Foto: Fotostudio Celebi

Kristina Hänel: „Ich wüsste nicht, warum ich aufhören sollte – die Situation für Frauen ist nicht geklärt“

Die Ärztin Kristina Hänel ist seit der Debatte um den Paragraphen 219a zur wichtigsten Fürsprecherin für Informationsfreiheit und Selbstbestimmung von Schwangeren und Ärzt*innen geworden. Der Prozess gegen sie wurde mit großem Medieninteresse verfolgt. Was diese Aufmerksamkeit mit ihr macht, beschreibt sie in ihrem gerade erschienen Buch „Das Politische ist persönlich: Tagebuch einer ,Abtreibungsärztin“ und bei uns im Interview.

Kampf für die Informationsfreiheit

Seit den 80er Jahren nimmt Kristina Hänel Abtreibungen vor. Die Entscheidung dazu war damals für sie noch keine politische, sondern der Situation geschuldet, erzählt sie. In Gießen, ihrer Heimatstadt, gab es keine Ärzt*innen, die Abbrüche vornahmen. Kristina Hänel merkte, in welch schwieriger Situation viele Schwangere waren und wie sie darunter litten, dass es in unmittelbarer Nähe keine Praxis oder Krankenhaus gab, wo sie Hilfe bekommen konnten. Sie entschied sich dazu, den Eingriff zu lernen, damit auch in Gießen Schwangerschaftsabbrüche möglich sein konnten.

In Ihrem neuen Buch beschreibt Kristina Hänel, wie es rund 30 Jahre nach dem Beginn ihrer Tätigkeit zu der ersten Anzeige gegen sie kam. Laut § 219a des Strafgesetzbuches war es bis vor wenigen Wochen untersagt, als Ärzt*in darüber zu informieren, dass Schwangerschaftsabbrüche in der Praxis angeboten werden. Durch die Möglichkeit, Infomaterial auf ihrer Webseite herunterzuladen, verstößt Kristina Hänel noch immer gegen das so genannte „Werbeverbot“. Ärzt*innen dürfen nach der Reform des Paragraphen nun lediglich darüber informieren, dass sie die gesundheitliche Dienstleistung anbieten – mehr Informationen sind weiterhin verboten und können bestraft werden.

Die bis vor Kurzem bestehende Gesetzeslage hat Abtreibungsgegner*innen zu Missbrauch des Paragrafen eingeladen. Weil Hänel auf der Website ihrer Praxis aufführte, Abbrüche anzubieten und Patient*innen informieren wollte, verklagte sie der Student Yannik Hendricks, der angibt, dass es sein Hobby sei, Ärzt*innen nach § 219a anzuzeigen. Hänel ist nicht die einzige Ärztin, die Hendricks angezeigt haben soll, wie er selbst erklärt hat.

Kristina Hänels Buch, das in diesem Frühjahr im Argument-Verlag der renommierten Soziologin Frigga Haug erschienen ist, beginnt mit der Klage auf ihrem Küchentisch und endet am Tag des zweiten Prozesses. Darin gibt Hänel Einblicke in private Momente, in ihre Gefühlswelt und fasst die Prozesse sowie die gesamte Debatte aus ihrer Sicht zusammen.

Wir haben mit Kristina Hänel darüber gesprochen, wie es nach dem gesetzlichen Kompromiss zu § 219a weitergehen kann und wie sie die letzten Monate erlebt hat.

Der Kompromiss um § 219a ist nun beschlossene Sache. Verändert der Kompromiss etwas an Ihrer Situation oder der von anderen Ärzt*innen?

„Der sogenannte Kompromiss ist für mich kein Kompromiss. Er berührt die Informationen, die ich über Abtreibung zur Verfügung stelle, gar nicht. Das heißt, meine Strafbarkeit bleibt bestehen. Der Kompromiss berührt mich nur insofern, dass die Leute uns gratulieren, weil die Politik es so hingestellt hat, als hätte sich etwas verbessert und unsere Ziele seien erreicht. Doch dieses komplizierte Konstrukt bedeutet im Grunde nur, dass der Paragraph 219a so stehen geblieben ist und die Information von Fachleuten nach wie vor verboten ist. Mein Ziel, die Informationsfreiheit der Frau zu ermöglichen, ist noch nicht erreicht und mein Weg noch nicht vorbei – ich warte jetzt auf das Oberlandesgericht.“

Hat sich für Schwangere, die über einen Abbruch nachdenken, etwas zum Positiven verändert?

„Ich glaube nicht, dass diese Listen* etwas ändern können. Aber unabhängig von der politischen Diskussion hat sich in der Gesellschaft viel getan. Das Tabu ist gebrochen, weil nun überall über Schwangerschaftsabbrüche und die ganzen Defizite geredet wird: Kein flächendeckendes Angebot von Ärzt*innen, die Abtreibungen vornehmen, zu wenige oder moralisierende Beratungsstellen, Frauenärzt*innen, bei denen man keinen Termin bekommt oder unfreundlich behandelt wird – das ist jetzt alles im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen. Und dadurch hat es auch eine gewisse Gegenbewegung gegeben. Man schaut jetzt was die Beratungen machen, wie Frauen zu ihrem Recht kommen, eine Abtreibung aus ihrem Gewissen heraus durchzuführen, und das nachdem sie all die gesetzlichen Hürden genommen haben. Hierfür gibt es zum Beispiel schon die ,Medical Students for Choice‘ in vielen verschiedenen Städten oder in meiner Praxis, die bei mir mitarbeiten, lernen, hospitieren und sich dem Problem annehmen.“

Was vermuten Sie, wie kam es dann zu dieser Entscheidung der Bundesregierung?

„Ich hatte zu Beginn persönliche Gespräche mit CDU-Politiker*innen, bei denen klar war, dass meine Homepage nicht strafbar sein sollte. Diese sachlichen und seriösen Informationen darf man Frauen nicht vorenthalten. Dass dann diese Kehrtwendung kam zum Kompromiss, passt ja fast in ihre Linie: Sie haben damals schon gegen das Frauenwahlrecht gestimmt und gegen Vergewaltigung in der Ehe als Straftat. Ich habe mir etwas anderes erhofft, aber es war dann vermutlich die Angst vor der AfD. Gauland sagte: ,Wir werden sie jagen‘ und sie haben sich jagen lassen, was sich zum Beispiel an der Spahn-Studie zeigt. Auch bei der SPD hatte ich den Eindruck, dass die Menschen etwas anderes denken, als sie nachher umgesetzt haben. Sie haben diesen faulen Kompromiss wahrscheinlich gemacht, um ihre Macht zu erhalten. Doch sie haben ihre Glaubwürdigkeit verloren und das wird sie viele Stimmen kosten.“

In Ihrem Buch schreiben Sie von Menschen, die sie unterstützen. Von Privatpersonen, Jurist*innen, Patient*innen bis hin zu den ,Medical Students for Choice‘ und vielen mehr. Das ist eine große positive Resonanz. Gibt diese Ihnen Kraft, weiterzumachen?

„Ja, auf jeden Fall. Ich fange jetzt an, mit meinem Buch auf Lesungen zu gehen. Die sind immer sehr spannend, weil die Frauen mir vor Ort berichten, wie ihre Situation ist, was sie gemacht und erlebt haben. Und ich habe ja über etwas geschrieben, was ich ebenfalls von Frauen erfahren habe. Es geht natürlich um mich, aber um mich als Symbol für das Thema und was es mit den Menschen macht. Ich bin einfach nur eine, die ihre Stimme für die Frauen erhoben hat. Mittlerweile gibt es ja auch viel mehr Frauen, wie zum Beispiel Laura Dornheim, die über ihre Erfahrungen in der Öffentlichkeit sprechen.“

Sie schildern in Ihrem Buch viele private Momente und vor allem ihre Gefühle. Wie fühlten sie sich zu Beginn des Buches und wie jetzt?

„Wenn ich selber mein Buch lese, merke ich, wie ich am Anfang in die Situation hineingeschlittert bin und noch gar nicht wusste, was da auf mich zukommt – zum Glück. Das ändert sich am Ende, denn mein Problembewusstsein hat sich über die ganze Zeit hin verändert. Dadurch, dass mich so viele anschreiben und ihre Situation vor Ort schildern, habe ich ganz viel erfahren über die Versorgungslage in Deutschland.“

Hat sich Ihre Haltung zur Debatte in den letzten Monaten verändert?

„Nicht an meiner Haltung, sondern gesellschaftlich nehme ich wahr, dass es wieder eine Bewegung gibt. Momentan die Jugendlichen mit dem Klimaschutz oder seit Längerem schon die Metoo-Debatte. Dass Männer und Frauen wieder auf die Straße gehen, dass die Gesellschaft so wach ist und sich für Frauenrechte einsetzt, nehme ich positiv wahr und damit habe ich nicht gerechnet.“

Gab es bestimmte Situationen, die Ihnen gezeigt haben, dass Sie weitermachen wollen oder vielleicht sogar müssen?

„Es gibt eigentlich jede Woche ein Ereignis, das mich besonders berührt. Es gibt so viele Momente, da ich ja auch noch in der Arbeit drinstecke und keine Politikerin oder Ähnliches bin. Da kommt die Motivation fast täglich. Ich merke, dass ich noch nicht aufhören kann und weitermachen muss.“

Ist das nicht kräftezehrend nach fast zwei Jahren?

„Das ist sehr kräftezehrend, ja. Das merke ich jetzt, da ein wenig Ruhe eingekehrt ist, seit sich der Bundestag entschieden hat. Ich komme aber nie ganz zur Ruhe, auch wenn ich versuche Sport zu machen oder ein Privatleben zu haben. Es ist ist unterm Strich einfach sehr viel, vor allem da ich keine Vertretung in meiner Praxis habe und nicht frei nehmen kann.“

Und zusätzlich müssen Sie immer noch den Abtreibungsgegner*innen Kontra geben, zum Teil vor Ihrer Praxis, und nicht nur mit der Presse reden.

„Deswegen finde ich es gut, dass mein Buch gerade jetzt herausgekommen ist, denn es entlarvt die Diskussionen. Die sogenannten Abtreibungsgegner*innen haben ja nichts zu bieten. Die haben ein Argument: ,Die Kinder werden immer vergessen‘, und dann ist Schluss. Aber keiner von uns, keine Frau, vergisst die Kinder. Wenn man vor allem ein ganzes Buch über Frauen und Kinder schreibt, dann ist sowieso klar, dass es nicht stimmt. Gegner*innen sollen sich mit der Realität auseinandersetzen und nicht ständig Lügen verbreiten.“

Sie schreiben öfter in Ihrem Buch über Angst und dass diese auch kommt, wenn Ihnen bewusst wird, dass Sie im Mittelpunkt dieser Gegner*innen stehen.

„Die Angst ist nicht dauernd da, nur in bestimmten Situationen. Zum Beispiel in Momenten mit viel Öffentlichkeit oder letztens habe ich wieder auf Twitter entdeckt, dass mir jemand von ,Babycaust‘ folgt. Bei zehntausend Followern ist das Zufall, wenn man so etwas sieht. Dann denke ich mir, ah guck mal, die verfolgen mich schon die ganze Zeit.“

Ein positives Ereignis hingegen war vermutlich der Anne-Klein-Frauenpreis, den Sie im März verliehen bekommen haben.

„Ja, der Preis war aus verschiedenen Gründen ganz besonders. Vor allem da ich ihn zusammen mit Natascha Niklaus und Nora Szász verliehen bekommen habe. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, denn es ist nicht nur meine Sache, sondern es geht viele an.“

Ihnen drei wurde der Preis „für ihre beharrliche Verteidigung des Informationsrechts von Frauen“ verliehen. Wie sehen ihre nächsten Schritte aus, um das Informationsrecht zu ermöglichen?

„Der nächste Schritt ist das Oberlandesgericht Frankfurt. Da schicken wir unsere Revisionsbegründung hin und warten ab, wie es entscheidet. Dann geht es weiter zum Bundesverfassungsgericht und wenn es da nicht fruchtet, dann habe ich immer noch den Europäischen Gerichtshof. Ich wüsste auch nicht, warum ich aufhören sollte – ich fühle mich im moralischen Recht und die Situation für Frauen ist nicht geklärt.“

Die Presse hat Sie während des Prozesses schon als heimliche Siegerin beschrieben. Was müsste vor Gericht passieren, dass Sie sich wirklich als eine fühlen?

„Da müsste der §218 noch abgeschafft werden. Da müsste tatsächlich ein Selbstbestimmungsrecht für Frauen kommen und dann würde ich mich nicht als Siegerin fühlen, sondern ich würde denken, dass die Bewegung etwas erreicht hat. Ich glaube auch, dass das irgendwann kommen wird, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das noch erlebe.“

*Der Kompromiss um § 219a: Listen sollen Schwangere unterstützen
Kristina Hänel und andere Kritiker*innen des Paragraphen forderten mehr Transparenz, um Frauen einen einfachen Informationszugang und Abbruch zu ermöglichen. Bisher verbot der Paragraph 219a Ärzt*innen für Möglichkeiten zum Thema Schwangerschaftsabbruch zu „werben“. Am 21. Februar beschloss der Bundestag eine Ergänzung: Die Bundesärzt*innenkammer wird dazu verpflichtet, eine Liste von Einrichtungen zu führen, die Abbrüche vornehmen. Auf diesen Listen gilt das Werbeverbot für Ärzt*innen und Krankenhäuser nicht.

Anzeige