Foto: Ursula Meissner

Ursula Meissner: „Wenn man noch nie Angst im Krieg hatte, weiß man nicht, was Krieg ist“

Ein 9-to-5-Job im Büro wäre für Kriegs- und Krisenfotografin Ursula Meissner nichts. Ihr Arbeitsplatz: Die Fronten in Somalia, Libyen oder auch Afghanistan. Schutz und Mut findet sie in ihrer Kamera – Angst hat sie trotzdem manchmal.

 

Für die ungefilterte Wahrheit 

Wir wissen nur das über den Krieg, was wir im TV sehen, im Internet oder in der Zeitung lesen. Wir sehen nur das, was uns zu sehen gegeben wird. Die Kriegs- und Krisenfotografin Ursula Meissner hingegen kennt die ungefilterte Wahrheit. Seit rund 30 Jahren ist die 53-Jährige mit ihrer Kamera in Ländern wie Somalia, Afghanistan, Lybien oder Syrien unterwegs. Schüsse, Kidnapping, der Verlust ihrer Kollegin Anja Niedringhaus 2014 – all das hielt sie nicht davon ab, weiterzumachen. Es gäbe diese Momente, erzählt sie uns im Interview, die so stark sind, dass man immer wieder hin will, um darüber zu berichten. Wir haben uns mit ihr über ihren Mut unterhalten, ihre Grenzen und darüber, warum sie in manchen Situationen keine Heldin sein kann. 

Liebe Frau Meissner, nach Ihrem ersten Reise nach Afghanistan haben Sie sich geschworen, nie mehr in Kriegs- oder Krisengebiet zu gehen. Seitdem waren Sie bereits 24 Mal in Afghanistan. Was hat Ihre Meinung damals geändert? 

„Als ich das erste Mal 1986 im Kriegsgebiet in Afghanistan war und die Bomben fielen, war ich blutjung. Glücklicherweise haben wir alle überlebt, keiner war verletzt und wir sind langsam schlammgebadet in nächste Dorf gegangen, das nicht bombardiert wurde. Die einzige Frage, die in einem Kopf herumschwirrte, war: Was tue ich eigentlich hier? Das mache ich nie wieder. 

Und dann begegnet man im nächsten Moment wieder Menschen und Kindern, die nicht mehr weinen können und nur noch apathisch vor dir sitzen, weil sie einfach keine Kraft mehr haben. Oder man sieht Menschen, die im Kosovo barfuß über verschneite Berge stapfen oder in Sarajevo Menschen wie Sie und ich, die ganz plötzlich große Armut erfahren, weil es ihnen an Essen fehlt, an Heizmaterial oder auch Wasser. Diese Menschen sind einfach so stark, dass ich nicht anders kann, als wieder hinzugehen und darüber zu berichten.“ 

Ein Porträt einer Frau in Äthiopien. 

Haben Sie denn keine Angst?

„Natürlich habe ich Angst, wenn ich in Situationen gerate, die ich vorher nicht einordnen kann, und das ist auch gut so. Ohne Angst würde man nicht lange leben. Ich versuche immer, nicht zu lange an einem Ort zu bleiben, denn je länger man dort lebt, desto mehr verlieren Sie die Angst, werden damit schneller verletzt oder sterben im schlimmsten Fall auch bei Ihrem Einsatz. Erfahrenen Kriegsfotografen wurde schon zugesichert, dass die Front frei ist, und dann wurden sie in einem Hinterhalt erschossen. Das hätte mir auch schon passieren können. Manchmal braucht man einfach ganz viel Glück. Und ich hatte schon unglaublich viel davon.“ 

Was war denn der gefährlichste Moment, den Sie bisher erlebt haben?

„Es gibt so viele gefährliche Momente. 2001 wurde ich gekidnappt und da stand wirklich auf der Kippe, ob die Kidnapper mich jetzt vergewaltigen und umbringen oder gehen lassen. Das Geräusch des Türriegels der Hütte, in der ich saß, als dieser hochging, werde ich wohl nie vergessen. Ich dachte, mir würde das Gleiche passieren, was zuvor einer französischen Kollegin passiert war. Sie wurde nackt und tot am Straßenrand aufgefunden.“ 

Nach ihrem Kidnapping schaffte Ursula Meissner es sogar noch, ein Foto mit ihren Entführern zu machen. 

Wie konnten Sie in dieser Situation die Ruhe bewahren? 

„Mein großer Vorteil ist, dass ich ruhiger werde, desto heikler die Situation wird. Aber innerlich bin ich vor Angst gestorben. Dadurch, dass ich groß bin und auch nicht devot oder verschleiert, keine Angst gezeigt und sie direkt angeschaut habe, waren die Afghanen schon mal irritiert. Also habe ich ihnen klar gemacht: Wenn ihr mich hier umbringt, habt ihr Pech, denn ich habe kein Geld bei mir. Also sind wir – zum Glück! – ins nächste Dorf gefahren. Das Ganze war schon ein Trauma. Ich konnte lange nicht darüber reden, habe darüber geschrieben und auch in meinem Buch festgehalten. Heute habe ich das verarbeitet, aber das hat sehr lange gedauert.“ 

Überlegt man in solchen Situationen, was man tut oder handelt man einfach intuitiv?

„Die Situationen verlaufen so unglaublich schnell, dass man meistens intuitiv handeln muss. Wenn um mich herum immer mehr Molotow-Cocktails fliegen oder der Mann von der DPA neben mir durch einen Schuss seine Fingerkuppe verliert, bin ich keine Heldin. Lohnt es sich nicht mehr, ziehe ich mich von der Front zurück und versuche, mich zu retten.“

Die Situationen zeigen, dass Sie oft auf sich alleine gestellt sind. Heißt das, Sie fliegen ohne Unterstützung in ein Krisen- oder Kriegsgebiet?

„Im Idealfall fliege ich mit einem Redakteur, der dann die passenden Texte zu meinen Fotos schreibt. So war es beispielsweise auch, als ich mal für die GEO nach Syrien gegangen bin. Das passiert aber tatsächlich nur im besten Fall. Zu Zeiten des Krieges in Libyen konnte ich niemanden finden, der mit mir kommen wollte. Daher bin ich immer froh, wenn ich jemanden vor Ort finde, der die Texte übernimmt.“ 

Gehen Sie nur mit Auftrag in Kriegs- oder Krisengebiet oder ist es auch möglich, die Fotos erst im Nachhinein zu verkaufen?

„Zeitungen zahlen heute nicht mehr und dadurch ist das deutlich schwieriger geworden. Wie früher, mir drei Zeitungen zusammenzusuchen und dann auch ein Budget für meine Mitarbeiter zu haben, ist heute leider nicht mehr möglich. Kriegsberichterstattung ist nun mal auch nicht billig, weil es dort meistens keine Infrastruktur gibt, man daher ein Auto anmieten muss, idealer Weise auch ein gepanzertes Auto, man muss den Springer bezahlen … Heute arbeite ich nicht mehr ohne Auftrag – der kommt meistens von einem Magazin.“ 

Was macht denn für Sie ein gutes Bild aus?

„Ein Bild ist dann gut, wenn man länger als drei Sekunden darauf schaut, berührt ist und sich daran erinnert. Ein grausames Bild, das man nicht anschauen kann und einfach weiter blättert, berührt nicht und bleibt dann auch nicht in Erinnerung.“ 

Gehen Sie vor Ort offen damit um, dass Sie Fotografin sind?

„Vor Ort ist schon klar, dass man als Fotografin ist für eine bestimmte Geschichte unterwegs ist, die man vorher auch erklären muss. Vor allem, wenn man mit Freiheitskämpfern oder Soldaten unterwegs ist. Sonst kriegt man gar nicht erst die Chance mitzugehen. Meistens muss man viel mehr Informationen preisgeben, als man eigentlich möchte.“ 

Verteilung von Lebensmitteln in einem Flüchtlingslager. Der Gewehrkolben blieb dabei ständig im Vordergrund, da sonst die Verteilung nicht möglich war.

Haben Sie einen persönlichen Trick, wie Sie das Erlebte vor Ort am besten verarbeiten können?

„Über das, was vor Ort passiert, kann man nur mit jemandem reden, der auch vor Ort war. Wenn man noch nie Liebeskummer hatte, weiß man nicht, was Liebeskummer ist. Und genauso: Wenn man noch nie Angst im Krieg hatte, weiß man nicht, was Krieg ist. Man kann so viel darüber hören und lesen, aber man hat es noch nie gefühlt. Daher würde ich am ehesten mit meinen Kollegen und Kolleginnen darüber sprechen, aber das Meiste muss ich mit mir selbst ausmachen. Denn, je älter ich werde, desto länger brauche ich. Viele Situationen kennt man schon, manche sind aber wieder neu oder noch viel grausamer.“ 

Dürre, Krieg und Hunger auf einen Blick. Sudan – 2008.

Hat sich Ihr Verhältnis zum Tod mit der Zeit verändert?

„Früher war ich zwölfmal im Jahr unterwegs, heute sind es sechs- bis achtmal. Es ist weniger geworden, weil ich zum einem besser vorbereitet sein muss, zum anderen brauche ich mit zunehmenden Alter auch einfach länger, um mich von der Reise zu erholen. Als ich angefangen habe, war ich blutjung. Da habe ich mir keine Gedanken über den Tod gemacht. Heute weiß ich, dass das Leben ganz schnell vorbei sein kann, dass ich jeden Moment… Aber das kann man auch, wenn man über die Straße geht oder einen Autounfall hat.“

Was ist das Erste, was Sie machen, wenn Sie nach Hause kommen?

„Erst duschen, wenn ich nicht vorher schon bei einem Zwischenstopp die Chance hatte, dann je nach Tageszeit die Fotos verschicken und dann ein gutes Glas Rotwein trinken.“ (lacht) 

Und, wie lange wollen Sie das noch machen? 

„Ich mache das so lange, wie ich gesundheitlich kann – und ich hoffe, das ist noch sehr lange. Regelmäßiger Sport hilft mir, körperlich fit zu bleiben und auch im schlimmsten Fall vor Ort rennen zu können. Ich kann mittlerweile auch nicht mehr nur in Kriegsgebiete gehen, das hält man nicht aus. Zwischendrin muss ich auch mal etwas anderes machen und ein Besuch eines Krisengebiets gehört nicht dazu. Um mich mal zu erholen und auch den Blick für das Kriegsfeld nicht zu verlieren, mache ich Porträtaufnahmen für Homepages oder für Firmen in Deutschland oder Europa. Wenn man Krieg zu häufig sieht, gewöhnt man sich daran und wird vielleicht auch zu leichtsinnig.“ 

Jugoslawien: Der Cellist Vedran spielt in den Ruinen für alle Gefallenen und seinen gefallenen Bruder „Yesterday“ von den Beatles.

Gazastreifen: Zwei Kinder machen die Fotografin nach. 
Irak – Bagdad im Jahr 2004: Ein Junge spielt mit dem Soldaten. Quelle aller Bilder: Ursula Meissner

Du willst noch mehr über ihren Alltag als Kriegs- und Krisenfotografin erfahren? Ursula Meissner hat bereits ein Buch darüber geschrieben: Mit Kamera und kugelsicherer Weste: Der ungewöhnliche Alltag einer KriegsfotografinDie Fortsetzung erscheint voraussichtlich im Herbst 2017.


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