Die jüngsten Morde an zwei Frauen in Berlin und an der Leichtathletin Rebecca Cheptegei schockieren. Wo aber ist der kollektive Aufschrei angesichts der ständig wachsenden Zahl von Femiziden? Eine Suche von Linda Rachel Erni.
„Das Schlimmste, was der Bär mir antun kann, ist, mich umzubringen.“ Vor wenigen Monaten entfachte auf TikTok eine Diskussion über die Frage, ob Frauen lieber mit einem Bären oder einem Mann alleine im Wald wären. Und – Spoiler Alert – die Umfrage fiel ganz klar für den Bären aus.
Was im realen Leben, außerhalb der TikTok-Theorie, mit tödlichen Verletzungen enden könnte, hält die diskutierenden Frauen nicht davon ab, eine Begegnung mit einem bis zu einer halben Tonne schweren Fleischfresser jener mit einem Mann vorzuziehen. Wieso? Die Antworten sind so simpel wie erschreckend: Man würde sie – die Frauen – nicht nach der Kleidung fragen, der Bär würde sie vor dem Mord nicht vergewaltigen, die Polizei würde einer Überlebenden glauben.
In Deutschland erfährt jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben physische und/oder sexualisierte Gewalt; etwa jede vierte Frau erfährt mindestens einmal körperliche oder sexualisierte Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner (Quelle: BMFSFJ). Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 155 Frauen von Gewalttaten mit tödlichem Ausgang durch ihre Partner oder früheren Partner; bis heute sind 2024 allein in Berlin bereits 28 Frauen von Männern getötet worden. Im Abstand von wenigen Tagen wurde in Berlin eine 28-Jährige und eine 36-jährige Mutter von vier Kindern von einem Mann, beziehungsweise Ex-Partner getötet. Am 5. September starb die ugandische Leichtathletin Rebecca Cheptegei an den Folgen eines auf sie verübten Brandanschlags durch ihren Ex-Mann. Die Liste könnte ewig so weitergehen. Sie sollte jedoch ausreichen, um die Notlage, in der sich Frauen – und damit unsere Gesellschaft – befinden, zu unterstreichen.
„Beziehungstaten“ sind Femizide!
Die Spiegel-Autorin Tara-Louise Wittwer reduziert die Suppe aus Relativierung und Opferdiffamierung in ihrer aktuellen Kolumne auf ihre Essenz: „Beziehungstaten“ sind Femizide. Punkt. Mord aus Hass auf Frauen. Und das ist es, was wir gebetsmühlenartig wiederholen müssen. Femizide sind die extremste Form geschlechtsbezogener Gewalt im Kontext patriarchaler Gesellschaftsstrukturen. Wir müssen lernen, in diesem Kontext die richtigen Worte zu nutzen, um die Dringlichkeit des (politischen) Handelns nicht zu verwässern. In einem Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung findet man diesen Satz: „Sprache ist nicht nur irgendein Instrument der Politik, sondern überhaupt erst die Bedingung ihrer Möglichkeit.“
Ein Blick nach Frankreich zeigt auf, dass Transparenz im Zusammenhang mit von Männern ausgehender (sexualisierter) Gewalt eine Gesellschaft mobilisieren kann: Die heute 72-jährige Französin Gisèle Pélicot wurde in einem Zeitraum von etwa zehn Jahren von über 80 Männern missbraucht, nachdem sie ihr heutiger Ex-Mann unter Drogen gesetzt hatte. Pélicot entschied sich ganz bewusst, den Prozess öffentlich zu machen, um Bewusstsein für (sexualisierte) Gewalt an Frauen zu schaffen. Im Gespräch mit einer Persönlichkeitsanalystin behauptete ihr Ex-Mann kürzlich, dass „alles bestens gewesen wäre, wenn es den Prozess nicht gegeben hätte“. Seine Frau habe schließlich aufgrund ihrer durch die Drogen ausgelösten Bewusstlosigkeit nichts von den Vergewaltigungen gewusst. Hier schließt sich erneut der Kreis zwischen nachgewiesener Gewalt und der krankhaften, verzerrten Wahrnehmung der männlichen Täter.
Wir brauchen dreimal so viele Plätze in Frauenhäusern
Im Gespräch mit EDITION F sagte Stefanie Knaab von Gewaltfrei in die Zukunft e.V.: „Immer wieder wird gefragt: Ja, warum gehen denn die Frauen nicht einfach?‘ Aber warum fragt hier eigentlich niemand: ,Warum schlägt denn der Täter?‘“ – Und so „einfach“, wie sich das nicht betroffene Personen vorstellen, ist eine Trennung auch nie. Die meisten Femizide geschehen unmittelbar nach einer Trennung oder im Trennungsprozess – das zeigt die immense Gefahr, der Betroffene in einer gewaltvollen Beziehung ständig ausgesetzt sind. Und Frauen, die sich von ihrem gewalttätigen Partner getrennt haben, werden kaum geschützt. Was außerdem fehlt, sind Frauenhausplätze und bezahlbarer Wohnraum.
Der Verein Frauenhauskoordinierung (FHK), der deutschlandweit Frauenhäuser und Fachberatungsstellen in fachlicher Hinsicht und bei ihrer politischen Arbeit unterstützt, veröffentlicht jährlich Zahlen zu benötigten Plätzen für Frauen und ihre Kinder: In den Frauenhäusern in Deutschland fehlen mehr als 13.000 Plätze für Frauen und ihre Kinder. Es ist somit gut ein Drittel der insgesamt 21.000 benötigten Plätze vorhanden.14.070 Frauen wurden 2022 in einem Frauenhaus in Deutschland aufgenommen. Für jede Frau, die einen Platz erhalten hat, wurde etwa eine Frau abgelehnt.
Eine unbekannte Adresse und räumlicher Schutz vor Gewalttätern würde Frauen und Kinder vor Gewalt und Femiziden schützen. Doch anstatt kurzfristig finanzielle Mittel für den Ausbau der Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, verliert sich diese Politik – wieder einmal – in Bürokratie und Lippenbekenntnissen. Die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg hat erneut Konsequenzen aus den Taten gefordert. „Wir müssen endlich etwas gegen diese brutalen Morde von Männern an Frauen tun”, erklärte die CDU-Politikerin und sprach von ‚purem Frauenhass‘. Mit diesen Worten rennt sie offene Türen ein. Auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus möchte Betroffene von Gewalt besser schützen und sieht ein, dass Deutschland ein massives Gewaltproblem gegen Frauen hat. „Das muss aufhören”, sagte die Grünen-Politikerin in Berlin. Ja, es muss.
Femizide sind das Ende, nicht der Anfang
Über 80 Prozent der von Stalking Betroffenen sind Frauen – dabei ist Stalking gemäß Paragraf 238 des Strafgesetzbuches strafbar. Auch hier ist die Frauenhauskoordinierung eine zuverlässige Informationsquelle: „Stalkern geht es um Macht und Kontrolle über ihr Opfer. Frauen, die durch ihre Partner misshandelt wurden, erfahren häufig in der Trennungsphase Stalking durch den Ex-Partner, der die Trennung nicht akzeptieren will. Gerade in diesen Fällen ist die Gefahr groß, dass die Gewalt eskaliert.“
Auf bundespolitischer Ebene hat man erkannt, dass sich patriarchale Muster nicht kurz- oder mittelfristig ändern lassen. Wie auch? Hier müsste man erkennen, dass Femizide immer das Ende der Fahnenstange sind. Nicht der Anfang. Misogynie drückt sich auf wirtschaftlicher Ebene in der Diskriminierung von Frauen im gebärfähigen Alter aus, in der überdurchschnittlichen Anzahl von weiblichen Teilzeitkräften, im fehlenden Lohn für Care-Arbeit. Frauenhass zeigt sich in der unterlassenen medizinischen Hilfeleistung in der Schmerztherapie; er zeigt sich in Form von gewaltvollen Geburtserfahrungen und in der Frage, welche Kleidung eine Frau trug, die vergewaltigt wurde. Die Einsicht, dass Morde an Frauen nur dann verhindert werden können, wenn sich grundlegende Strukturen ändern, scheint nicht bei allen angekommen zu sein. Daher scheint der Fokus auf den Symptomen zu liegen, bevor man sich mit allen verfügbaren Mitteln den Ursachen widmet. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Frauen weniger wert sind“, sagte Stefanie Knaab gegenüber EDITION F.
Prävention statt Paragraphen
So auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Dieser hatte zuletzt in einem Interview gesagt, dass er in elektronischen Fußfesseln für Täter ein Mittel im Kampf gegen häusliche Gewalt sehe und offen dafür sei, sie einzusetzen. Immerhin würde das bedeuten, dass zumindest die Not erkannt wurde. Aktuell sieht es so aus, dass Gewalttäter, die mit einem Kontaktverbot belegt werden, nur in einigen Bundesländern mithilfe einer Fußfessel elektronisch überwacht werden. Rechtliche Probleme gibt es, wenn sie in ein anderes Bundesland reisen. Expert*innen haben bereits eingeräumt, dass die Femizide an den jüngsten Opfern in Berlin durch Fußfesseln hätten verhindert werden können. Die Oppositionsparteien CDU und CSU kündigten an, den Mordparagrafen reformieren zu wollen: Wer seine körperliche Überlegenheit ausnutzt, soll nicht mehr für Totschlag verurteilt werden, sondern wegen Mordes.
155 Frauen sind 155 Frauen zu viel. Fußfesseln auf dem Papier sind Fußfesseln, die nicht warnen können. Und unsere Wut, die nicht hochkocht, hinterlässt ein Vakuum, das politisch instrumentalisiert wird. Die Stille, vor allem aus männlicher Sicht, ist ohrenbetäubend. Sind wir – Frauen – zu müde, um uns den Morden entsprechend aufzuregen? Sind wir zu erschöpft von Mental Load, von Misogynie und der desaströsen Weltlage, um auf die Barrikaden zu gehen?
Vor meinem inneren Auge sehe ich Mistgabeln und Fackeln und Millionen von Frauen, die die Straße des 17. Juni, den Broadway, den Picadilly Circus und die Champs Élysées blockieren. Frauen, deren Wut Berge versetzen kann. Wir haben Bären über Jahrtausende in Ketten gelegt. Dann sollte es an einer Fußfessel nicht scheitern.
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