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Brief an mein Kind: „Mach dir keinen Druck“

In ihrer Kolumne schreibt Mareice Kaiser jeden Monat einen Brief an die Gesellschaft. Mal an eine Freundin, mal an Angela Merkel und mal an den Hund des Späti-Verkäufers um die Ecke. Heute: Ein Brief an ihr Kind zum Thema (Leistungs-)Druck.

Mein liebes Kind,

ich weiß nicht, woher er eigentlich kommt. Aber ich spüre ihn, Deinen Druck. Ein Klassenkamerad ist im Mathe-Heft weiter als Du? Der größte Ansporn. Eine Sportübung und Du fängst den Ball nicht beim ersten Mal? Du ärgerst Dich sehr. Du bist da nicht allein, viele Kinder in Deinem Alter machen sich diesen Druck. Vermutlich spürt Ihr jetzt schon, in der ersten Klasse, den Druck unserer Leistungsgesellschaft. Und obwohl ich versuche, Dich immer wieder darin zu bestärken, dass man nicht die Schönste, die Beste, die Schnellste, die Schlaueste sein muss: Der Druck bleibt.

„Oftmals sind es auch die ambitionierten Eltern, die ihre Kinder mit sehr hohen Erwartungen unter Druck setzen“, steht in einem Artikel zum Thema Leistungsdruck bei Kindern. Ich versuche, mich selbst zu hinterfragen. Mache ich Dir Druck? Ich hoffe nicht. Aber ausschließen, dass es unbewusst passiert, kann ich nicht. Denn ich selbst kenne den Druck. Den Druck, ein gutes Leben zu führen. Er ist größer geworden, seit ich Mutter bin. Denn seitdem bin ich nicht nur für mich selbst verantwortlich, sondern auch für Dich.

Ich wünsche Dir eine Mutter, die einigermaßen glücklich und zufrieden ist. Ein gutes Vorbild, mit Stärken und Schwächen, Ecken, Rundungen und Kanten. Das heißt nicht, dass Du alles so machen musst, wie ich es tue. Im Gegenteil. Vorbild sein heißt für mich auch, dass Du selbst entscheiden kannst: So will ich sein – und so auf keinen Fall. Ich kann Dir nur zeigen, wie für mich ein gutes Leben aussieht. Wie Deins sein soll, kannst Du selbst entscheiden. Das hoffe ich jedenfalls.

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Leider leben wir (noch?) nicht in einer Gesellschaft, in der wir uns einfach so das Leben herauspicken können, das wir gern hätten. Nicht alle haben die gleichen Möglichkeiten. Chancengerechtigkeit wird in Deutschland zwar immer öfter diskutiert, ist aber noch immer nicht politisch und kulturell umgesetzt. Also hoffe ich, dass Du Dir Dein Leben so schön machen kannst, wie es innerhalb unserer Möglichkeiten möglich ist.

Du möchtest dir diesen Brief gerne vorlesen lassen?

Viel Freude dabei.

Und vielleicht kannst Du ja auch an einer gesellschaftlichen Revolution mitarbeiten, die dafür sorgt, dass endlich alle die gleichen Chancen haben. Huch! Da ist er schon wieder, der Druck. Hat sich einfach in diesen Text geschlichen. Frech! Denn vielleicht möchtest Du was ganz anderes anfangen mit Deinem Leben. Und das ist völlig okay. Du musst gar nichts.

Vielleicht gehört der Druck einfach dazu, zum Großwerden und zum Leben. Doch wie genau entsteht er? Vielleicht durch den Vergleich mit anderen. Wenn wir uns nicht ständig mit anderen vergleichen würden, müssten wir uns keinen Druck machen. Wenn Du nicht sehen würdest, wer zwei Seiten weiter im Mathe-Heft ist oder wer die Sportübung besser macht, müsstest Du Dich selbst nicht so unter Druck setzen, einem Anspruch zu genügen. Dabei sollte Dein Anspruch einzig Du selbst sein. Und Freude.

Freude daran, ein neues Wort lesen zu können. Freude darüber, ein Rad schlagen zu können. Freude an Deiner eigenen Stimme, wenn sie singt. Freude an Deinem Körper, der Dich trägt. Freude an Deinem Mund, der so viel spricht. Freude an Deinem Herzen, das schlägt und Blut durch Deinen Körper pumpt. Freude an Deinem Humor, der mich und Dich so oft zum Lachen bringt.

Ich glaube, der Druck, den wir uns alle, Kinder und Erwachsene, viel zu oft machen, lässt uns viel zu oft nicht sehen, wie wunderbar wir sind. Einfach so. Ohne Druck. Und zwar genau so, wie wir sind. Ohne Vergleich mit anderen. Dass wir leben, dass wir lachen können – an den meisten Tagen reicht das doch.

Deine Mama

P.S.: Wenn mein Druck mal wieder zu groß wird, höre ich diesen Song: „Ich muss gar nichts“ von Cäthe, singe sehr laut und tanze dazu. Vielleicht magst Du das ja auch.

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