Foto: GLS Treuhand Zukunftsstiftung Entwicklung

Annette Massmann: „In Krisenregionen liegt das Überleben der Menschen oft in der Hand der Frauen“

Annette Massmann ist eine unserer „25 Frauen, die unsere Wirtschaft revolutionieren“ – im Interview spricht sie über die Herausforderungen ihrer Arbeit und warum der berühmte Tropfen auf den heißen Stein wichtig ist.

 

Die Herausforderungen: Migration, Dürre, Hunger

 Kurz nach unserem Gespräch packte Annette Massmann mal wieder ihren Koffer – um für sechs Wochen nach Indien zu reisen, wo sie sich an mehreren Standorten mit Projektpartner*innen treffen wird. Massmann leitet seit zwölf Jahren die GLS Zukunftsstiftung Entwicklung am Standort Bochum und kooperiert mit Partnerorganisationen weltweit. Die Welt steht angesichts von Migration, Dürre und Hunger vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen – Annette Massmann arbeitet mit ihrer Stiftung an Lösungen und gibt damit wichtige Impulse in die entwicklungspolitische Debatte in Deutschland. Im Juni wurde sie unter unsere „25 Frauen, die unsere Wirtschaft revolutionieren“ gewählt und mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.  Wir haben mit ihr über ihre Arbeit, über Rückschläge und Kraftquellen gesprochen.

Sie machen den Job schon lange und sind schon immer selbst viel unterwegs und vor Ort – welche Rolle spielen die Reisen bei Ihrer Arbeit?

„Diese Reisen sind Beratungsreisen. Zum einen geht es darum zu sehen, wie die Projekte umgesetzt werden, gleichzeitig geht es auch immer um eine Art von Organisationsberatung. Deswegen sind diese Reisen so wichtig; und gleichzeitig sind sie wichtig, weil man natürlich über Anträge und Berichte einen Teil der Realität abbilden kann, es aber immer auch gut ist, sich selbst ein Bild vor Ort zu machen. Und natürlich lerne ich auf den Reisen unheimlich viel, und in den Begegnungen und Gesprächen ist es gleichzeitig möglich, Menschen in Kontakt zu bringen. Wir haben das Prinzip, innerhalb der Länder, in denen wir aktiv sind, möglichst alle Partner*innen in Austausch zu bringen, weil dieses ,Peergroup-Learning‘, also Lernen von anderen, die die gleichen Dinge tun, immer am besten funktioniert. Es geht bei diesen Reisen auch immer darum, zu gucken: Wer muss denn mal mit wem sprechen, wer muss mal wohin reisen, um die Arbeit der anderen wahrzunehmen, und das kann praktisch nur geschehen, wenn man selbst sehr viel reist, das gilt aber auch für die anderen Mitarbeiter*innen der Stiftung, die auch viel reisen müssen.“

Dienstreisen können ja, wie wahrscheinlich jede*r weiß, der*die öfters welche machen muss, sehr anstrengend sein, und gerade die Art von Reisen, die Sie schildern, sind etwas anderes, als wenn man mal eben für zwei Tage nach Düsseldorf muss – wie schaffen Sie es, bei diesen Reisen weiterhin motiviert und mit frischem Geist die Dinge anzugehen? Ich könnte mir vorstellen, dass das zermürbend sein kann, so viel unterwegs zu sein unter teilweise schwierigen Bedingungen.

„Ja, diese Reisen sind überhaupt kein Zuckerschlecken, die sind hart. Aber: zu sehen, mit wieviel Einsatz, mit wieviel Energie Menschen an der Verbesserung der Lebensumstände anderer arbeiten, gibt wahnsinnig viel Kraft. Und immer wieder diese Energie und Dankbarkeit der Menschen zu spüren, deren Lebensbedingungen wir verbessern konnten, das gibt auch ganz viel Kraft. Der Arbeitsalltag in der Stiftung hier wiederum ist sehr eng getaktet, und wenn ich dann, sagen wir, zwei Monate ,nur‘ in Deutschland und ,nur‘ im Büro war, dann muss ich auch wieder los, um meine Batterien wieder aufgeladen zu bekommen, wieder zu wissen: ,Warum mache ich eigentlich das Ganze?‘ Und es gibt einfach Begegnungen, die brennen sich ein. Ich war gerade in Uganda, und wenn Sie dann im letzten Winkel des Landes sind und eine alte Dame kommt mit einem großen Korb voller Gemüse zehn Kilometer gelaufen, um Ihnen diesen Korb mit Gemüse zu schenken, weil sie jetzt mehr hat, als sie braucht für ihre Familie – das sind Begegnungen und Erfahrungen, die mich weitermachen lassen.“

Wenn wir an den Beginn Ihres Werdegangs zurückgehen: Sie haben zunächst einen ganz klassischen Geisteswissenschaften-Mix in Deutschland studiert, und dann noch Ökonomie in Santiago de Chile, das klingt nach einem spannenden Aufbruch in eine ganze andere Richtung… wie kam es dazu?

„In den achtziger-Jahren war Lateinamerika der Kontinent der Umbrüche, es war das Ende der Diktaturzeit, und ich war damals jung und energisch und dachte: ,Wow, wenn sich nochmal was auf diesem Planeten ändert, dann ist das bestimmt dieses Aufbrechen, das von Lateinamerika ausgeht‘, ich wollte damals gern in Richtung Auslandskorrespondenz, und habe dann bei Zeitungen und Zeitschriften in Uruguay und Paraguay gearbeitet. Darüber habe ich Menschen kennengelernt, die mich auch nach Chile gebracht haben. Ich habe dann gemerkt, dass es mir nicht reicht, meine Nase kurz in etwas reinzustecken, mich aber nicht einarbeiten zu können in Konflikt-Prozesse. Letztendlich ,nur‘ darüber berichten zu können, entsprach nicht meinem Ansatz. Diese Arbeit ist natürlich total wichtig, aber ich hätte sie nicht ausgehalten.“

Weil Sie selbst etwas bewegen wollten?

„Nein, weil die Menschen so viel Vertrauen in einen setzen, so viel Hoffnung haben, dass über ihre Arbeit, ihr Tun, ihre Konflikte berichtet wird; und das, was man dann in der schnelllebigen Zeit berichten kann, ist natürlich sehr wenig. Ich hätte das persönlich nicht ausgehalten: diesen Bruch zwischen Verantwortung, die ich von anderen übertragen bekomme und dem, was ich daraus machen kann. Dann fragte ich mich, was ich brauche, um tiefer in die Materie von Projektmanagement einzusteigen. In Chile bot sich an, Ökonomie und lateinamerikanische Geschichte zu studieren. Das war zum einen grundlegend und half natürlich, die lateinamerikanischen Hintergründe besser zu verstehen, auch in die lateinamerikanische Geschichte nochmal tiefer einzutauchen – und das hat dann meinen Weg in die Entwicklungszusammenarbeit befördert.“

Es geht in Ihrer Arbeit darum, Menschen Mittel an die Hand zu geben, um selbst eine tragfähige Lebensperspektive aufzubauen. Auf der Website Ihrer Stiftung steht, dass Ihre Erfahrungen zeigen, dass Frauen oft der Motor für einen solchen Umbau sind. Können Sie schildern, warum das so ist? Aus unwissender Perspektive klingt das erstmal ungewöhnlich, weil man glauben würden, dass Gleichberechtigung in den betreffenden Ländern ein schwieriges Thema ist?

„Das ist völlig richtig: In Krisen- und Armutsregionen sind Frauen tendenziell unterprivilegiert, werden ausgegrenzt, nehmen am öffentlichen Leben kaum teil, und trotzdem gibt es auch da immer wieder Brüche. Es gibt einzelne herausragende Frauen, die unglaublich viel verändern wollen und auch viel schaffen. Aber in diesen Armuts- und Krisenregionen liegt das Alltagsleben, das Überleben der Menschen, in der Hand der Frauen, und ohne dieses Kämpfen der Frauen im Alltag würden die Leute gar nicht überleben. Nehmen wir das Beispiel Ostafrika: Die Frauen dort stehen um vier Uhr morgens auf, fangen an zu kochen, müssen sich um Holz kümmern, müssen sich um Wasser kümmern, das sie aus vielen Kilometern Entfernung heranschaffen müssen, um dann den Kindern etwas zu essen zu geben.

Die Kinder brechen dann zur Schule auf, und wenn die Kinder in der Schule sind, gehen die Frauen aufs Feld und arbeiten. Nachmittags kommen die Kinder wieder, wieder muss das Essen zubereitet werden inklusive Wasser holen und Feuerholz sammeln: Das sind Arbeitsprozesse, die sich von morgens um vier bis abends um elf ziehen, und diesen Alltag bewältigen nun mal die Frauen. Wenn es darum geht, sicherzustellen, dass Kinder überleben, dass Kinder eine Schulbildung bekommen, dann sind es die Frauen, die sich dafür maßgeblich einsetzen. Es gibt immer auch Männer, die sich engagieren, aber sie sind in der absoluten Minderzahl.“

Und die Rolle der Männer besteht dann in der Regel worin?

„Männer kommen meist immer dann deutlich ins Spiel – auch in unseren Projekten – wenn es ums Geld geht. Da geht es natürlich immer um Besitzverhältnisse, um Fragen wie: Wer kann Eigentum haben? Wer darf Entscheidungen treffen? Auch in Kooperativ-Strukturen läuft das teilweise so: Frauen versorgen die Tiere, suchen das Gras, füttern, melken die Kühe, bringen die Milch zur Kooperative – aber das Konto bei der Kooperative ist auf den Mann eingetragen, und am Ende des Monats kommt das Geld für die Milch in die Hand des Mannes. Und hier versuchen wir anzusetzen, damit eben auch Frauen diese Ökonomie in die eigene Hand nehmen können. Denn unsere Erfahrung ist, dass davon eine ganze Familie profitiert, und nicht nur ein Individuum.“

Können Sie vielleicht ein Beispiel-Projekt schildern, das Sie persönlich begeistert hat, wo es Ihnen gelungen ist, Frauen die Verantwortung in allen Belangen zu übergeben, also auch monetär?

„Unser Projekt mit Kleinbäuerinnen in Kenia ist ein gutes Beispiel: Dort schließen sich etwa 20 bis 25 Frauen zusammen, werden im organischen Landbau ausgebildet, bekommen eigenes Saatgut, Themen wie Wassermanagement, Tierzucht gehören auch zur Ausbildung; eine solche Frauengruppe ist nach der etwa drei- bis vierjährigen Ausbildung ernährungssouverän. Dann kommt die nächste Phase, die Frauen werden weitergebildet, um ihre Produkte weiterverarbeiten und vermarkten zu können; bilden Spar- und Leihzirkel, die sie selbst verwalten. Sie treffen sich einmal pro Woche, entscheiden gemeinsam, welches Gruppenmitglied einen Kredit bekommt, um eine größere Investition zu tätigen, oder sie tätigen gemeinsam die Investitionen.

Eine Frauengruppe war so erfolgreich bei der Weiterverarbeitung und im Marketing für ihre Produkte, dass sie einen Cateringservice aufgebaut haben. Sie haben zum Beispiel in Töpfe und alles mögliche Zubehör investiert, und der Cateringservice lief dann sehr gut; im Anschluss haben sie ein Zelt-Verleihunternehmen aufgebaut und haben dann auch mehrere Menschen anstellen könne, weil es in Kenia oft große Feste gibt, für die große und viele Zelte gebraucht werden für viele hundert Gäste. Und im Anschluss daran haben die Frauen aus ihrem Spar- und Leihzirkel ein kleines Mikro-Finanzinstitut gegründet. Das ist ein Beispiel, an dem man sieht, dass mit der richtigen Schulung, der richtigen Organisation und einer sinnvollen Begleitung Frauen aus einer Subsistenz, also einer Landwirtschaft, die nur der Eigenversorgung dient, zu erfolgreichen Unternehmerinnen werden können, die dann auch wieder Vorbild sind für andere Frauen.“

Sie haben ja schon geschildert, dass die Motivation und die Leidenschaft der Leute vor Ort auf jeden Fall für Sie ein Ansporn ist und Ihnen Kraft geben, andersrum: Erleben Sie auch Niederlagen oder Rückschläge, Enttäuschungen, und könnten Sie eine Situation schildern, und wie Sie damit umgehen?

„Ja, Rückschläge gehören auch dazu. Ein Beispiel: 2015 gab es in Nepal das schwere Erdbeben. Wir haben über viele Jahre eine Frauenkooperative in Nepal mit aufgebaut, die Association for Craft Producers, ACP, ein Unternehmen mit 1200 Produzentinnen, die sich in der Kooperative zusammengeschlossen haben und für den internationalen fairen Handel Textilien produzieren. 2015 kam das Erdbeben und mehrere Manufakturen, die zur dieser Kooperative gehörten, sind in sich zusammengefallen, Menschen sind dabei gestorben. Wenn Sie jahrelang an so etwas gebaut haben, und dann rüttelt einmal die Erde und alles fällt in sich zusammen, dann ist das ein harter Rückschlag. Glücklicherweise haben wir sehr viel Unterstützung durch Spender*innen erfahren und konnten die Produktionsstätten wieder aufbauen, aber so etwas ist nicht bruchlos; wenn Menschen sterben, brechen auch Wissensbestände ein, da brechen Traditionen ein, das ist nicht nahtlos fortzusetzen, das ist hart.“

Müssen Sie gewissermaßen mit solchen Ereignissen rechnen bei Ihrer Arbeit?

„Ja und leider ist es auch so, dass im Zuge des Klimawandels Katastrophen, die wir gar nicht steuern können, immer häufiger werden; das verlagert die Arbeit perspektivisch noch mehr in die Richtung, wie man mit solchen Krisen wie anhaltenden Dürren und Überschwemmungen eigentlich umgehen kann, welche Techniken, welche Organisationsformen, welche Präventionsmaßnahmen, jeweils auf die lokalen Verhältnisse gedacht, aufgebaut werden müssen, um die schlimmsten Ausschläge solcher Katastrophen zu verhindern.“

In einem früheren Interview mit uns sagten Sie, dass das Leben auf unserem Planeten bald umziehen muss, ohne dass Sie wüssten, wohin – klingt ziemlich pessimistisch – war das Ausdruck dessen, was Sie gerade geschildert haben? Also dass Sie vor Ort unterstützen wollen und immer mehr gegen menschengemachte Krisen arbeiten müssen? Lässt Sie das irgendwie resignieren?

„Alles ist menschengemacht – es gibt keinen Raum mehr auf dieser Erde, der nicht von Menschen gestaltet wurde, in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es womöglich noch eine Idee von unberührter Natur, die ist heute nicht mehr existent. Um ein Beispiel zu nennen: In Indien gibt es mittlerweile um die 1,3 Milliarden Menschen, die Bevölkerung wächst weiter, im vergangenen Jahr zum Beispiel wurden um die 16 Millionen Kinder geboren, die Gesamtbevölkerung wächst um 1,1 Prozent. Gleichzeitig ist ein Drittel des ehemals fruchtbaren Ackerlands in Indien inzwischen Wüste, weil die Bodenfruchtbarkeit auf diesem Ackerland nicht erhalten worden ist, und dieser Prozess schreitet weiter voran. Das ist absolut menschengemacht. Und das lässt einen natürlich verzweifeln, wenn man denkt: Wenn das alles evident ist, wenn man im heutigen Zeitalter mehr weiß als man je wusste, wenn eigentlich immer mehr Menschen auch auf dieses Wissen zugreifen können, wieso wird nicht umgesteuert?

Das sind schon Momente, in denen ich verzweifeln kann. Bei Vorträgen höre ich ganz oft die Frage: ,Warum machen Sie das alles, das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein‘…ja, es sind höchstens homöopathische Dosen, die man als so kleine Stiftung erreichen kann, aber erstens glaube ich an Homöopathie (lacht) und zweitens ist es absolut wichtig, dass Beispiele in die Welt kommen, die zeigen, wie aus geringen Investitionen, aber guter Organisation und guter Bildung, Alternativen erwachsen können. Und dass diese Alternativen modellhaft ausstrahlen und andere davon lernen können.“

Sie haben mal gesagt, dass in den Ländern vor Ort eine ganz andere Art demokratischer Mitbestimmung herrsche als bei uns – das klang für mich überraschend, weil wir doch eigentlich davon ausgehen, dass wir das Nonplusultra der Demokratie sind – können Sie das erläutern?

„Nehmen wir zum Beispiel die Massai im Süden Kenias: Es heißt es ja gern, die Massai-Frauen seien total unterdrückt und die Massai hätten keine Ahnung von Demokratie. Das ist dort nicht unsere Form der Demokratie, aber es sind hochdemokratische Spielregeln: In einer Massai-Gemeinde haben alle Menschen Rederecht in Bezug auf ihre Belange. Die Männer reden über ihre Belange, zum Beispiel Rinder, die Frauen über ihre Belange, zum Beispiel das Kleinvieh, alles rund um die Familie und Kinder bis zu einem gewissen Alter. Das Redeprinzip ist so, dass alles in Großversammlungen so lange diskutiert wird, bis eine gemeinschaftliche Entscheidung getroffen ist; wenn ich in diesen Runden etwas sage, muss ich erst das wiederholen und zusammenfassen, was mein*e Vorredner*in gesagt hat, und dann darf ich dazusetzen, was ich sagen will. Dadurch gebe ich wieder, was ich glaube, verstanden zu haben. Wenn man darin keine Übung hat, ist das gar nicht so leicht, aber es ist ein Prozess zu tieferer Verständigung. Und dann wird gemeinsam entschieden, welche Vorhaben umgesetzt werden. Das heißt, es gibt demokratische Strukturen, die nicht legitimiert sind, weil sie nicht unseren Prinzipien entsprechen; natürlich gibt es da auch viele Brüche, aber grundsätzlich sollten wir uns andere Modi, wie Demokratie hergestellt werden kann, ganz genau anschauen. Davon können wir auch lernen.“

Sie sagten, dass Sie sich von der Großen Koalition eine Verhandlung der „European Partnership Agreements“ erhoffen, um den afrikanischen Ländern eine reale Chance zu geben, von der Rolle der billigen Rohstofflieferanten wegzukommen. Könnten Sie erklären, was da konkret Ihre Hoffnung ist?

„Grob geht es um die Veränderung der Agreements in der Hinsicht: Ein gleichberechtigter Handel kann nur dann stattfinden, wenn die afrikanischen Länder die Chance haben, für ihre Rohstoffe bei uns auch gute Preise zu erzielen, die Länder müssen in der Lage sein, ihre Rohstoffe selbst zu verarbeiten und fertige Produkte liefern zu können; derzeit ist es der Handel aber so strukturiert, dass für Rohstoffe nicht genug gezahlt wird und gleichzeitig die Standards immer mehr zu Regulierungen werden; das heißt: Wenn in Uganda getrocknete Früchte wie etwa Mangos produziert werden, dann gibt es so viele Auflagen, wie der Standard der fertigen getrockneten Mangofrucht aussehen muss, dass es für die Bäuer*innen vor Ort wahnsinnig schwierig ist, ein fertiges Produkt zu exportieren. Und so lange das nicht geändert wird, haben diese Bäuer*innen keine Chance im Exportmarkt.“

Abschließend noch ein anderes Thema: Sie haben sehr viel Berufserfahrung gesammelt. Wir hatten Sie schon mal nach Ihren Eindrücken jüngerer Bewerber*innen gefragt, und Sie hatten gesagt, Sie würden beobachten, dass Berufsbiografien minutiös geplant würden und dass es eine Ihnen neue Auffassung von Work-Life-Balance gebe; man könnte daraus lesen: Die jungen Leute wollen sich Ihrem Empfinden nach nicht mehr so richtig reinhängen, interpretiere ich das richtig?

„Ich finde es immer wahnsinnig schwierig, über andere Generationen zu sprechen, weil es ein Sprechen ,über‘ und nicht ,von‘ ist, das vorneweg. Und es gibt natürlich immer Menschen, die sich wahnsinnig einsetzen, aber Sie haben mich generell gefragt. Und generell ist schon eher mein Eindruck, dass junge Menschen den lückenlosen Lebenslauf minutiös planen, Bewerbungsmappen überquellen von hundertundeinem Workshop und Zusatzqualifikationen, dass also der Lebenslauf für einen bestimmten Markt optimiert wird; und andererseits wird zielsicher geguckt: Wie kriege ich es auch optimiert, für meinen Einsatz maximal bezahlt zu werden? Ich weiß nicht, wie häufig ein enthusiastischer Einsatz jenseits eines solchen Planungskonzepts noch vorkommt – aber wie gesagt, ich will das nicht generalisieren, das sind nur Beobachtungen und Wahrnehmungen.“

Was tun Sie selbst in Ihrer Führungsposition, um etwa Frauen zu unterstützen?

„Innerhalb der Zukunftsstiftung Entwicklung sind wir nur Frauen, wir haben kürzlich eine Stelle ausgeschrieben und würden uns freuen, unser Team auch um einen Mann zu ergänzen. Innerhalb der GLS Treuhand ist es so, dass der Vorstand rein männlich besetzt ist; innerhalb der GLS Bank gibt es im fünfköpfigen Vorstand zwei Frauen. Das von Ihnen immer wieder beschriebene Phänomen, dass sich Frauen in Führungspositionen nicht so leicht durchsetzen können, ist sicherlich auch Thema in unserem Haus, auch wenn dieses Thema wahrgenommen wird und daran auch gearbeitet wird. Hier kann man kein Unternehmen und keine Stiftung in Deutschland ausnehmen. Gerade in der Stiftungslandschaft sind die allermeisten Vorstände männlich.“

Warum ist das Stiftungswesen so männlich dominiert? Klischeemäßig würde man in diesem eher „weichen“ Bereich ja auch viele Frauen vermuten…

„Das hat mit dem Umgang mit Geld zu tun. Auch damit, wer in Deutschland über Vermögen verfügt, wer Stiftungen initiiert – das ist noch alles meist in männlicher Hand. Der Umbruch in diesem Bereich wird in den nächsten zehn, 20 Jahren kommen.“

Sie sind bei Ihren Reisen als Chefin der Stiftung mit vielen lokalen Partner*innen in Kontakt. Haben Sie vor Ort Probleme, als Frau ernst genommen zu werden?

„Ich mache das jetzt seit so vielen Jahren, dass ich damit kein Problem mehr habe; die Leute kennen mich, ich habe mir diese Position erarbeitet, und zu neuen Projektpartnern komme ich mit meiner ganzen Geschichte, auf dieser Ebene gibt es also keine Probleme. Aber als ich angefangen habe, waren fast nur Männer in Führungspositionen solcher NGOs im Ausland, und die waren schon sehr neugierig, wer da auf sie zukommt, reagierten eher abwartend, ein Mann in derselben Rolle hätte es natürlich einfacher gehabt. Es dauerte einige Zeit, bis ich mir dort meine Position erarbeiten konnte.“

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