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Ich habe in Japan etwas Beunruhigendes über Beziehungen und Sex gelernt

In Japan zeichnet sich seit Jahren ein demografisches Desaster ab. Es werden immer weniger Kinder geboren und die Menschen immer älter. Warum ist das so?

Ein Ausflug ins Love Hotel

Valentina Resetarits hat 2010 für ihr Studium ein Auslandsjahr in Japan verbracht und dabei entdeckt, dass die Japaner ein ganz eigenes Verhältnis zur Sexualität haben. Für unseren Partner Business Insider hat sie ihre Erfahrungen aufgeschrieben.

„Kabukicho“, sagte er. „Das Hotel, das meine Firma gebucht hat, liegt in Kabukicho.“ Das kam mir doch ein wenig merkwürdig vor. Kabukicho ist nämlich das, nennen wir es, Rotlichtviertel in Tokio. Hostessenbars, Nachtclubs, Prostituierte auf der Straße. Keine Umgebung, in der ich eine klassische Hotelkette erwartet hätte.

Als wir um die Kurve bogen und ich unser Hotel sah, war mir alles klar. Es hatte keine Fenster, die Preise wurden in Stunden berechnet. Die Firma meines Freundes hatte aus Versehen ein Love Hotel für uns gebucht. Ein Love Hotel ist gar nicht so anrüchig, wie ihr jetzt vielleicht denkt — okay, wenn man von dem Whirlpool mit pinker Beleuchtung und den Plüschpantoffeln einmal absieht. Es ist ein wichtiger Teil der japanischen Alltagskultur. Junge Verliebte, die noch bei ihren Eltern wohnen, Ehepaare, deren Wohnungen zu hellhörig sind, oder auch Affären treffen sich in diesen Stundehotels, um unbesorgt ihre Hemmungen fallen zu lassen.

Von 2010 bis 2011 habe ich ein Jahr lang an einer Universität in Japan studiert und das seltsame Verhältnis zu Liebe und Sexualität in der japanischen Kultur kennen gelernt. Ich würde es beinahe schizophren nennen. Denn einerseits würden Japaner niemals, nicht einmal unter Freunden, Worte wie Penis oder Vagina benutzen (als es eine Austauschschülerin einmal tat, waren die Japaner peinlich berührt), andererseits kam es häufiger als einmal vor, dass neben mir in der U-Bahn ein „Salaryman“ (ein Büroangestellter) saß und ganz ungeniert einen Hardcore-Mangaporno durchblätterte.

Japans Sexproblem

Was mir mittlerweile jedoch am meisten Angst macht: Viele der Dinge, die ich damals vor sieben Jahren befremdlich fand, entdecke ich heute auch schon in Europa.

Japan hat ein Sexproblem, Wirtschaftswissenschaftler sprechen von einer „demografischen Zeitbombe“. Die Bevölkerung wird immer älter, aber es werden immer weniger Kinder geboren.

Natürlich ist das auch in anderen Industrieländern ein Problem, doch nirgendwo so verheerend wie in Japan. Die Nation leidet darunter, dass der abnehmende Konsum die Wirtschaft schwächt. Das bringt Familien dazu, weniger Kinder zu bekommen, was wiederum die Wirtschaft noch weiter schwächt. Im Durchschnitt bekommen Frauen in Japan 1,41 Kinder.

Japan ist zu einer sex- und ehelosen Gesellschaft geworden. 39 Prozent der Japanerinnen und 62 Prozent der Japaner zwischen 25 und 35 Jahren gaben in einer Umfrage des Meiji Yasuda Institute of Life and Wellness an, noch nie eine richtig ernsthafte Beziehung geführt zu haben.

Viel Arbeit, wenig Vergnügen

Woher kommt es, dass so viele junge Menschen alleine bleiben? Ein Erklärungsversuch: In Japan prallen derzeit zwei Welten aufeinander — jene aus der Zeit des Wirtschaftswunders und die der modernen Kultur.

Während der frühen 50er-Jahre legte Japan seine Priorität auf das Wirtschaftswachstum. Die Regierung verpflichtete große Unternehmen dazu, unbefristete Arbeitsplätze anzubieten und verlangte als Gegenleistung von den Arbeitnehmern nur die lebenslange Loyalität gegenüber dem Unternehmen. Der Modell ging damals auf und führte zum Wirtschaftswunder in den 1960er-Jahren.

Doch gleichzeitig hatte das den unangenehmen Nebeneffekt, dass die Menschen immer mehr arbeiteten. Nicht umsonst wurde in Japan ein eigenes Wort kreiert für jene, die durch Überarbeitung sterben: karoshi. Ich erinnere mich an die Rush Hour, die ich vor sieben Jahren immer mitmachen musste. Wenn all diese Angestellten in ihren weißen Hemden und schwarzen Anzughosen und Röcken mit ihren iPhones oder diesen weißen Klapphandys in der Hand zusammengedrückt in der U-Bahn standen.

Oder wenn ich als Studentin an Bürokomplexen vorbeiging, in denen um 21 Uhr noch alle Lichter eingeschaltet waren, die Menschen in diesen zahllosen Tischreihen saßen und auf ihre Bildschirme starrten. Ich habe mich damals schon gefragt, was das für ein Leben sein muss, das nur aus Aufstehen, Arbeiten und Schlafen besteht. Mich wundert nicht, dass diese Menschen keine Kraft mehr für Dates haben.

Frauen wählen Karriere statt Ehe

Doch da ist noch ein anderes Problem: Lange war es traditionell üblich, dass Frauen nach der Uni schnell heiraten, sich um den Haushalt und um die Kinder kümmern, während ihre Männer Geld verdienen. Diese unausgesprochene Regel ist noch immer in den Köpfen vieler Menschen zementiert. Eine gute Freundin von mir wurde mehrmals abwertend gefragt, ob sie lesbisch sei, weil sie mit 24 Jahren noch nicht verlobt oder verheiratet ist. Man würde meinen, dass ein technisch so fortschrittliches Land auch gesellschaftlich fortschrittlich ist, aber das ist es nicht.

Doch die jungen Menschen haben sich nichtsdestotrotz verändert. Frauen wollen sich dem Druck, ihre Karriere aufzugeben, sobald sie verheiratet sind, nicht mehr aussetzen. Die logische Konsequenz? Sie bleiben einfach Single.

Diese Entwicklung führt zu seltsamen Trends wie Hochzeiten, bei denen es nur eine Braut und keinen Bräutigam gibt, weil Frauen sich selbst heiraten. Sie wollen den großen Tag mit Hochzeitskleid und Torte nicht missen, wollen sich aber nicht unbedingt an einen Mann binden.

Vor etwa einem Jahr machte eine Schlagzeile die Runde, wonach mehr und mehr Japaner ihre guten Freunde und Bekannten heiraten. Um ehrlich zu sein: Auch ich habe einige japanische Freundinnen, die einfach ihre Kumpels, Studienkollegen und Bekannten geheiratet haben. „Es ist nicht leidenschaftliche Liebe, aber es gibt Sicherheit“, sagte eine von ihnen. Sie leben gemeinsam in einer Wohnung und jeder geht seiner Arbeit nach. Der gesellschaftliche Druck ist weniger geworden.

Seltsames Verhältnis zur Sexualität

Hinzu kommt das seltsame Verhältnis der Japaner zu Sexualität. Man würde meinen, dass sich die Menschen eben One-Night-Stands suchen, wenn sie schon keine Beziehung führen wollen, doch dafür sind viele zu verklemmt. Sie konzentrieren sich dann im Zweifel eben lieber auf fiktionale Sexobjekte in Manga-Pornos oder Videospielen, anstatt jemanden in einer Bar anzuquatschen.

Das Love Hotel ist nicht das Ergebnis einer sexuellen Revolution — es ist das Symptom eines großen gesellschaftlichen Problems. Wer nicht einmal dabei gehört werden will, wie er auf der Toilette pinkelt (ja, deshalb gibt es diese automatischen Spülgeräusche per Knopfdruck), der will schon gar nicht, dass die anderen wissen, dass man ein Sexleben hat.

Da die Mietpreise in Tokio zu den höchsten weltweit gehören und selbst vierköpfige Familien oft nur in einer 50-Quadratmeter-Wohnung leben, die zumeist extrem hellhörig ist, muss man schon finanzielle und infrastrukturelle Mühen auf sich nehmen, um in ein Love Hotel zu fahren und einfach nur Sex zu haben. Rund 4,5 Millionen Menschen zwischen 35 und 54 Jahren leben zudem laut einer Umfrage im Jahr 2016 immer noch bei ihren Eltern. Die Frage liegt also nahe: Wo sollen sich Menschen näher kommen außer in Stundenhotels?

Man nennt diese Menschen, die mit über 30 Jahren noch immer unverheiratet sind und bei ihren Eltern wohnen, übrigens „parasitäre Singles“, also kann man sich vorstellen, wie viel diese Menschen in der japanischen Gesellschaft wert sind.

Kommt das Problem auch auf Deutschland zu?

Bisher gibt es keine empirischen Beweise, dass „Sekkusu shinai shokogun“, wie das Phänomen der sexlosen Gesellschaft genannt wird, tatsächlich existiert. Doch gewisse Züge sind, wenn wir ehrlich sind, mittlerweile auch in Deutschland zu erkennen.

Wir arbeiten so viel wie zuletzt vor 25 Jahren, das geht aus Daten des Statistischen Bundesamtes hervor. „Offensichtlich arbeitet ein Drittel der deutschen Unternehmen über dem Limit“, sagt IW-Chef Michael Hüther kürzlich der „Welt“. Dass die Deutschen wieder mehr Zeit in der Arbeit verbringen, wird nicht zuletzt mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in Verbindung gebracht.

Diese Zombies, die mit ihrem Smartphone zusammengestaucht in der U-Bahn sitzen und ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen, die sehe ich auch immer öfter in Deutschland. Dann betrachten wir noch eine Studie aus den „Archives of Sexual Behaviour“ aus dem Jahr 2016, wonach junge Menschen in den USA, also in einem westlichen Land, heute weniger Sex haben als noch die Generation X und Babyboomer — und schon ist dieses Phänomen nicht mehr so japanisch, wie man meinen mag.

Der technische Fortschritt macht auch vor uns nicht halt. Hightech-Sexpuppen, virtuelle Figuren, vermenschlichte Roboter — was uns an Japanern oder Chinesen bisher immer merkwürdig vorkam, kann sich auch bei uns bald durchsetzen. Wenn keiner mehr einen Partner braucht (geschweige denn die Zeit dafür hat), dann kann auch Deutschland zu einer „demografischen Zeitbombe“ werden.

Ich habe ein Jahr lang erlebt, wie eine überalterte, überarbeitete und verklemmte Gesellschaft aussieht. Versteht mich nicht falsch, das Jahr in Japan war eines der besten meines Lebens. Aber ich wünsche mir das nicht für meinen Alltag.

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