Foto: Timothy Krause | Flickr | CC BY 2.0

Nur eine Frau, die keinen Schlaf braucht, kann auf dieser Welt bestehen

Wie handhaben Paare ihren unterschiedlichen Schlafbedarf? Nathalie Weidenfeld beschreibt in ihrer Kolumne ein Experiment mit der „Steinzeit-Regel“.

Aber die Abendnachrichten!

Ein Mann und eine Frau gehen schlafen. Es ist 22 Uhr. Sie legen sich ins Bett, schlafen ein und wachen am nächsten Morgen wieder auf. Sie sind ausgeschlafen und gut gelaunt.

Es könnte so einfach sein.

Ist es aber nicht. Die Frau hat mehrere Kinder geboren. Sie ist berufstätig. Und sie hat einen Mann, der abends gerne spät noch die Nachrichten ansehen will. Wann sie zuletzt ausgeschlafen hat, weiß sie nicht mehr.

Die Frau: „Ich bin müde. Es ist nach 22 Uhr. Bitte lass uns ins Bett gehen.“

Der Mann: „Nur Kinder gehen um 22 Uhr ins Bett. Erwachsene unterhalten sich und sehen dann die Abendnachrichten im Fernsehen an.“

Die Frau: „Wir müssen die Abendnachrichten nicht ansehen.“

Der Mann: Doch müssen wir. Es ist schließlich unsere Pflicht als Bürger, über die politisch-wirtschaftlich-kulturelle Lage des Landes Bescheid zu wissen.“

Die Frau: „ Die politisch-wirtschaftlich-kulturelle Lage des Landes ist mir egal. Ich weiß nur, dass ich verrückt werde, wenn ich weiterhin so wenig Schlaf bekomme!“

Der Mann: „Wusstest du, dass die Menschen in der Steinzeit nur vier Stunden am Stück geschlafen haben? Dann wachten sie auf, jagten Mammuts“

Die Frau: „Ich weiß nur, dass eine finnische Untersuchung ergeben hat, dass man bei regelmäßigem Schlafmangel erstens Halluzinationen bekommen und zweitens im Schnitt zwei Jahre weniger lebt.“

Der Mann seufzt und macht den Fernseher an. Auf dem Bildschirm flimmern Bilder eines Überschwemmungsgebiets in Südamerika. Die Frau, die bei dem Mann geblieben ist, sieht einige Zeit auf schlammbepackte Straßen in Brasilien. Irgendwann ist es wieder Mitternacht. So wie immer.

Der Mann und die Frau gehen in ihr Schlafzimmer. Die Frau ist so müde, dass sie statt Zahncreme Anti-Faltengel auf ihre Zahnbürste schmiert und sich ihr Schienbein am Bettpfosten anhaut. Dann fällt sie ins Bett. Nach vier Stunden Schlaf wacht sie auf. Sie ist keine Frau mehr, die seit Jahren an Schlafentzug leidet, sie ist eine Steinzeitfrau. Eine Steinzeitfrau, die jetzt ein Mammut jagen wird.

Sie steht auf. Öffnet das Fenster.

„Komm“, sagt sie, „cier Stunden sind vorüber. Wir müssen aufstehen!“

„Mach das Fenster zu,“ sagt der Mann, „es ist kalt.“

Doch die Frau hört nicht auf ihn.

„Hol deinen Speer“, sagt sie, „Wir gehen auf die Jagd.“

Der Mann sieht die Frau an. „Wir gehen nicht jagen“, sagt er, „ich gehe morgens in den Verlag und du ins Büro.“

„Das wird sich ab jetzt alles ändern“, sagt die Frau.

„Bitte“, sagt der Mann, „wir müssen jetzt dringend schlafen.“

„Niemand muss hier schlafen!“, schreit die Frau, die verstanden hat, dass nur eine Frau, die keinen Schlaf mehr braucht, auf dieser Welt bestehen kann. Dann stößt sie einen lauten Schrei von sich, nicht unähnlich dem eines heulenden Wolfes. Was soll schon zwei Jahre weniger Lebenszeit? Hauptsache, man lebt das Leben in seiner ganzen Fülle. So wie damals die Menschen in der Steinzeit! Kein Wunder dass die politisch-wirtschaftlich kulturelle Lage des Landes so desaströs ist. Wenn wir alle vier Stunden am Stück schlafen und wieder aufwachen würden, um jagen zu gehen, wäre  alles anders.

„Bitte“, sagt der Mann, „komm ins Bett“

„Nein“, sagt die Frau.

Dann klettert sie aus dem Fenster. Von rechts erscheint ein Mammut.

„Bitte“, sagt der Mann noch einmal. „Ich verspreche, wir schauen morgen keine Abendnachrichten an.“

Die Frau hält inne. Sieht ihn an. Und geht ins Bett zurück. Nach kurzer Zeit schläft sie. Tief und fest. Bis um 5. 45 Uhr morgens, wo sie mit den Nachrichten aus Radio geweckt wird.

„Was ist das?“, fragt die Frau, die vor Müdigkeit ihrer Augenlider nicht heben kann.

„Die Morgennachrichten“ sagt der Mann. „Anstatt den Abendnachrichten, ist doch eine gute Idee, findest du nicht?“

Die Wassermassen in Brasilien sind seit gestern weiter angestiegen. Menschen retten sich auf Schlauchboote. Der Ausgang ist ungewiss.

Es ist zum Heulen.


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