Sanft, aber bestimmt. Europa nicht den alten Herren zu überlassen, die zu müde sind, sich Neues einfallen zu lassen und zu routiniert, aus der Bequemlichkeit des Erreichten auszubrechen”, sagt Victoria Kupsch, eine der fünf Initiatoren. Sie hat den Entwurf vor einigen Wochen auf der re:publica in Berlin vorgestellt, zu den Unterstützern gehören Gesine Schwan, der Schriftsteller Robert Menasse und der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty. Was war der Auslöser für die Aktion? Victoria: „Letztlich habe ich vor allem nach den vielen, immer gleichen Konferenzen und Veranstaltungen von Brüssel über Rom, Berlin und London, das dringende Bedürfnis gehabt, mich aus der herablassenden Dynamik der alten Herren Europas, die ohne Zweifel viel geschafft und erreicht haben und vielleicht aber gerade deswegen jetzt erschöpft auf der Stelle treten, gegenüber jungen Menschen und insbesondere Frauen in politischen Kontexten, zu ziehen. Und so habe ich nach meiner Rückkehr aus Brüssel im März direkt ein paar Freunde angesprochen, die ich in den letzen Jahren durch die Arbeit mit und an Europa kennengelernt hatte.

Witzigerweise habe ich nach Veröffentlichung des Aufrufs bei der re:publica dann den ein oder anderen Brief von ,alten Männern’, wie sie sich selbst charakterisierten, bekommen, die sich diskriminiert und ausgegrenzt fühlten durch den Aufruf. Noch schöner ist dann zu sehen, dass diejenigen, mit denen ich so in einen mittellangen E-Mail-Austausch kam und denen ich erklären konnte, dass eben dieses Gefühl für ,uns’ junge und weibliche Menschen eher die Regel ist als die Ausnahme und auch der Grund für den Aufruf, dann den Aufruf mitunterzeichnet haben. Und vor allem für sie damit, so sagen sie, ein ziemlicher Aha-Effekt verbunden war.”

Ziel ist also, eine kritische Masse zusammenzubekommen, zu zeigen, dass sich längst viel tut und das aber auch in die politische Sphäre durchdringen muss.

Alle fünf Verfasser sind nach 1980 geboren – sie halten die gegenwärtige politische Lage in Europa für gefährlich, die Gefahr des Zerfalls der EU ist ihrer Ansicht nach keine abstrakte Bedrohung mehr. Das ist ihr Aufruf:

Europa: Eine neue Version ist verfügbar

Wir sind wütend. Europa bricht vor unseren Augen auseinander. Ewig gestrige PolitikerInnen opfern Grundsätze wie Gleichheit und Würde auf dem Altar des einfachen Populismus. Dabei benötigt Europa dringend radikale Veränderungen in vielen Bereichen, wie in der Sozial-, Finanz- und Klimapolitik. Aber anstatt Mut zu zeigen, werden anerkannte Lösungen durch Angst und Misstrauen ersetzt. Vorangegangene Generationen haben ein kriegszerstörtes Europa geerbt. Sie haben uns Institutionen zur Einigung und Friedenssicherung hinterlassen. Aber wie können sie uns weismachen, dass Europa für Frieden steht, wenn in der Ukraine Krieg tobt und Tausende im Mittelmeer sterben; dass Europa für Wohlstand sorgt angesichts Millionen Arbeitsloser; dass Europa für Einheit steht, wenn Südeuropa zum Sündenbock von Problemen gemacht wird, die grundsätzlich systemischer Natur sind? 
Wir wollen das europäische Projekt auf die nächste Ebene bringen: eine neue Version ist verfügbar.

Nicht in unserem Namen

Deutschlands anhaltendes Beharren auf Austeritätspolitik als einziger Weg aus Europas Krise zerstört, was uns zusammenhält. Diese Politik spielt europäische Staaten gegeneinander aus, befördert Rivalitäten, wo Solidarität gebraucht wird und etabliert Hierarchien zwischen den Nationen. Das große europäische Projekt, einmal ein positives Beispiel für freiwillige und sinnvolle Kooperation, entwickelt sich zu einer Schuldner-Gläubiger-Beziehung. Wir stellen uns gegen diese herablassende und destruktive Politik, sie wird nicht in unserem Namen gemacht.

Wenn Zehntausende in ganz Europa auf die Straße gehen und gegen Institutionen, die als „Troika“ bekannt wurden, demonstrieren, dann macht das deutlich, dass etwas in Europa fundametal schiefläuft. Der Zuwachs zu populistischen Parteien, von Frankreich über die Niederlande, von Deutschland bis nach Ungarn, sind Beweis für bereits entstandenen Schaden. Angst und Entfremdung treiben Menschen in die Hände von Front National, Pegida und ähnlichen Bewegungen. Aber anstatt ihre Verantwortung für politische Willensbildung und das europäische Projekt wahrzunehmen, laufen viele Politiker Stimmen am rechten Rand nach.

Wer wir sind

Wir sind deine FreundInnen, NachbarInnen, Geschwister, die PassantInnen auf der Straße. Wir sind Tausende, die hoffen, Millionen von Europäern zu werden, die überzeugt sind, dass Erfolg Mut verlangt. Einige unter uns haben in anderen Ländern gelebt, sprechen verschiedene Sprachen, wir haben uns in Menschen aus anderen Ländern verliebt und viele wissen kaum noch, wie sich inneuropäische Grenzkontrollen anfühlen. Europa ist unser Zuhause. Vielleicht haben wir es bisher als Selbstverständlichkeit betrachtet. Doch das ist vorbei. Für uns ist es klar, dass es an der Zeit ist, Souveränität und Demokratie jenseits des Nationalstaats zu denken. In dieser globalisierten Welt sind wir Teil etwas Größerem als unserer eigenen, miteinander verbundenen Staaten. Eine Rückkehr zu Nationalismus widerspricht dieser Tatsache. Ohne unsere regionalen oder nationalen Identitäten aufgeben zu müssen, sind wir Teil eines Europas.

Was wir wollen

Unser Plan für die Zukunft Europas ist republikanisch. Um politische Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit und die Achtung von Menschenrechten zu erreichen, sind wesentliche Veränderungen hin zu einem demokratischen System, das diesen Namen verdient, notwendig. Unter anderem fordern wir:

Eine einheitliche europäische Regierung, die dem Prinzip der Gewaltenteilung unterworfen und durch transnationale Wahlen gewählt ist.

Ein transnationales Sozialhilfesystem, das eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung einschließt. Dies sollte unabhängig davon sein, ob wir heute in Frankreich oder Polen arbeiten und morgen in Spanien und unser Ehepartner einer anderen Nationalität hat.

Es ist an der Zeit, mutig zu sein und neue Wege für ein anderes Europa einzuschlagen.

Mehr auf EDITION F

„Vielleicht muss etwas Altes sterben, damit etwas Neues kommt”. Weiterlesen

Ist uns Europa schon egal? Weiterlesen

Bye-bye Britain? Weiterlesen


Anzeige