Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Natalie Grams
Mythos natürliche Geburt?
Vorneweg: Ich halte den Beruf der Hebamme für unglaublich wichtig und kostbar und habe meine drei Kinder mit Hebammen (in der Klinik) bekommen. Und genau deswegen möchte ich von einer Sorge erzählen, die ich mir um diesen Berufsstand mache. In einer so verletzlichen und oft schwierigen Lebensphase wie der rund um Schwangerschaft, Geburt und Kleinkindzeit haben Hebammen eine wichtige Funktion: Sie stützen und leiten, beraten und beeinflussen uns als neugeborene Mütter, unsere Babys und oft auch die ganze (neue) Familie. Das ist wichtig und gut. Und doch sehe ich hier in manchen Fällen eine Gefahr.
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sind natürliche, oft anstrengende und manchmal richtiggehend existentielle Zustände, aber im Allgemeinen sind wir dabei nicht krank. Wir brauchen kompetente Unterstützung, haben viele Fragen und fühlen uns manchmal überfordert. Wunderbar, wenn hier eine vertraute und erfahrene Hebamme guten Rat geben und Beistand leisten kann. Sobald es um größere Beschwerden, um Krankheiten, geht, dürfen viele Medikamente nicht oder nur eingeschränkt angewendet werden, doch vielerlei Symptome und Nöte treten aber gerade in diesen Zeiten auf und erfordern therapeutische Maßnahmen, auch durch Hebammen. Erscheint es da nicht doppelt wünschenswert, „sanfte Methoden“ wie die Homöopathie, Anthroposophie, ein paar Bachblüten und Schüßler-Salze als vielversprechende Alternative zur harten „Schulmedizin“ zur Hand zu haben? Und wie ist das nun mit dem Impfen, schadet es den Winzlingen wirklich nicht zu Beginn ihres Lebens?
Nicht mehr als ein Placebo-Effekt
Zunächst mal ganz krass und kurz und knapp: In der Geburtshilfe gibt es keinerlei Studien, die eine mögliche Wirkung von Homöopathie und ähnlichem überhaupt untersuchen. Die Aussage, Globuli und Tröpfchen seien hier wirksam, wie auf vielen Webseiten von Hebammen oder Geburtshäusern zu finden, ist also höchst problematisch. Mehr als ein Placebo-Effekt ist hier nicht zu erwarten und das Eintreten des Placebo-Effekts hat nichts mit einer spezifischen Heilung der Grunderkrankung zu tun. Er kann unter Umständen objektive Verschlechterungen sogar kaschieren. Wie kann es da sein, dass Homöopathie von einigen Hebammen immer noch als sanfte Therapie bei „drohendem Abort”, „vorzeitigen Wehen“, „Blutungen in der Schwangerschaft”, „Brustentzündungen” im Wochenbett oder auch nur bei „fieberhaften Infekten” bei Neugeborenen oder Säuglingen empfohlen wird?
Wenn ich mich daran zurückerinnere, wie mich meine Hebamme mit Globuli unter der Geburt regelrecht genötigt hat („Das öffnet den Muttermund, komm schluck!“), dann finde ich das schwer übergriffig, zumal ich vorher meinen Zweifel an der Wirkung deutlich gemacht hatte. Vor „richtigen“ Medikamenten hat sie mir – und ich fürchte, das ist kein Einzelfall – dagegen regelrecht Angst eingejagt und mir vor allem das Gefühl vermittelt, ich sei keine „echte“ Frau und eine gute Mutter bestimmt auch nicht, wenn ich es nicht auf die richtig harte Tour und ohne Hilfe bei der Geburt schaffe.
Schmerzmittel muss man sich „verdienen“?
Meine Geburten waren sehr unterschiedlich, ich habe sie aber bei aller Anstrengung als sehr beglückend erlebt. Aber eine Sache wurde mir von verschiedenen Hebammen bei jeder Geburt immer wieder klargemacht: Wer sich dabei helfen lässt (von der „Schulmedizin“, Ärzt*innen oder gar einer Klinik), ist eine Mimi. Zu einer Freundin sagte eine Hebamme gar, als sie nach einem Schmerzmittel verlangte: „Das müssen Sie sich erstmal verdienen.“ Und ich fürchte, auch der Wunsch nach einer PDA wird immer noch nicht als selbstverständliches Recht auf eine selbstbestimmte Geburt gesehen, sondern als Schwächezeugnis. In allen Schwangerschaften hatte ich viele Komplikationen und nicht alle davon hätte ich haben und aushalten müssen, hätte ich richtige Hilfe in Anspruch genommen. In der Stillzeit später dann die Brustentzündungen, die sich wie wirklich heftige Ganzkörpererkrankungen anfühlen können, und die Weisung meiner Nachsorgehebamme: Bloß kein Entzündungshemmer, bloß kein Antibiotikum, das sei unnatürlich.
Und so quälte ich mich und meine Kinder durch blutig-eitriges Stillen, extreme Schmerzen mit 40 Grad Fieber – dabei nach Retterspitz und Quark duftend. Ich musste dreimal deswegen früher abstillen, als ich es mir gewünscht hatte; „natürlich“ war ich auch dadurch keine gute Mutter. Die Blicke meiner Hebamme verfolgen mich bis heute und hinterlassen ein schlechtes Gewissen. Doch heute denke ich manchmal: Moment, unter dem Label „Natürlichkeit“ wird hier eigentlich eine ideologische Übergriffigkeit und Verweigerung von wirklicher Selbstbestimmung positiv umetikettiert. Ich weiß natürlich, dass dies nicht alle Hebammen betrifft, möchte aber aufmerksam machen auf den Trugschluss der vermeintlich sanften Alternative, die Verklärung des Mythos „Natürlichkeit“.
Glorifizierung von „altem Wissen“
Seit einigen Jahren kümmere ich mich um Aufklärung im Bereich Alternativmedizin und habe gerade im Gebiet der Geburtshilfe mit vielen Frauen (und ihren Partner*innen) gesprochen, die diese Sorge mit mir teilen; es geht mir hier also nicht etwa um die Ausbreitung meines privaten Dilemmas. Die Problematik geht aus meiner Sicht viel weiter und ich möchte fragen: Sehen wir da wirklich genau genug hin, was dieses „die Frau hat unter der Geburt natürlich zu leiden“-Ursünden-Eva-Ding mit uns macht, das von manchen Hebammen geradezu kultiviert wird? Ich wundere mich , dass so viele emanzipierte Frauen, darunter viele erklärte Feministinnen, Hebammen darin unterstützen. Eine zunehmende Akademisierung wird oft heftig kritisiert, „altes Wissen“ dagegen glorifiziert. Warum? Klar ist jede Geburt natürlich, aber natürlich geht sie nicht immer gut. Die Müttersterblichkeitsrate ist erst aufgrund der verbesserten medizinischen Versorgung seit Beginn des 20. Jahrhunderts (also neuen Wissens).
Und seit dem Beginn der Aufklärung ist auch die Kindersterblichkeit rapide zurückgegangen. Weltweit überleben also mehr Mütter und ihre Kinder als je zuvor Schwangerschaft und Geburt. Nach neuen Schätzungen des UN-Kinderhilfswerks UNICEF und der Weltgesundheitsorganisation sind die Zahlen zu Kinder- und Müttersterblichkeit auf einem neuen Tiefststand: „Seit (dem Jahr) 2000 sind die Todesfälle von Kindern fast um die Hälfte zurückgegangen und die Todesfälle von Müttern um mehr als ein Drittel, hauptsächlich durch den verbesserten Zugang zu bezahlbarer und guter Gesundheitsversorgung“, heißt es in dem Bericht. Doch es geht mir dabei nicht nur um die harten Zahlen der Sterblichkeit, auch das Gefühl spielt eine große Rolle. Warum ist es unter den Hebammen, die noch sehr stark der „Kräuterfrauen“-Ideologie anhängen, geradezu verpönt, Frauen nicht mit Humbug und antikem „Wissen“ zu traktieren, sondern mit aktuellem Wissen zu helfen, menschlich Beistand zu leisten und gut mit Ärzt*innen und Kliniken zusammenarbeiten, wenn Komplikationen eintreten – und so eine wirklich sanfte Geburt zu ermöglichen?
Globuli statt Impfen?
Was mich darüber hinaus wütend macht, ist die zunehmend populäre Impfgegner*innenschaft unter Hebammen. Rund 20 Prozent von 549 befragten Hebammen stimmten der Aussage zu: „Homöopathische Behandlung kann Impfungen überflüssig machen.” Ein Viertel der Befragten lehnte eine Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln für Kinder ab. Nur 18 Prozent war selbst gegen Keuchhusten geimpft, und weniger als die Hälfte gegen Diphtherie. An so wichtiger Stelle gegen das Impfen zu sein, kann Menschenleben kosten – gerade bei den wiederansteigenden Masernzahlen! Hier wird Impfhalbwissen gestreut („Pro und Contra“, haha) und die Grundlage geschaffen für Impfangst in den entscheidenden Jahren des Kindes, das Impfschutz noch nicht für sich selbst wählen kann. Warum schreien wir da nicht alle auf?
Also: Reboot the System! Denn obwohl diese Problematik längst nicht alle Hebammen oder Geburtshäuser betrifft und sicherlich auch viel Schlimmes bei Krankenhausgeburten und durch Ärzt*innen verursacht wird, so halte ich sie bisher dennoch für unterschätzt. Gerade in Sachen Homöopathie ist es an der Zeit, den Trugschluss einer sanften, nebenwirkungsfreien oder gar hoch wirksamen Methode gemeinsam aufzuheben und den Blick wieder freizumachen für eine tatsächlich gute und ehrliche, gerne auch pflanzliche Behandlung von Mutter und Kind, die ohne Humbug und Wunderglaube auskommt. In der besonderen Rolle und Verantwortung des Hebammenberufes ist es ja durchaus denkbar, mit der einen oder anderen Gabe von Globuli als Placebo Not und Verzweiflung zu lindern. Jedoch in Einzelfällen und im Bewusstsein, dass dies keine Alternative zu wirksamer Medizin ist und somit auch einer tatsächlich medizinisch sinnvollen Intervention nicht im Wege steht (Stichwort Impfungen). Und, ganz wichtig, bitte keine Panik vor richtiger Medizin, Hilfe und ärztlichem Support, wenn nötig oder gewünscht. Klar gibt es auch fürchterliche Ärztinnen und Ärzte, und eine PDA oder gar ein (unnötiger) Kaiserschnitt sind kein Ersatz für ein gute Betreuung – Natürlichkeits-Mythen, Globuli und Impfablehnung sind es aber auch nicht.
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).