Foto: Nico Karge | Redaktion

Chemnitz: Nach #wirsindmehr ist doch jetzt alles gut – oder?

Am 3. September kamen mehrere Zehntausend Menschen in Chemnitz zusammen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Und um ein Konzert zu erleben. Oder war es andersherum? Und was kann so ein Abend wirklich bewirken?

 

#Wirsindmehr – Haben wir nun alles geklärt?

Auf dem Weg zur Bühne, auf der an diesem Abend die Bands und Künstler*innen, maßgeblich angestoßen von der Band Kraftklub, stehen werden, bewegen wir uns permanent in einem Strom aus Menschen, der sich von allen Seiten in die Chemnitzer Innenstadt ergießt. Wie viel es sind, lässt sich aus der Masse heraus nur schlecht einschätzen – es sind wesentlich mehr, als ich erwartet hätte – die Stadt Chemnitz wird später von 65.000 sprechen. Sie alle sind gekommen, um sich dem Rechtsextremismus, den Nazis, die die Stadt seit dem Tod von Daniel H., der auf offener Straße erstochen wurde, immer wieder für sich einnehmen, um, so sagen sie, zu trauern, entgegen zu stellen.

Eine „Trauerbekundung“, die sich in einer Jagd auf Menschen, die sie offensichtlich als Migranten oder Geflüchtete wahrnehmen, weil sie nicht weiß sind, zeigt. In Hitlergrüßen, in Parolen, in obligatorischen „Lügenpresse“- und „Merkel muss weg“-Rufen. Eine Trauer, die keine ist, sondern als Nebelkerze für eine Instrumentalisierung eines Todes herhält, einem Menschen, der als Deutscher mit kubanischen Wurzeln möglicherweise selbst von ihnen durch die Stadt gejagt worden wäre. Es ist eine gefährliche Farce, die nur für eines genutzt wird: zur Stimmungs- und Mobilmachung. Das Ziel ist keine Solidarität mit dem Opfer und seinen Angehörigen zu demontrieren, sondern der Wunsch, ein demokratisches System endlich zum Sturz zu bringen. Eine politische Fantasie, die nichts mit einem rechten Rand und mit „besorgten Bürgern“ gemein hat – es ist die Sehnsucht nach einem autoritären, monokulturellen Staat.

Es gibt in diesem Land keinen Tag, an dem die Würde des Menschen nicht angetastet wird. Bild: Stella Pfeifer

Wen und wie mobilisieren „wir“?

Aber sind gestern, am 3. September, wirklich mehrere 10.000 Menschen alleine deshalb zusammengekommen, um ein Zeichen gegen diese Sehnsucht, gegen die Gewalt und die Hetze zu setzen? Im Vorfeld wurden viele kritische Stimmen laut: Das sind doch nur Party-Demonstrant*innen! Wo seid ihr, wenn kein Konzert geboten wird? Wo seid ihr gestern gewesen, wo seid ihr morgen? Wie wichtig ist euch die Message – und wie wichtig das Line-up?

Es ist nachvollziehbare Kritik. Denn in der Regel, müssen all die mutigen Chemnitzer, all die Menschen überall in Deutschland, die antifaschistische und antirassistische Arbeit leisten, ohne mediale Aufmerksamkeit, ohne in der Tagesschau vorzukommen, ohne die Unterstützung von Zugereisten, von solidarischen Menschen aus fernerer Umgebung auskommen. Sie machen ihre Arbeit meist im Stillen – oder jedenfalls in einer Lautstärke, die nicht über die Stadt– oder Bundesgrenzen hinausreicht. Weil sie von außen einfach runtergeregelt wird. Und sie machen ihre Arbeit gestern, heute, morgen – stehen mit ein paar Hunderten auf der Straße, oder mit einer paar Tausend. Machen eine Arbeit, die für uns als gesamte Gesellschaft so wichtig, wie für sie gefährlich, aufreibend und enorm kräftezehrend ist. Machen all das, ohne lauten Applaus zu bekommen. Machen das, ohne große Budgets zur Verfügung zu haben. Und nun, mit dem Aufruf von einer Handvoll Bands und Künstler*innen, kommen sie auf einmal alle.

Dass das genauso Frust wie Freude auf den Plan ruft, kann man niemandem verdenken. Und das nicht nur bei Menschen, die täglich für eine demokratische, antifaschistische und antirassischte Gesellschaft einstehen, sondern auch von jenen, die täglich von der Hetze und der Gewalt betroffen sind – und die meist viel zu wenig (öffentliche) Solidarität erfahren. Die mit ihrer Angst viel zu oft alleine gelassen werden.

Bild: Aline Spantig | Redaktion

Wir brauchen jetzt starke Symbole – denn daraus kann Handeln entstehen

Und doch glaube ich, dass diese Art der Mobilmachung wichtig ist. Weil starke Symbole, die zunächst auf Gefühlsebene wirken, zu Unrecht marginalisiert werden – und tatsächlich gemeinschaftsbildend sein können, wo genau das benötigt wird. Oder wie es Felix Brummer, Sänger der Chemnitzer Band Kraftklub gestern sagte: „Manchmal muss man sich Freunde einladen, um zu merken, dass man nicht alleine ist.“ Und weil genau diese Emotionalisierung – im Guten wie im Schlechten – zu einer echten Politisierung und dann auch in Handlungen führen kann. Auch darf man nicht unterschätzen, welche Wirkkraft Vorbilder haben.

Selbst wenn viele Menschen alleine deshalb kamen, um „ihre“ Künstler*innen zu sehen – sie haben sie alle als politisch klar positioniert erlebt – und sie haben von ihnen den Wunsch angetragen bekommen, es ihnen gleich zu tun. Und nicht zuletzt, und das ist vielleicht der wichtigste Aspekt, war es eine nicht-elitäre politische Veranstaltung, die viel Barrierefreiheit bot. Es war eine, die Menschen allen Alters und unterschiedlichen Subkulturen zusammenbrachte – und auch Menschen erreichte, die sich nicht in Stadtsäle setzen, oder die sich vielleicht in kleineren Gruppen nicht trauen, Flagge zu zeigen. Wenn man also davon ausgehen mag, dass gestern vor allem unpolitische Menschen in Chemnitz waren, denen die politischen Entwicklungen nicht den Schlaf rauben – eine Prämisse, mit der ich persönlich vorsichtig wäre – und all das viele von ihnen doch politisiert oder wenigstens zum Nachdenken angeregt hat, sie vielleicht auch einfach mutiger gemacht oder ein wenig Hoffnung gegeben hat, dann ist eine Menge erreicht. Und immer noch zu wenig.

Jetzt zählt, was sich daraus ergibt. Denn ob wir wirklich mehr sind, das wird sich noch zeigen. Genauso, wie sich zeigen wird, wie viele sich in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren auf die Straße begeben, um für die Demokratie und für Menschlichkeit einzustehen. Und es wird sich zeigen, ob aus diesem Symbol ein Handeln entsteht – auch im Privaten. Den Versuch, das entstehen zu lassen, war es allemal wert. Ein Abend ändert nichts. Aber ein Abend kann ein Anstoß sein – danach liegt es in unser aller Verantwortung, weiterzumachen. Oder endlich anzufangen, laut zu werden und den Brei der stillen, vermeintlichen Mehrheit, zu verlassen. Denn jetzt ist keine Zeit für eine stille Mehrheit, jetzt ist es Zeit, Haltung und Solidarität zu zeigen.

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