Zum Start der Aktionswoche gegen Einsamkeit schreibt unsere Autorin über einen Ort, der unscheinbar wirkt und doch viel über ein Gefühl verrät, das immer mehr Menschen betrifft. Laut dem aktuellen Einsamkeitsbarometer 2024 leiden besonders Kinder, Alleinerziehende und ältere Menschen unter sozialer Isolation. Diese zunehmende Einsamkeit in Deutschland hat nicht nur gesundheitliche Folgen.
Ich sitze auf der Dachterrasse von Möbel Höffner. Einmal in der Woche bin ich hier, um zu arbeiten. Nicht, weil das so ein perfekter Arbeitsplatz ist. Nein, ich klappe hier den Laptop auf, weil mein neunjähriger Sohn nebenan auf dem Fußballplatz trainiert und die Dachterrasse von Möbel Höffner einer dieser Unvereinbarkeitsorte ist, an denen man so tut, als wäre das gleichzeitige Mutter- und Vollzeitangestelltsein super easy. Darum soll es in diesem Text nicht gehen, aber eine kluge Soziologin, mit der ich ein Interview für EDITION F führen durfte, hatte mir eingebläut, dass ich meine Atemlosigkeit im Unvereinbarkeitsgame penetrant sichtbar machen soll: ok, check.
Beobachtungen auf der Dachterrasse: Einsamkeit im Alltag
Worum es hier eigentlich geht, das sind die Menschen, die ich jede Woche auf diesem Dach von Möbel Höffner treffe. Sie alle wirken einsam. Denn sie alle, inklusive mir, sind nicht hier, weil sie sich für die senfgelben Boxspringbetten im vierten Stock interessieren. Sie sind hier, weil sie sich ein bisschen Gemeinsamkeit in der Einsamkeit wünschen. Sie wollen nicht ins Gespräch kommen. Nur einfach nicht allein einsam sein. Heute sind sieben Tische besetzt, an nur einem davon sitzen drei Personen gemeinsam. An allen anderen harmonieren Mensch, Glas, Plastikblume und Tisch. Manche tippen konzentriert auf ihre Handys. Andere gucken in den Himmel oder blättern im hauseigenen Werbeprospekt.
Ich mag die Atmosphäre hier, sie ist ehrlich. Ganz unterschwellig wissen alle, was los ist. Aber sie akzeptieren es auch, niemand bewertet etwas, die sich ausbreitende Melancholie ist nicht mal der Rede wert, dort oben auf der Dachterrasse von Möbel Höffner, mitten in Schöneberg, mitten in Berlin, mitten in der Stadt, in die die Menschen ziehen oder mal gezogen sind, „weil hier das Leben tobt“ und jede Person ganz sicher den passenden Deckel zum Topf findet, oder wie das heißt.
Geliehene Kinderfotos
Als ich Teenager war, stand ich stundenlang am Badezimmerfenster, starrte auf die Straße und wartete. Ich wartete darauf, dass jemand vorbeikommt und fragt, ob ich mitkommen will in die Eisdiele oder in die Alte Mühle, wo die Leute aus meiner Klasse fast jeden Abend abhingen. Wir waren oft umgezogen, wohnten jetzt in einer kleinen Einliegerwohnung in einer oberfränkischen Kleinstadt und ich hatte verlernt, wie das ist, „befreundet“ zu sein. Mein Bruder war ständig mit seinen Leuten unterwegs – während ich es mir am Badezimmerfenster mit meiner Essstörung ungemütlich machte. Mit einsamen Menschen möchte niemand befreundet sein. Erst recht nicht, wenn sie ihre Bedürfnisse offen zeigen. Dieser Gedanke war tief in mir drin. Auch später noch.
Ich hatte nie enge Bindungen zu den Leuten aus der Schule, trotzdem oder deswegen entschied ich mich zehn Jahre nach Schulabschluss, am ersten Klassentreffen teilzunehmen. Auf meiner Einladung stand damals, dass es erlaubt sei, die Familie, also Kinder und Partner, mitzubringen. Ich fragte meine beste Freundin, ob sie mir Fotos von ihren beiden Töchtern ausleihen könne. Ich weiß, das ist vollkommen absurd. Aber die bayerische Kleinstadtidylle ist eine andere Welt als die Dachterrasse von Möbel Höffner, wo selbstverständlich ist, dass Menschen Phasen haben, in denen sie auch mal allein oder einsam sind. Alle. Immer. Überall. Und so zeigte ich die geliehenen Bilder beim Klassentreffen in der Alten Mühle und gehörte für ein, zwei Stunden irgendwie dazu.
Die drei größten Ängste
Neulich fragte mich eine gute Freundin nach meinen drei größten Ängsten. Und ich antwortete: „Einsamkeit“, „Armut“ und „Psychopathen, die Macht und Geld im Übermaß haben“. Die ersten zwei Antworten gab ich, weil ich beides gut kenne. Nicht nur in Zusammenhang mit der Schulzeit oder mit einem Klassentreffen. Dieses Verbundensein mit Menschen, sodass man wirklich das Gefühl hat, voll und ganz verstanden und gesehen zu werden: Das kenne ich höchstens aus Filmen. Nicht aus Beziehungen. Zugleich war dieses Bild bedingungsloser Zugehörigkeit für mich sehr lange eine „Normalität, zu der ich nicht fähig bin“. Mittlerweile weiß ich, dass es mehr Menschen gibt, die häufig allein oder einsam sind, als andere.
Einsamkeitsbarometer 2024
Einsamkeit ist ein komplexes und vielschichtiges Phänomen, das sowohl psychologische als auch soziale Dimensionen umfasst. Die Daten des Einsamkeitsbarometers 2024 zeichnen ein klares Bild: Ältere und sehr junge Menschen sind besonders häufig von Einsamkeit betroffen. Vor allem gefährdet sind Menschen, die in Armut leben, Care-Arbeit leisten oder eine Migrationsgeschichte haben – in diesen Gruppen ist die Belastung durch Einsamkeit besonders hoch. Wer gesellschaftlich eingebunden ist, über stabile soziale Bindungen verfügt und Zugang zu Bildung hat, ist besser vor Einsamkeit geschützt. Ein besorgniserregender Befund betrifft das Vertrauen in politische Institutionen, das bei Menschen mit hoher Einsamkeitsbelastung signifikant niedriger ist als im Durchschnitt.
Im Jahr 2024 lag die durchschnittliche Internetnutzungsdauer pro Person in Deutschland bei 69,3 Stunden pro Woche, das sind beinahe drei Tage durchgehend! Was wir in unserem Alltag unterschätzen ist aber nicht nur unsere Freizeit, in der wir bewusst oder unbewusst sehr viele Stunden (allein) vor dem Bildschirm verbringen, sondern möglicherweise auch unsere Arbeitszeit. Ich selbst arbeite an drei Tagen der Woche im Homeoffice (wenn ich nicht gerade im Möbelhaus bin), und das ist auch wichtig, weil die Unvereinbarkeit sonst noch schwerer händelbar wäre als ohnehin schon. Zugleich merke ich am Abend, der sich im Homeoffice oft bis in die Nacht hineinzieht, nach dreihundert abgehakten Aufgaben, wie isoliert ich oft bin an solchen Tagen, auch wenn ich an zahllosen digitalen Meetings teilgenommen habe.
Einzelkampf statt Kooperation
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte der Politologe und Autor Martin Hecht: „Als Einzelkämpfer*innen in dieser großen Marktwirtschaft werden wir einsam dabei. Das ist die Erklärung, warum der Kapitalismus, der als Wirtschaftssystem nicht auf Kooperation abzielt, sondern auf den Erfolg der*s Einzelnen im Wettbewerb mit anderen (…) – warum also so ein System notgedrungen zu Einsamkeitsgefühlen führen muss.“ Aber was passiert eigentlich, wenn alle alles allein machen? Was sehen wir, wenn wir allein durch Instagram scrollen, wo Content Creatorinnen allein Content produzieren, der zum Teil immer absurder, immer extremer, immer lauter oder immer nonsensiger wird? Es wirkt oft wie ein verzweifelter Versuch, herauszustechen und aufzufallen in einem Meer aus Individuen. Martin Hecht sagt dazu: „Dieser Aspekt, dass es nicht mehr darum geht, was ist das gemeinsame Gute, was wir erreichen wollen, sondern wie kann ich einen ganz pointierten Auftritt hinlegen, der mir Aufmerksamkeit sichert. Das ist eine, man kann fast sagen, Sozialpathologie oder eine sozialpathologische Erscheinung des Individualismus in der Gegenwart.“
Studie „Extrem einsam“
Ok, und was heißt das jetzt für die Gesellschaft? Einsamkeit gefährdet nicht nur die Gesundheit des Einzelnen, sondern auch die Gesundheit der Demokratie. Die Forschungsergebnisse der Studie „Extrem einsam“ des progressiven Zentrums aus dem Jahr 2022 belegen: „Wenn sich Menschen in der Jugend häufig einsam und isoliert fühlen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Verschwörungserzählungen glauben, politische Gewalt befürworten und autoritären Haltungen zustimmen.“ In der umfangreichen Untersuchung wurden Jugendliche im Alter von 16 bis 23 Jahren zu ihren Erfahrungen mit Einsamkeit und politischen Themen befragt. Mehr als die Hälfte der Befragten (55 Prozent) gibt an, sich manchmal oder sogar immer einsam zu fühlen. Zugleich ist eine Entfremdung von der Demokratie zu erkennen: Nur 57 Prozent der Jugendlichen empfinden laut Studie die Demokratie als die beste Staatsform. Und 61 Prozent sind der Ansicht, dass die Politik die Perspektive der jungen Generation nicht ausreichend berücksichtigt.
Warum echte Begegnungen so wichtig sind
Wo also sind die Orte der Begegnung? Orte, an denen Menschen offline zusammenkommen, sich austauschen, ein Wir-Gefühl entwickeln, verschiedene Perspektiven kennenlernen? – Im Jahr 2024 gab es deutliche Kürzungen bei Investitionen in Begegnungsorte und Programme für Kinder und Jugendliche. Der Bundeshaushalt 2024 sah Kürzungen von 44,6 Millionen Euro (18,6 %) im Vergleich zu 2023 vor. Dies betrifft sowohl Projektgelder als auch die Infrastruktur der kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Die Einsparungen stehen im Kontrast zu den steigenden Kosten in der Kinder- und Jugendhilfe, wie etwa für Personal und Sachmittel, die vielerorts nicht ausreichend refinanziert werden können.
Fußball ohne Tore
Ich klappe den Rechner zu und packe meine Sachen zusammen, denn gleich muss ich die Dachterrasse des Möbelhauses und ihre Besucher*innen verlassen, um mein Kind auf dem Fußballplatz nebenan abzuholen. Der Neunjährige wirkte vor einiger Zeit sehr bedrückt. Nach langem Nachfragen erzählte er, dass er Fußball viel lieber ganz ohne Tore spielen würde. „Warum das denn?“, wollte ich wissen, ich dachte, dass es beim Fußball vor allem ums Toreschießen geht… Er antwortete: Weil er dann nicht das Gefühl haben müsste, dass er nur gemocht wird und viele Freunde hat, wenn er Tore schießt.
Fazit: Wir alle sind mal einsam, mehr oder weniger, länger oder kürzer. Das ist ok, das ist nicht schlimm oder etwas, wofür wir uns schämen müssen, auch wenn der überdrehte Glücklichkeitscontent bei Social Media einen anderen Eindruck vermittelt. Aber gerade passiert etwas, was uns kollektiv von einer vorübergehenden Einsamkeit in eine chronische Einsamkeit manövrieren könnte. Das spielt antidemokratischen Kräften in die Karten. Darauf müssen wir aufpassen. Gerade und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die Halt und Haltung, Wissen und Selbstbewusstsein, Offenheit und Verbundenheit in echten Begegnungen finden.
Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“
Auch in diesem Jahr ruft das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen der Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ vom 26. Mai bis 1. Juni 2025 dazu auf, Menschen zusammenzubringen, Begegnungen zu schaffen und über das Thema Einsamkeit zu sprechen. So sollen die Öffentlichkeit, Betroffene und Angehörige zum Thema sensibilisiert und über Hilfsangebote informiert werden. Sie ist Teil der Ende 2023 verabschiedeten Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit und richtet sich an Menschen aller Altersgruppen, die in bestimmten Lebensphasen von Einsamkeit betroffen sein können.
Mehr Infos gibt es HIER.
Und hier geht es zur Aktionswoche gegen Einsamkeit vom 26. Mai bis 1. Juni 2025.