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Wie nehmen Betroffene die Debatte um sexualisierte Gewalt wahr? Wir haben ihnen zugehört

Was folgt auf #metoo? Das Bewusstsein für die Allgegenwärtigkeit sexualisierter Gewalt kann nur der Anfang sein. Was wünschen sich Betroffene, wie empfinden sie die öffentliche Diskussion? Wir haben mit ihnen gesprochen.

 

Danke für eure Wut

Am 17. Oktober riefen wir auf Facebook, Instagram und Twitter dazu auf, von  Erlebnissen mit Belästigung und sexualisierter Gewalt zu berichten und vor allem zu erzählen, ob und wie es das Erleben des Alltags danach veränderte. Wir fragen: „Wie haben diese Erlebnisse euch und eure Leben geprägt?“ Denn nur wenn wir den Menschen zuhören, die Erfahrungen mit sexualisierte Gewalt, Missbrauch, Belästigung sammeln mussten, können wir anfangen zu verstehen. Was wünschen sich die Frauen, die sich bei uns gemeldet haben? Was spüren sie, wenn sie die öffentliche Diskussion beobachten? Und was muss sich verändern, damit sexualisierte Übergriffe weniger werden? Vielen Dank an all die Menschen, die sich bei uns gemeldet haben. Wir haben viel Offenheit erlebt, aber auch Scham und Trauer. Und in fast jeder Nachricht – Wut. 

Und wie könnte man nicht wütend werden, wenn man sich anschaut, wie die Erlebnisse der Betroffenen immer wieder kleingeredet werden, wie immer wieder Männer ihnen raten, man solle rückblickend einfach über die Erlebnisse lachen? Wie oft Menschen versuchen, mit Whataboutism den Fokus von struktureller Gewalt gegen Frauen auf alle möglichen anderen Probleme zu zerstreuen? Wie selbst Frauen sich nicht solidarisch zeigen, sondern in das Victim-Blaming mit einstimmen? 

Es reicht. Und es ist gut, wütend zu sein. Denn Wut schafft Wandel. Deshalb nochmal ein Dank an all die Wütenden, die sich bei uns gemeldet haben, an all diejenigen, die ihre Meinungen in Sozialen Netzwerken kundtun, an all die nicht leise sind, wenn sie erleben, wie die Diskussion um #metoo verwässert. Denn ihr sprecht für die, die noch lang nicht darüber sprechen können, was ihnen passiert ist.

Die Menschen hinter dem Hashtag

Es gibt nicht „die typische Betroffene“, allein die statistisch erhobenen Zahlen zu Belästigung und sexualisierter Gewalt machen klar, dass sehr unterschiedliche Menschen betroffen sind. Denn laut der repräsentativen Studie des Bundesfrauenministeriums „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ aus dem Jahr 2013, haben 58 Prozent der Befragten bereits unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung erlebt und 40 Prozent der befragten Frauen zudem körperliche oder sexualisierte Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr.

Die Berichte, die uns erreichen sind daher facettenreich, das Ausmaß der Gewalt variiert, die Reaktionen der Frauen unterscheiden sich. Manche haben die Täter vor Gericht gebracht. Manche berichten von Therapien, Angstzuständen, Situationen, die sie inzwischen bewusst vermeiden. Natalie schreibt uns: „‚Sicher‘ definiert sich für mich leider mittlerweile darüber, ob Männer im Raum sind und wenn ja wie viele. Ich hasse es, so zu denken, mich aus Prinzip bedroht zu fühlen und immer in einer Art Abwehrhaltung zu sein. Aber nie wieder will ich mich als Opfer fühlen oder wegschauen, wenn mir oder anderen Unrecht passiert.“

„Nie wieder will ich mich als Opfer fühlen oder wegschauen, wenn mir oder anderen Unrecht passiert.“

Alexandra berichtet uns: „Bereits als Kind im Alter von etwa vier Jahren habe ich sexuellen Missbrauch erlebt. Um zu überleben, habe ich die Erinnerung lange Zeit komplett verdrängt. Erst als erwachsene Frau wurde mir so richtig klar, dass irgendetwas nicht stimmt, aber ich wusste einfach nicht was. Mein Sexualleben war sehr, sehr schwierig. Ich gab mir unbewusst die alleinige Schuld daran, ständig hatte ich dieses ‚Du hast ein Problem‘ im Hinterkopf. Meinen sexuellen Missbrauch habe ich erst nach der Geburt meines Kindes in über 4 Jahren Körpertherapie aufgearbeitet. Inzwischen lebe ich eine sehr freie, genussvolle Sexualität mit meinem zweiten Mann. Woran ich aber immer noch arbeite und worüber ich – mit 46 Jahren – immer noch nicht hinweg bin, ist die Ignoranz, das Schweigen und das Desinteresse, das meine Ursprungs-Familie bis heute zeigt.“

„Um zu überleben, habe ich die Erinnerung lange Zeit komplett verdrängt.“

„Die Übergriffe die ich erleben musste haben mein komplettes Leben verändert“, schreibt uns Elisa. „ Auch wenn es die härteste und erdrückendste Zeit meines Lebens war, kann ich heute, fast drei Jahre später sagen, dass sie mich zu einer noch aufmerksameren und nachdenklicheren Frau gemacht haben. Ich finde es unerträglich wie unsere Gesellschaft mit Frauen umgeht, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Dass ständig das Verhalten des Opfers im Mittelpunkt steht und man sich quälende Fragen anhören muss: ,Warum hast du dich nicht gewehrt?‘ – verdammt nochmal, nein! Keine Frau ist an Übergriffen Schuld! Schuld hat immer derjenige der eine Frau erst in so eine Situation gebracht hat! Es macht mich wütend wenn Frauen, die Opfer sexueller Belästigung geworden sind, sich anhören müssen ,Na ja, er hat dich ja nicht vergewaltigt‘ – Was soll das? Kein Mann hat das Recht unsere Körper ungefragt anzufassen!“

„Ich finde es unerträglich wie unsere Gesellschaft mit Frauen umgeht, die sexualisierte Gewalt erfahren haben.“

Die Frage nach einem verfälschten Schuldempfinden beschäftigt viele der Frauen, die sich bei uns melden. Und obwohl sich alle einig sind, dass die Schuld bei den Menschen, die die Gewalt ausübten zu finden ist, erzählen viele davon, wie aus aus Scham schwiegen und ihre Erlebnisse für sich behielten: 

„Anvertraut habe ich mich meiner Familie, aber die hat mir nicht geglaubt. Also habe ich irgendwie noch die Ausbildung beendet und danach sofort gekündigt.“

„Jeder hat darüber Bescheid gewusst, geredet wurde viel, den Mut etwas zu sagen, hatte keiner.“

„Ich hatte bisher nie den Mut tatsächlich lautstark etwas zu unternehmen, kleinere Versuche sind schnell ins Leere gelaufen, weil es von denen, mit denen ich gesprochen habe, entweder ins Lächerliche gezogen wurde oder weil es die Befürchtung gab, dass man sich selbst oder seinen Job in Schwierigkeiten bringt.“

„Wir sind nicht schuld. Wir sind nicht diejenigen, die eine Grenze überschritten haben. Aber wir müssen mit den Konsequenzen leben.“, schreibt eine anonyme Nutzerin. 

„Jeder hat darüber Bescheid gewusst, geredet wurde viel, den Mut etwas zu sagen, hatte keiner.“

Wie schlimm die Folgen sein können, wenn man den Worten der Betroffenen kein Gehör schenkt, erzählt Sylvie: „Manchmal weiß ich auch tatsächlich nicht, ob ich nicht zu empfindlich reagiere und kann nicht einschätzen, ob Übergriffe einfach dazugehören …“ Denn das passiert in unserer Gesellschaft. Wer den Opfern nicht glaubt, macht sich zum Mitschuldigen. Gaslighting, bei welchem die Eigenwahrnehmung einer Person durch die Aussagen anderer so stark gestört wird, dass sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen, passiert mit jedem: „Stell dich nicht so an“. Sylvie selbst berichtet: „Ich bin als Kind Opfer von sexuellem Missbrauch geworden. Das hat nichts mit meinen beruflichen Erfahrungen und dem übergriffigen Verhalten diverser männlicher Kollegen zu tun. Aber was trotzdem gleich ist – die Angst, den Mund aufzumachen, die Angst vor Konsequenzen, die Angst, dass einem erst gar nicht geglaubt wird.“

„Was bei allen Übergriffen gleich ist – die Angst, den Mund aufzumachen, die Angst vor Konsequenzen, die Angst, dass einem erst gar nicht geglaubt wird.“

Mehrere Frauen berichten von Mobbing und Kündigungen, als sie versuchten, sich gegen die Übergriffe zu wehren: 

„Nachdem ich mich bei meinem Vorgesetzten über den Übergriff beschwert hatte, begann ein übles Mobbing. Ich wurde aus dem Team ausgeschlossen und isoliert, meine Vorgesetzten haben mich angeschrieen und mich unter Druck gesetzt. Das ging bis zu einer völligen Überwachung meines Rechners und Telefons. Ich bekam keine Aufgaben mehr und konnte nicht mehr am Rechner arbeiten, meine Kollegen und Kolleginnen mieden mich. Dies hat zu einem psychischen Zusammenbruch geführt, den ich in einer Klinik kurieren musste.“

Madeleine berichtet von einem Job, den sie mit 20 annahm: „Der Marktleiter fasste alle Frauen an, am liebsten an den Hintern. Ich ließ mir das nicht gefallen und sagte ihm, dass er meinen Körper nicht anzufassen hätte. Einen Tag später bekam ich eine fristlose Kündigung. Da die Probezeit noch lief und ich kein Interesse hatte, in einer solchen Firma zu arbeiten, habe ich die Kündigung akzeptiert und nichts unternommen, auch weil ich sicher war, dass es zu nichts führen würde.“

„Ich habe nichts unternommen, weil ich sicher war, dass es zu nichts führen würde.“

Man fragt sich, wie einige Menschen immer noch der Meinung sein könnten, Betroffene seien Schuld an den Übergriffen, weil sie sich nicht ausreichend zur Wehr gesetzt hätten. Abgesehen von der Absurdität einer Aussage, die Schuld nicht beim Täter sucht, zeigt sich in vielen Geschichten auch die Blauäugigkeit dieser Kritiker. Wie man sieht, stoßen gerade in hierarchischen Machtkonstruktionen Gegenwehr und Anzeigen allzu oft auf taube Ohren. 

Glücklicher Weise gibt es auch Fälle, die anders verlaufen. Madeleine wurde in Anwesenheit ihres Freundes und einer Freundin nachts von Betrunkenen bedroht und begrapscht. Obwohl es viele Zeugen gab, war das Verfahren langwierig. Sie erzählt: „Eine Anzeige der Staatsanwaltschaft führte ganze drei Jahre später zu einer Verhandlung, in der der Haupttäter zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde. Der gegnerische Anwalt hat sich des Spruches bedient, dass eine Frau in einem kurzem Rock selber schuld sei, wenn ihr so etwas passieren würde. Das fühlte sich richtig mies an. Glücklicherweise hat der Richter damals sofort erklärt, dass der Verteidiger sich den Kommentar sparen könne und es ganz und gar nicht die Schuld einer Frau sei, wenn sie angegangen würde.“

„Der gegnerische Anwalt sagte, dass eine Frau in einem kurzem Rock selber schuld sei, wenn ihr so etwas passieren würde.“

Die Frage nach all diesen Berichten: Was bleibt nach #metoo? Wie schaffe wir es, einander so zu sensibilisieren, dass wir das nächste Mal, wenn wir miterleben, wie jemand belästigt wird, auf- und für einander einstehen? Wie entsteht eine konstruktive Debatte, an der sich Männer und Frauen gleichermaßen beteiligen? Und wie halten wir das Bewusstsein für diese täglichen Übergriffe auch in Zukunft hoch?

Auf diese Frage finden sich bisher wenig konkrete Antworten. Janne erzählt: „Ich kenne vermutlich keine einzige weibliche Person, auf die #metoo nicht zutrifft. Und nicht allein diese Tatsache macht mich unendlich traurig, sondern auch die Reaktionen. Als wäre das ein Schock. Ich bin nicht schockiert, nicht einmal überrascht.“ 

Eine anonyme Nutzerin ist besonders wütend darüber, dass das Thema erst durch die Enthüllungen in der glitzernden Hollywood-Welt um Harvey Weinstein Beachtung fand: „Weinstein interessiert die Allgemeinheit, weil er prominent ist und seine Opfer auch. Für all die unbekannten Hinz-und-Kunz-Manager und ihre Opfer interessiert sich niemand. Solange der Frauenanteil besonders auch in Führungspositionen nicht wächst, wird sich daran wohl nichts ändern.“

„Für all die unbekannten Hinz-und-Kunz-Manager und ihre Opfer interessiert sich niemand.“

„Was mich so fassungslos zurücklässt, ist die Akzeptanz von Alltagssexismus in unserer Gesellschaft. Auch durch Frauen“, berichtet Stephanie. Sie selbst versucht vor allem in ihrem privaten Wirkungskreis gegen sexistische Strukturen anzugehen: „Ich versuche meinem Sohn zu einem emphatischen jungen Mann zu erziehen, der Grenzen erkennt, sie akzeptiert und respektiert.“ Wir brauchen Männer, wenn wir sexualisierter Gewalt ein Ende bereiten wollen. Männer, die zuhören, Kritik annehmen und Altherrenwitze in ihren Freundeskreisen versuchen zu unterbinden. Männer, die erkennen, dass sie der Grund sind, warum Frauen nachts die Straßenseite wechseln, wenn sie ihnen entgegenkommen.

In der Debatte um Weinstein und #metoo geht es schon lange um mehr, als die Betrachtung eines Einzelfalls. Es wird Zeit, dass wir beginnen die strukturelle Ähnlichkeiten festzustellen und nach praktischen Lösungen zu suchen. Wir brauchen den Wandel im kleinen, um einen Strukturwandel im großen möglich zu machen. Es muss Schutzräume am Arbeitsplatz geben, Ansprechpartner und -partnerinnen. Mehr Transparenz in Einstellungsprozesse. Männer, die ein Nein akzeptieren. Und vor allem brauchen endlich eine Kultur des Vertrauens, in der Betroffene sich offen und laut gegen Übergriffe wehren können.

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