Foto: Andrej Lazarev

Diagnose Zwangsstörung – wie sich mein Alltag damit anfühlt

Wie sieht das Leben mit einer Zwangsstörung aus? Unsere Community-Autorin hat seit ihrer Kindheit eine und erzählt, wie sich ihr Alltag dadurch verändert.

 

Das Leben mit einer Angststörung 

03:34 Uhr in Stuttgart. Ich schnelle hoch, Augen auf, es ist dunkel. Die Luft in meinem Zimmer ist kalt. Das ist er, der Moment, in dem alles gut ist, noch ist die Unbeschwertheit nicht verschwunden. In wenigen Sekunden aber wird mich die Realität auf den Boden der Tatsachen zurückholen, dorthin, wo meine Geister wohnen. Sie wüten durch meinen Kopf, fressen wichtige Dinge und wechseln ständig ihre Form. Ich habe versucht ihnen Namen zu geben, aber es sind zu viele und sie kommen und gehen wie der Wind.

Ich war zehn Jahre alt, als ich das erste Mal diese magische Welt betreten habe. Ich fühlte mich plötzlich gezwungen, bestimmte Dinge zu tun. Neun Minuten Zähne putzen, Bewegungen wiederholen: „Deine Nachbarin wird sterben, wenn du das nicht tust”. Gedanken wie dieser fraßen mich auf. Sie gaben mir Macht, aber auch eine enorme Schuld, sollte ich die Handlungen nicht durchführen.
Schon damals war mir bewusst, wie verrückt diese Logik ist, der Widerspruch einer unlogischen Logik, eine Gefühlslogik. Es fühlte sich so an, als ob meine Nachbarin sterben würde, würde ich nicht neun Minuten Zähne putzen. Dabei war mir bewusst, dass das nicht stimmen konnte. Trotzdem war da diese Angst, mein Herzschlag beschleunigte sich und
mir wurde schlecht. Und die körperliche Reaktion ließ mich zweifeln. „Wenn dein Körper so reagiert, dann muss was dran sein”, sagte mein krankes Hirn. 

Die Diagnose Zwangsstörung

Eine Zwangsstörung bezeichnet wiederkehrende Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen und gehört in die Kategorie der „Angststörungen”. Zwangsgedanken sind Ideen, Bilder oder Vorstellungen, die oft Themen wie Krankheitserreger, Tod, Religion oder aggressive Handlungen beinhalten. Betroffene haben Angst anderen oder sich selbst zu schaden und grübeln exzessiv, bis sie an der Realität zweifeln.

Zwangshandlungen sind Kontrollhandlungen, Waschzwänge, Ordnungszwänge,
Zählzwänge und Sammelzwänge. Die Erkrankten sind sich der Unsinnigkeit ihres Verhaltens bewusst, können aber nur sehr schwer damit aufhören. Dies unterscheidet ihre Symptomatik von der Schizophrenie oder Psychose. Zwangserkrankte schauen sich dabei zu, wie sie „verrückt“ werden, können aber kaum etwas dagegen tun. Das führt zu einer großen persönlichen Belastung, die gegebenenfalls in eine Depression führen kann.

Ab wann ist ein Verhalten krank?

Abgedrehte Gedanken hat jeder mal, sie tauchen plötzlich in unpassenden Situationen auf – und verfliegen ebenso schnell. Menschen mit Zwangserkrankungen bleiben an solchen Gedanken hängen. Dem Hirn fällt es schwer zu differenzieren, was nur ein Hirngespinst ist und welcher Gedanke den eigenen Werten und Meinungen entspricht. Also fangen sie an mit Logik gegen Hirngespinste anzukämpfen. Ich versuche dagegen zu
argumentieren oder zu neutralisieren. „Ich würde niemals jemandem etwas antun“, ist eine häufige Reaktion auf das genannte Beispiel. Doch sobald auf den Gedanken eingegangen wird, wird dem Gehirn signalisiert, dass das Hirngespinst ernst zu nehmen ist. Daraufhin merkt sich das Hirn, „Aha, wichtig“, und sendet immer mehr Gedanken, die in einer endlosen Spirale resultieren. 

„Wolltest du schon mal jemandem etwas antun?
Nein?
Ich auch nicht. Aber ich denke ständig darüber nach, wie sehr ich es nicht will.”

Je mehr gegen den Gedanken gekämpft wird, desto aufdringlicher wird er, desto wahrer erscheint er den Patient*innen. Das gleiche Prinzip gilt bei Zwangshandlungen: Je öfter auf einen Impuls reagiert wird, desto öfter wird dieser Impuls gesendet.
Dann reicht es Betroffenen oft nicht mehr einmal den Herd zu kontrollieren, sondern die Handlung wird wiederholt oder Mitmenschen wird aufgetragen, die Kontrolle zu übernehmen. Die eigene Wahrnehmung wird angezweifelt, denn war der Herd wirklich aus? Oder sollte man lieber ein Foto machen? 

100 Prozent Sicherheit gibt es nicht

Ich bin selbst bekennende Teilnehmerin an Diskussionen mit meinen Zwängen, obwohl ich weiß, dass das Teilnehmen der Fehler an sich ist. Erkrankten wie mir geht es darum sicherzustellen, dass der Gedanke nicht stimmen kann, da er so fern von unseren Werten und Willen ist. Die Zwangsstörung verlangt eine hundertprozentige Sicherheit, die es nie gibt. Und deswegen ist es nicht sinnvoll, mit seinem Zwang eine Diskussion einzugehen. Ich habe noch nie gewonnen, da der Kampf gegen den Zwang, der Kampf gegen sich selbst ist. Und schlauer sein als man selbst ist nicht möglich. Aber einen Zwangsgedanken zu ignorieren, ist genauso schwierig, wie einen juckenden Mückenstich zu ignorieren. Es macht einen verrückt, also wird gekratzt, auch wenn nur kurzfristig eine Besserung eintritt. In ihrer Situation fühlen sich Betroffene oft isoliert. 

Auch ich kenne bis jetzt keinen anderen Menschen, der an einer Zwangsstörung leidet, beziehungsweise von dem ich es weiß. Aber dies wird sich jetzt ändern, denn heute ist ein besonderer Tag, ein Moment auf den ich lange gewartet habe. 

Raus aus der Isolation 

Ich treffe mich mit Tobi*, er leidet ebenfalls an einer Zwangsstörung. Ich verspüre Freude, endlich einen Menschen zu treffen, der diesen Teil von mir verstehen wird, mehr als jede*r Therapeut*in oder Mitmensch es jemals könnte.
Als ich in mein Auto steige, überprüfe ich die Uhrzeit auf meinem Handy und lege es in meine Handtasche, nur um es danach panisch zu suchen und die Uhrzeit erneut zu kontrollieren. Nicht dass ich mich getäuscht habe. Habe ich nicht. Ich schaue nervös auf mein Navi, typische Symptomatik. Ich bin nicht auffallend ordentlich oder pünktlich, aber das hier, das ist wichtig, deswegen ist mein Zwang jetzt auch anwesend. 

Auf dem Weg überfahre ich einen Pappkarton. „Was wenn da eine Person lag?Hast du jemanden gesehen?“, spuken die Geister in meinem Kopf. Ich schaue in den Rückspiegel um sicherzugehen – scheiße, schon wieder am Diskutieren mit dem Zwang, nicht darauf eingehen, einfach weiterfahren! Ich drehe die Musik laut und beginne halbherzig mitzusingen. Ablenkung, Angst ignorieren und einfach vergessen – das ist meine Lösung für diese Krankheit, zumindest kurzfristig. 

Tobis Geschichte 

Ich treffe Tobi vor einem gut besuchten Restaurant in der Innenstadt. Das Wetter ist zu gut für die Jahreszeit und ich viel zu warm angezogen. Tobi trägt Jeansshorts und ein verwaschenes T-Shirt, ein unauffälliger sportlicher Typ Anfang 30. Nach einer flüchtigen Umarmung geht Tobi voraus zu unserem Sitzplatz am Wasser, dabei quietschen seine Turnschuhe auf dem Kiesboden. Er wirkt fröhlich, aber nicht unbeschwert. Mit einem alkoholfreien Bier und Kaffee bestückt dreht er sich eine Zigarette ohne Filter, die hat er heute vergessen.
War da wirklich kein Mensch auf der Straße? Mir fällt kein guter Anfang für unser Gespräch ein. Ein „Hey, ich bin genauso krank wie du“, scheint mir zu makaber. Ich muss mich daran erinnern, dass wir trotz gleicher Diagnose Fremde sind und ich kein Anrecht auf privaten Informationen habe. 

Tobi erzählt, dass die ersten Symptome bei ihm mit 16, kurz vor seinem Schulabschluss aufgetreten sind. Er sei sehr fokussiert darauf gewesen, gut zu sein, sagt er. Plötzlich tauchte in seinem Kopf der Satz auf: „Was bringt dir das Ganze?“ Ein Gedanke, der ab sofort alle ihm wichtigen Tätigkeiten in Frage stellen sollte. „Der Gedanke lief permanent nebenher und hat mein Selbstwertgefühl stark angegriffen. Ich habe alles angezweifelt.“ Die Verunsicherung sorgte dafür, dass er sich schnell in einer depressiven Episode wiederfand. Trotzdem dauerte es sehr lange, bis er zum Psychologen ging. Leider treffe eine psychische Krankheit auf weniger Verständnis als ein gebrochenes Bein, erzählt er. Sich zu „outen“ sei deswegen schwerer als ohnehin schon. 

Für eine Zwangsstörung gibt es viele Ursachen 

Traumatische Erfahrungen, Sensibilität oder ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn können zu einer Erkrankung führen. Männer und Frauen sind hier gleich oft betroffen und bei Auftritt erster Symptome meistens zwischen 20 und 26 Jahren alt.
Während ich nie einen Grund für meine Erkrankung gefunden habe, liegt für Tobi der Ursprung der Krankheit in seiner Kindheit. In Therapiegesprächen erarbeitet er sich, dass das Verhalten seines Vaters mit dem Ausbruch seiner Krankheit im Zusammenhang steht. „Es gab viele Fehler väterlicherseits, die mein Selbstbewusstsein beeinträchtigt haben. Dies führte bei mir zu einer starken unterbewussten Verunsicherung.“ Trotzdem verurteile er seinen Vater nicht, denn der wollte das ja auch nicht auslösen, fügt er hinzu. 

Ich sehe das Bild von der Hinfahrt im Rückspiegel vor mir, und bilde mir ein, dass links im Eck ein dunkler Schatten war, vielleicht aber auch Blut eines toten Menschen. Dabei war da kein Mensch auf der Straße! Es verlangt meine ganze Willenskraft mich jetzt wieder auf Tobis Geschichte zu konzentrieren. 

Im Moment befindet er sich in seiner zweiten Therapie bei einem Verhaltenstherapeuten. „Die Gespräche helfen mir am meisten”, sagt Tobi. Trotzdem nimmt er zusätzlich Medikamente, um seine Krankheit im Zaum zu halten. „Die bringen aber lediglich eine zwanzigprozentige Besserung.“ Was war im Rückspiegel denn zu sehen, ein Toter?
Dass er Psychopharmaka nimmt, damit geht er offen um. Viele haben damit trotzdem Probleme: „Die denken das sind Ruhigsteller oder Drogen.“ Selbst seine Schwester, die Ärztin ist, hat Schwierigkeiten nachzuvollziehen, dass Medikamente für Tobi ein wichtiger Bestandteil der Behandlung sind.
Vor zwei Jahren war er für drei Monate in einer Tagesklinik. Dort bestand das Programm aus drei Gruppentherapien und drei Einzelgesprächen in der Woche. Zusätzlich gab es Kunst-, Reit- oder Sporttherapie. Aus den dort geschlossenen Freundschaften schöpft er bis heute Kraft. „Wir treffen uns weiterhin fast wöchentlich. Dabei stehen aber nicht unsere Krankheiten im Vordergrund, sondern wir verbringen einfach gemeinsam Zeit. Das sind Freunde fürs Leben.“ 

„Die Zwänge nehmen immer dann überhand, wenn in meinem Leben Konflikte auftreten.“ 

Sobald menschlich oder beruflich Probleme aufkommen, drängen sich bei Tobi Zwangsgedanken auf, die von den realen Konflikten ablenken und noch viel größere Probleme simulieren. Dadurch wird die Konfrontation mit realen Problemen verhindert. Diese „Fehlfunktion“ des Gehirns sorgt jedoch nicht wirklich für eine angenehmere Situation, sondern lässt Betroffene die Zwänge trotzdem als starke Belastung wahrnehmen.
In dem was Tobi erzählt, erkenne ich mich sofort wieder. Wenn ich im Zwang verfangen bin, weiß ich oft nicht mehr, was ich gegessen oder gesagt habe, da mein Kopf so von einem Gedanken konsumiert ist, dass alles andere als irrelevant erscheint. Dann esse ich entweder nichts mehr oder unglaublich viel, rauche und habe das Bedürfnis mir zu schaden, um mich wieder zu spüren. 

Bist du dir sicher, dass da nichts zu sehen war als du zurückgeschaut hast? Mein Hirn spielt mir blutige Bilder vor und mein Herzschlag wird schneller. Immer auf das Positive konzentrieren, konzentriere dich auf das Gespräch! 

Meine Zwangsstörung hat mich sensibler gemacht  

Auf meine Frage, ob ihm die Krankheit auch Positives beigebracht hat, antwortet er mit einem bestimmten „Sicherlich. Ich bin viel sensibler geworden und verurteile weniger. Man muss sich für Menschen einsetzen, denen es nicht gut geht. Deswegen bin ich auch jetzt viel sozialer ausgerichtet, wenn es um Politik geht.“ 

Auch ich bin mir sicher, dass jede Erfahrung Positives mit sich bringt. Durch die Zwangserkrankung habe ich ein Bewusstsein für anderes Leiden entwickelt und bin sehr aufmerksam. Ob diese Sensibilität sich erst durch meine Erfahrungen weiterentwickelt hat, oder schon immer ein Teil von mir war, weiß ich nicht. Obwohl ich diese Störung niemanden wünschen würde, verdanke ich ihr vieles. Kreativität und Krankheit hängen bei mir eng zusammen, sie spornen sich gegenseitig an. Wenn ich leide, werde ich produktiv. Es ist als würde ich durch Kunst alles ausschwemmen, was in mir vorgeht. Tobi und ich verabschieden uns nach zwei Stunden Gespräch. Die Zeit ist schnell vergangen. Das von ihm beschriebene Verhalten ist eine Art Spiegel, durch den ich mit mehr Abstand auf die Krankheit schauen konnte.
Mein Fazit: Es stimmt, geteiltes Leid ist halbes Leid. Und ich schaue auf der Heimfahrt nicht mehr in den Rückspiegel.

*Name von der Redaktion geändert

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