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Wie es sich anfühlt, nicht Mutter zu sein

Wie selbstverständlich geht die Gesellschaft davon aus, dass jede Frau, die kinderlos lebt, das so gewollt hat. Das tut den Frauen, die keine Kinder bekommen konnten, unheimlich weh.

Wenn ein Wunsch zerplatzt

Weiße, leere Wände starren sie an. Sie glotzt zurück. Oder hindurch. Wahrnehmen tut sie sie nicht. Die Gefühle hat sie vor drei Wochen abgestellt. Sonst wäre sie durchgedreht. Der Blick aus dem Fenster geht direkt zum Friedhof. „Wie passend. Ich könnt mich gleich in die Holzkiste legen“, morbide Gedanken zucken. Eine Regung, immerhin. Stunden vergehen. Sie wurde eilig ins Krankenhaus beordert. Weil die Operation auf einmal dringend war. Und jetzt dämmert sie seit Stunden vor sich hin. In diesem sterilen Zimmer, in diesem sterilen Bett, in diesem sterilen Nachthemd. Und blickt auf den Friedhof unter ihr.

Wie anders war ihr Leben noch wenige Wochen zuvor. Da war dieses wärmende Gefühl in ihr drin. Einem kleinen Menschen den Weg auf die Welt zu bereiten. Ihr grösster Wunsch sollte sich erfüllen. Just zu dem Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr daran glaubte. Sie fühlte sich von der ersten Minute an schwanger. Irgendetwas haben die Hormone mit ihr gemacht. Weicher, weiblicher, wohliger. Auf einmal begann sie, ihren Körper zu lieben. Einen Körper, an dem sie sonst immer etwas zu meckern hatte. Auf einmal war er das wertvolle Haus für ein kleines Wesen. Der Schutz, in dem es wachsen und gedeihen konnte. Die gemeinsame Freude verbindet sie noch inniger, sie und ihren Herzmenschen. Kribbeliges Pläneschmieden. Staunendes durch die Gassen Schweben. Sie, die immer dachte, komplett geerdet und ziemlich pragmatisch zu sein. Bewegte sich auf einmal einen Meter über dem Boden. Natürlich gab es tausend Fragen, die noch nicht beantwortet waren. Doch die zu lösen wäre ein Leichtes.

Sie ist jetzt ein Fall

Von der Sonne wachgeküsst tänzelt sie in der Küche. Aus dem Tänzeln wird ein Gehen. Aus dem Gehen ein Stolpern. Elektrisiert und alarmiert fährt ihre Hand zum Bauch. Weibliche Intuition? Irgendetwas stimmt da nicht. Keine äußeren Anzeichen. Aber viel inneres Wissen. Die Nummer ihrer Ärztin kennt sie auswendig.

„Ja, hallo. Ich glaube, es gibt ein Problem mit meinem Baby.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ich kann es nicht sagen. Das Gefühl ist einfach da.“

„Beruhigen Sie sich. Es ist verständlich dass Sie unsicher sind. Kommen Sie heute Nachmittag kurz vorbei.“

Der Morgen wird zu Kaugummi, der an den Fersen klebt. Die Welt verwandelt sich auf einmal in eine Scheibe. Ein Schritt zu weit und sie fällt ins Bodenlose. Die Finger klammern nach Sicherheit. Und ans Lenkrad. Der Fuss zittert auf dem Gaspedal. Sie fährt Staccato. Ihr Herz auch. Hat sich dieser Weg schon immer angefühlt, wie eine Weltumrundung? Freundliches Anstrahlen schiebt sie mit der Bitte, noch einen Moment Platz zu nehmen, ins Wartezimmer. Fahrige Finger blättern durch Magazine mit Abnehmtipps. „Kommen Sie rein.“ Schon immer hatte sie eine leise Abneigung gegen diese Gynäkologiestühle. Heute ist die Abneigung ein allumfassender Zustand, der sie fast taub macht. Das Herz hämmert in ihrem Trommelfell. Das Gel auf ihrem Bauch verursacht Gänsehaut. Pokerface … Und laute Stille im Raum. „Ja, Sie haben recht. Das Ei hat sich im Eileiter eingenistet. Keine Chance für das Baby.“ Eine eiskalte Hand reisst ihre Brust auf und das Herz raus. Ein vulkankratergroßes Loch. Sturzbäche rinnen aus den Augen. „Ich überweise Sie in die Frauenklinik. Damit man das weitere Vorgehen besprechen kann.“

Sie ist jetzt also ein Fall und ein Vorgehen. Der erste Besuch in der Frauenklinik ist ein Schlag ins Gesicht.

„Wir können den Verdacht Ihrer Ärztin nicht mit Sicherheit bestätigen. Die Eileiterschwangerschaft ist für uns nicht sichtbar. Der Hormonspiegel in Ihrem Blut ist hoch. So hoch, wie er bei einer Schwangeren zu diesem Zeitpunkt sein sollte.“

„Was heisst das?“

„Sie müssen jeden zweiten Tag vorbeikommen. Zum Ultraschall und für die Blutentnahme.“

Drei Wochen lang Unsicherheit

Die folgenden Wochen sind eine Tortour. Sie ist sich einiges gewöhnt. Hart im nehmen. Eine Kämpferin. Doch im Augenblick hämmert nur die eine Frage durch ihren Kopf: „Warum ich? Warum ist es bei mir einfach wieder anders, als bei allen anderen?“ Der Gang in die Klinik fühlt sich jedes mal an, wie der Gang vors Schafott. Jeder Tag ein kleiner Tod. Jeden Tag die gleiche Antwort: „Die Hormone steigen weiter an. Wir sehen aber die befruchtete Eizelle nicht.“ Über drei Wochen verteilt. In Portionen, die sie nie zur Ruhe kommen lassen. Und dann dieser Anruf. „Sie müssen sofort in die Klinik kommen. Wir wollen Sie noch heute operieren.“

Die Frage nach dem Warum bleibt ihr im Hals stecken. „Ok, ja“, krächzt sie in den Hörer. Flugs packt sie die wichtigsten Sachen zusammen. Eine Nacht soll sie bleiben. Dann darf sie wieder heim. Und jetzt, jetzt liegt sie also da. In diesem Krankenzimmer. Starrt die weissen Wände an und spürt den Tod, der unten auf dem Friedhof liegt. Nach Stunden zehenspitzelt eine Schwester herein. Es ist fast Mitternacht. „Wir haben jetzt Zeit für Sie.“ Schiebt das Bett in den OP. Die Narkose wirkt schnell. Sandstaubtrockene Kehle und ein in Watte gepackter Kopf. Das Gesicht einer OP-Schwester schiebt sich vor ihre Augen.

„Geht es Ihnen gut? Sind Sie gut aufgewacht? Es ist alles wunderbar verlaufen. Wir haben einen Teil des Eileiters entfernt.“

„Wie? Da war doch die Rede, dass es ohne Entfernen geht? Man hat mir versprochen, dass der Eileiter erhalten bleibt?“

Zu viel. Die Schultern beben, die Narbe schmerzt. Das Herz auch.

„Ich hole Ihnen was zu trinken.“

Ja gerne, einen dreifachen Whiskey mit ganz viel „Nicht mehr Aufwachen“ drin. Es fühlt sich an, als hätte sich das Leben auf einen Schlag von ihr verabschiedet. Beide Beine in die Hände, davongerannt. So schnell es kann. Die Ärztin betritt den Aufwachraum.

„Was ist denn mit Ihnen los?“

„Warum ist der Eileiter weg?“, stammelt sie. „

Nichts ist weg. Wir haben so operiert, wie wir das besprochen haben.“

Immerhin. Immerhin ist sie noch ganz. Zumindest körperlich. Ihr Herz bekommt langsam aber sicher Hornhaut. So viele Narben hat das Leben schon hinterlassen. Und diese hier, die geht tief. Wunschloslassen. Darin darf sie sich einmal mehr üben.

Kinderlos in einer Welt voller Selbstverständlichkeit

Nach Hause. Sie darf heim. Die Tage sind leer und kalt. Seelenlos. Sie auch. Arbeit hilft immer. Sie schreibt sich die Finger wund. Gut, dass Aufträge da sind. Gut, dass sie arbeiten kann, ohne sich zu zeigen. Daheim. Im Pyjama. Mit wachsfarbenem Gesicht und dunklen Schatten unter den Augen. Wochen gehen vorbei. Das Leben zieht vorüber. Sie geht mit. Ohne dabei zu sein.

„Ach, Sie haben keine Kinder? Da wissen Sie ja gar nicht was Sie verpassen.“

Solche Sätze hört sie oft. Ein Messer, das einem in den Bauch gerammt wird, fühlt sie gleich mit. Auch Jahre danach noch. Meistens nimmt sie den Schmerz einfach so hin. Manchmal jedoch, da platzt ihr der Kragen. „

Wissen Sie eigentlich, dass nicht jede Frau ohne Kinder diese Entscheidung bewusst getroffen hat? Wie anmaßend von Ihnen, so zu urteilen und verurteilen.“

Verwunderung. Peinlich berührt und gestammelt. So reagiert das Gegenüber. Wie soll die Mutter wissen, wie es sich anfühlt, nicht Mutter zu sein. In einem Leben, in dem man alles für selbstverständlich nimmt.

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