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Das Schweigen brechen. Wenn Leid generationenübergreifend weitergegeben wird.

Julia Albrechts Kindheit wurde geprägt durch die emotionale Kälte ihrer Mutter. Als besonders schlimm erlebte Julia dies, als sie den sexuellen Missbrauch ihres Vaters der Mutter anvertraute. Sie stieß auf Ungläubigkeit und erntete Vorwürfe statt Verständnis.

Was verletzte mehr – die sexuelle Gewalt des Vaters oder die völlig empathielose Reaktion der Mutter? Kann es überhaupt eine Antwort auf diese Frage geben?

 

Wie in Julia Albrechts Fall hilft ein Blick zurück, um die verhängnisvolle Mischung aus physischer und psychischer Gewalt zu begreifen, wenn schon Verstehen schwer fällt.

Der Schlüsselbegriff lautet “Transgeneratorische Traumaübertragung”. Julias Eltern wurden durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägt, ihre Großeltern wiederum standen unter dem Einfluss des Krieges von 1914 bis 1918. Beide Generationen  haben häufig unreflektiert die erlittenen Gewalterfahrungen weiter. Traumatische Erlebnisse durch Gewalterfahrungen unterschiedlicher Art lösen einschneidende negative Änderungen in ursprünglich gesunden Verhaltensmustern aus, diese werden über Generationen an die Nachkommen weitergegeben.

Heute kümmern sich Therapeuten um körperlich und seelisch Verletzte – wenn auch noch immer viel zu selten. Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts war dies trotz wissenschaftlichen Fortschritts undenkbar. Der Umgang mit den sogenannten Kriegszitterern (Soldaten, deren Nerven dem Grauen nicht standhielten und in Folge die typischen Schüttelsymptome zeigten, wurden, wenn überhaupt, durch Elektroschocks und Eiswassergüsse “behandelt”) des Krieges von 1914 bis 1918 ist nur ein Beispiel. Aktuell blicken wir in Deutschland angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise auf zahllose Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, deren sozial auffälliges Verhalten auch durch unbehandelte Traumata herrührt. Die Flüchtlingswelle bewegt(e) traumatisierte Menschen.

Individuell erlittene Traumata haben sozial- und gesellschaftspolitische Relevanz. Häufig jahrzehntelang.

Persönlich erfahrene Schicksalsschläge haben Auswirkungen auf die Gesellschaft – und dies oft generationenübergreifend. Doch der Glaube, wer diese Kette durchbricht und den Verletzungen einen Namen gibt, erhält Dank sowie familiäre Unterstützung, ist meist trügerisch. Julia und viele andere haben das erlebt. Nicht die eigentlichen Täter werden beschuldigt, sondern die “Aufdecker”, sie gelten fortan an als schwarzes Schaf.

Der Ausbruch aus Familienloyalitäten, einem biologisch bedingten Zusammengehörigkeitsgefühl und den daraus abgeleiteten Normen, wird zum stellvertretenden Sühnegang älterer Generationen.   

Gefühlserbschaften und unbewusste Übertragungsmechanismen gehen eine verheerende Liaison ein. Die Betroffenen inszenieren die erlebten Schrecken unbewusst immer wieder neu, die Wiederholungsmechanismen nehmen dabei oft eine Eigendynamik an. Verstärkt durch subjektiv-reaktive Fehlleistungen wird der zu durchtrennende Knoten immer größer und verworrener.

Schon im Mutterleib können Stressfaktoren der Eltern beim Heranwachsenden nachgewiesen werden – Ängste sind demnach auch biologisch nachweisbar. Erst einmal geboren, nehmen schon die Jüngsten den negativen Stress der Eltern unbewusst wahr und identifizieren sich damit. Mögliche Folgen: Entwicklungsstörungen und negative Symbiosen innerhalb der Familienmitglieder. Experten sprechen von sekundärem Trauma, das nicht zuletzt in den Spiegelneuronen des Gehirns nachweisbar ist.  

“Da ist etwas schlimmes passiert, aber wir sprachen nie darüber.”

Was die oft tabuisierten Kriegserlebnisse der Großeltern waren, sind in der Nachkriegsgeneration familieninterne Gewalterfahrungen. Das Erbe der Kriegskinder und Enkel wiegt schwer.

“Damit die Nachbarn nichts erfahren” wird, was offenkundig ist, unter den Teppich gekehrt. In diesem Kommunikationsvakuum manifestieren sich Traumafolgestörungen, die mit den erlittenen Verletzungen nichts gemein haben müssen. Auch wenn zwischen erlebten und vererbten Traumata unterschieden werden muss, das zugefügte Leid vergiftet gleichermaßen.

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Über uns

Julia Albrecht heißt in Wirklichkeit anders. In diesen Artikeln berichten wir regelmäßig von ihrem Weg. Sie möchte nicht nur anderen Betroffenen helfen, wieder zu sich selbst zu finden und psychischen Erkrankungen nicht die gesamte Kontrolle über das Leben zu geben. Ausgangspunkt dabei ist die Frage, wie Digitalisierung einen Beitrag vor allem bei der (Re)Integration in den Arbeitsmarkt leisten kann.

Diese Artikel sollen Mut machen und aufklären. Sie stehen am Beginn eines Netzwerks, aus dem heraus Angehörige, Kollegen und Vorgesetzte gemeinsam mit den Betroffenen Antworten auf Fragen der Integration erhalten. Damit psychisch Erkrankte ihr kreatives Potential und das Recht auf ein erfülltes Leben verwirklichen können.

Das Projekt soll darüber hinaus Diskussionen und Veränderungen im Gesundheits- sowie Arbeitssystem anstoßen. Julia haben sie im Stich gelassen.

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