Foto: Chia ying Yang | Flickr | CC BY 2.0

Mama, ich liebe dich auch noch, wenn ich erwachsen bin

Dieser Tag musste kommen: Meine Mama und ich haben scheinbar unüberwindbare Differenzen und schuld daran sind ausgerechnet unsere Gefühle füreinander. Sie fühlt sich allein gelassen, weil ihre Tochter ihr eigenes Leben führt.

 

Raus aus dem Nest

Es ist der Klassiker: Die Eltern leben 400 Kilometer entfernt in einem idyllischen kleinen Ort, der sich Heimat nennt. Irgendwann nach der Schule zog es mich in die große, weite Welt. Der Abnabelungsprozess damals verlief relativ schmerzfrei, was meiner Meinung nach hauptsächlich daran lag, dass meine Eltern noch auf ein „Ersatzkind” zurückgreifen konnten, meine 15 Jahre jüngere Schwester.

Mit meinem Weggang von zu Hause kam sie wunderbar zurecht. Sie konnte das Kind in der Großstadt besuchen, ihm beim Einrichten der ersten eigenen Wohnung helfen. Sie wurde gebraucht, auch auf die Distanz. Fast täglich klingelte das Telefon, die Tochter war dran und wollte von Mama wissen, wie man einen Käsekuchen backt, wie Oma früher Sauerampfer angepflanzt hat, welcher Staubsauger bei Tests am besten abgeschnitten hat und wie man den Kühlschrank richtig abtaut. Mama war Ansprechpartnerin Nummer eins bei Haushaltsfragen, Liebeskummer, Urlaubsplanung und persönlichen Belangen in Sachen beruflicher Weiterentwicklung. Sie war das Vorbild, dem man auf Grund des  unanfechtbaren Talents, Familie und Job unter einen Hut zu kriegen, Superhelden-Kräfte zugesprochen hatte.

Mama, der Fels in der Brandung

Viele Entscheidungen in meinem Leben beruhen ausschließlich auf der Art und Weise meiner Erziehung und dem, was meine Mutter mir vorgelebt hat. Ich habe sie stets als unglaublich starke Frau erlebt, die es alles andere als leicht hatte in ihrem Leben, privat wie beruflich, damals wie heute. Das machte sie für mich zu einer Lichtgestalt, die später gefälligst stolz auf mich sein sollte. Das hat geklappt. Ich wollte alles erreichen, was auch sie erreicht hatte und ihr zeigen, wie glücklich ich, dank ihr, sein konnte und durfte. Mein Mann, meine Tochter und mein Chef können bestätigen: auch das hat geklappt.

Ich bin erwachsen geworden, habe dazugelernt und meine Fragestunden an Mama daher immer weiter zurückgeschraubt. Gerade deshalb haben sie und ich aber nun ein Problem: es harmoniert nicht mehr so recht. Frau Mutter wirkt ein wenig angespannt und unzufrieden. Die täglichen Telefonate werden von meiner Seite oftmals durch kurze WhatsApp-Nachrichten ersetzt. Und sprechen wir dann doch miteinander, ist ihr Ton schon fast ein wenig vorwurfsvoll. Ich würde mich nicht mehr für meine Familie interessieren, weil ich nicht mehr alle drei Wochen gen Heimat fahre, sondern nur noch alle sechs Wochen. Ich würde meinen Eltern die Enkeltochter vorenthalten, wenn ich nie zu Besuch komme, wenngleich meine Eltern uns sehr wohl mehrmals im Jahr besuchen und sie zudem beinahe täglich mit meiner Kleinen facetimen. 

Verständnis für das Selbstverständliche

Die Wahrnehmung scheint verschoben, ich komme ungerechtfertigter Weise in Erklärungsnot. Schon wollte ich mich darüber aufregen, dass dieses Verhalten die Lust auf noch mehr Familie als meine eigene kleine nicht gerade schüre, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen:

Meine Eltern haben Sehnsucht. Vor allem meine Mutter hat Sehnsucht – nach der großen weiten Welt, in die sie mich entlassen hat, damit ich das Leben führen kann, das sie sich immer für mich gewünscht hat. Der Abnabelungsprozess war für sie damals wohl schmerzhafter als gedacht. Recht erholt davon, dass ihre Älteste das Haus verlassen hat, hat sie sich scheinbar nie. Jahrelang hat sie sich damit getröstet, dass sie ja noch das „Ersatzkind” hat, doch das macht nun seinen Schulabschluss, unternimmt viel mit Freunden, ist selbst kaum noch zu Hause. Die Kinder sind weg, Mama wird nicht mehr gebraucht. Wie konnte ich übersehen, dass es das ist, was unsere Beziehung in letzter Zeit so strapaziert hat? Gerade ich, die bereits Trennungsschmerz empfindet, wenn sie das Baby abends ins Bett bringt, hätte darauf kommen können, dass es Verlustängste sind, unter denen Frau Mutter so sehr leidet. 

Mama, wir verlassen dich nicht, wir werden nur erwachsen

Aber Mama, du verlierst uns nicht! Wir lieben dich und bleiben deine Mädchen – über Jahrzehnte hinweg. Wir verbringen wahnsinnig gern Zeit mit dir, lachen mit dir und schätzen deinen Rat. Du bist unser ausgelagertes Gehirn und gleichzeitig unsere beste Freundin. Du bist Familienratgeber und Genealogie, Berufsberatung und Therapeutin für uns. Und wenn ich dich mal nicht zu Rate ziehe, dann deshalb, weil ich tue, was du uns beigebracht hast: selbstständig Entscheidungen treffen. Das heißt nicht, dass wir mit dir immer einer Meinung sein müssen – doch wir könnten, und darin besteht der Reichtum unserer Beziehung.

Wir machen Fehler und lernen aus denen des Anderen. Und selbst wenn wir streiten, versöhnen wir uns schnell wieder, indem wir uns vor Augen führen, dass sich die Geschichte wiederholt – nur eine Generation später. Du kennst das Spiel und seine Regeln bereits, du hattest eine Mutter, die uns allen nicht ganz unähnlich war. Drum sei dir gewiss: Das, was wir haben, das endet nicht, nur weil wir Kinder erwachsen werden. Erinnere mich bitte in einigen Jahren an meine Worte, wenn ich dich anrufe, weil meine Tochter beschlossen hat, nach der Schule in die große weite Welt zu ziehen.

Diesen Text veröffentlichte Nina zuerst auf ihrem Blog. Wir freuen uns, dass er auch hier erscheint.

Titelbild: Chia ying Yang | Flickr | CC BY 2.0

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