Foto: Priscilla Du Preez | Unsplash

Das kalte Grauen: Wenn Paare nur noch „Wir“ sagen

In ihrer Thirtysomething-Kolumne schreibt Silvia über alles, was ihr gerade durch den Kopf geht. Und diese Woche darüber, dass man auch als Paar ein „Ich“ haben sollte.

„Also, WIR machen so etwas ja nicht!“

Es war ein Sonntag und der Freundeskreis hatte sich zum Brunch verabredet – zumindest lose, zumindest fast. Also musste irgendwann die Whatsapp-Gruppe bemüht werden, ob wir denn nun wirklich gleich alle im üblichen Café auftauchen werden, um sich an Warmhaltebehältern mit anderen Menschen die Beine in den Bauch zu stehen, auf Würstchen und matschiges Rührei wartend, nur um dann irgendwann entnervt den Magen mit Brot und Aufstrich zu füllen – was dann natürlich eigentlich viel zu wenig für den gezahlten Festpreis ist – ihr merkt, ich bin Fan! Aber was soll’s, so ist das eben, wenn man Brunchen gehen möchte. „Seid ihr heute alle dabei?“, flog die erste Nachricht in die Gruppe. Es kamen ein paar zustimmende Antworten und dann das:

„Anne und ich kommen nicht mit, wir mögen Brunchen gehen nicht.“ Ich überlegte kurz, bevor ich antwortete. „Ok, absolut verständlich, dass ihr da keine Lust darauf hat – aber bevor es Anne gab, bist du doch auch mitgekommen?…“ Mein Kumpel erklärte nun, dass das nie sein Ding gewesen sei, und jetzt, mit der neuen Freundin an der Seite, die das auch nicht möchte, könne er sich eben gar nicht mehr dazu durchringen.“ Na gut, dachte ich mir, sei es drum. Ich ging schließlich auch nur dahin, um endlich alle wieder zu sehen und nicht, weil ich das für eine sinnvolle Freizeitgestaltung halte. Treffen wir uns eben ein anderes Mal.

Wie aus zwei Menschen ein einziger wurde

Aber bei dieser einen merkwürdigen Begegnung mit dem neuen „Wir“ blieb es nicht, vielmehr nahm es mit der Zeit inflationäre Ausmaße an. Neuerdings hieß es von den dann noch immer frisch Verliebten nämlich permanent: Wir mögen dieses und jenes nicht, wir hatten gestern einen schlechten Tag, wir haben uns das und das abgewöhnt, wir finden, dass das geht und das nicht. Ich meine, was soll das? Haben sich ihre Gehirne, ihre Körper vor Liebe verflüssigt und sind einfach ineinander übergegangen? Wieso wurde aus einem Pärchen, aus zwei Menschen auf einmal eine Person, mit einem Geschmack, einem Charakter, mit denselben Vorlieben, denselben Abneigungen, Wünschen, Vorstellungen? Wo war das Ich abgeblieben? Das machte offensichtlich derzeit Pause vom anstrengenden Single-Leben davor. Schade eigentlich.

Denn klar, gerade zu Beginn, da ist die Brille, durch die man den anderen und die Welt sieht ja besonders saftig Rosa-Rot. Und es ist auch wunderschön, Gemeinsamkeiten zu entdecken, genauso wie das Wir zwischen den beiden Ichs – aber muss letzteres deshalb gleich ganz abgelegt werden? Möglicherweise bin ich mal wieder sehr unromantisch, ich weiß es nicht.

Mein „Wir“ braucht zwei „Ichs“

Vielleicht verstehe ich den Reiz, das Schöne daran auch einfach nur nicht, weil ich noch nie eine „Wir“-Beziehung hatte, die unsere Ichs ins Aus gestoßen hat. Das stand überhaupt nicht zur Debatte! Schließlich will ich genauso meine eigene Stimme behalten, wie ich die des anderen hören möchte – und das auch wirklich nicht permanent im Gleichklang. Wenn ich das will, gründe ich eine Chorgruppe. Und überhaupt: Macht neben all den Gemeinsamkeiten, die entstehen und auch schon da sind, nicht gerade „das Andere“ Spaß? Ist nicht genau das spannend? Der Gedanke, dass mein Ich oder ein anderes pausieren soll, um eine harmonische Beziehung führen zu können, ist erdrückend. Geht es also nur mir so, dass die Vorstellung daran eher gruselig und übergriffig wirkt, als wunderschön?

Ja natürlich, jede Beziehung hat ihre ganz eigenen Regeln, aber wenn ich für mich spreche, sehe ich vor allem verdammt viel Gutes in einer Beziehung mit zwei Menschen, die unterschiedlich sind und sein dürfen, die sich ergänzen und mal auch verständnislos den Kopf schüttelnd voreinander stehen können, ohne dass das als Mangel an Bindung oder als problematische Disharmonie gesehen wird. Aber wie auch immer es bei dem „Wir“ weitergeht, ein Gutes hat es jedenfalls: Ich muss meine Sonntage nicht mehr neben Warmhaltebehältern und um Rührei-Reste kämpfend verbringen. Wir gehen jetzt einfach mittags in ein Café, denn das mögen „Die“ auch.

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