Suchen
Porträtfoto Natalya Nepomnyashcha | © Daniel Hardge
© Daniel Hardge
12.08.2025 • 17:44
Foto von Yvonne Weiß | © Roland Magunia Yvonne Weiß
Chancengerechtigkeit 

Natalya Nepomnyashcha: „Mut bedeutet, ohne Sicherheitsnetz zu starten!“

Als Kind von Geflüchteten, das mit Hartz IV aufgewachsen ist, weiß Natalya Nepomnyashcha, wie sehr soziale Herkunft die Karrierechancen beeinflusst. In ihrem Buch „Wir von unten“ zeigt sie auf, was es in Deutschland für Veränderungen bräuchte, damit nicht Vitamin B über den Berufserfolg entscheidet. Heute arbeitet die Autorin als Führungskraft bei Ernst & Young und unterstützt mit dem von ihr gegründeten „Netzwerk Chancen“ ehrenamtlich Menschen beim sozialen Aufstieg.

Was hat dir persönlich beim sozialen Aufstieg gefehlt – und wie versuchst du heute, genau diese Lücke für andere zu schließen?

„Mir hat der Glaube an meine Fähigkeiten und Talente gefehlt. Sehr lange wurde mir von Lehrkräften und anderen Respektspersonen eingeredet, dass ich nicht gut genug bin – fürs Gymnasium, für ein Studium, für einen guten Job. Wenn man das als Kind ständig hört, sitzt das tief. Mit ,Netzwerk Chancen‘ helfen wir unseren Mitgliedern kostenfrei durch Coachings, Workshops und ein starkes Netzwerk, ihre Talente zu erkennen und an sich zu glauben.“

Wie äußert sich soziale Ungleichheit in Deutschland heute – jenseits von statistischen Zahlen? Wo sehen wir sie im Alltag, aber reden nicht darüber?

„An den Spitzen der deutschen Wirtschaft sind kaum soziale Aufsteiger*innen zu finden. Wir reden zu Recht darüber, dass es fast nur Männer sind. Aber dass es vor allem Männer sind, die in sehr privilegierten Verhältnissen aufgewachsen sind, darüber redet kaum jemand.“

Natalya Nepomnyashcha wuchs in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf. Ohne jemals Abitur erworben zu haben, machte sie 2012 einen Masterabschluss in Großbritannien. Nach dem Studium der Internationalen Beziehungen war sie u. a. für eine der weltweit größten Unternehmensberatungen sowie eine NGO aus Westafrika tätig. 2016 gründete sie nebenberuflich „Netzwerk Chancen“. Mit zwei kostenlosen und ideellen Karriereprogrammen begleitet das Sozialunternehmen talentierte Menschen, die aus finanzschwachen oder nicht-akademischen Verhältnissen stammen, auf ihrem beruflichen Weg und kollaboriert mit potenziellen Arbeitgebenden. „Netzwerk Chancen. Aufsteiger“ richtet sich an 18-39-Jährige, „Aufstieg 40+“ an soziale Aufsteiger*innen ab 40. Weiterhin setzt sich die Organisation dafür ein, dass die soziale Herkunft als Diversity-Faktor anerkannt wird. 2024 wurde Natalya Nepomnyashcha im Alter von 34 Jahren mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Wie macht sich intersektionale Diskriminierung etwa für Frauen mit Armutserfahrung und Migrationshintergrund besonders stark bemerkbar?

„Wenn der soziale Aufstieg für weiße Männer schon schwierig ist, dann ist er für Frauen mit Migrationshintergrund nochmal um einiges schwieriger zu erreichen. Denn zu den Auswirkungen der sozialen Herkunft (fehlendes Netzwerk, mangelndes Selbstbewusstsein, fehlende Informationen) kommen noch Rassismus und Sexismus hinzu.“

Wenn du eine Sache im deutschen Bildungssystem sofort ändern könntest, um Chancengerechtigkeit zu stärken – was wäre das?

„Die Mehrgliedrigkeit abschaffen. Zahlreiche Studien zeigen, dass wir Kinder nicht aufgrund von Fähigkeiten, sondern anhand der sozialen Herkunft auf weiterführende Schulen verteilen. Was wir stattdessen brauchen, sind Gemeinschaftsschulen mit – ganz wichtig – individueller Förderung, sodass alle Kinder ihre Talente und Stärken entfalten können.“

Viele sagen: „Leistung lohnt sich nicht mehr.“ Andere sagen: „Nicht jeder hat die gleichen Startbedingungen.“ Wie reagierst du auf solche Aussagen, die soziale Ungleichheit oft relativieren wollen?

„Leistung lohnt sich oft, aber nicht immer. Denn nicht alle haben die gleichen Startbedingungen. Das Geburtslotto spielt in Deutschland nach wie vor eine große Rolle. Manche leisten und ackern und kommen trotzdem kaum voran. Damit sich das ändert, müssen wir an unser Bildungssystem ran, aber auch Netzwerke öffnen und Einstellungskriterien hinterfragen: Braucht zum Beispiel wirklich jede*r Kommunikationsmanager*in einen Hochschulabschluss?“

Was bedeutet Mut für dich persönlich?

„Mut bedeutet für mich, auch mal Unbequemes auszusprechen und Veränderungen zu fordern. Sich auch unbeliebt zu machen oder mit einer komplett neuen Idee nach vorne zu gehen und in Kauf zu nehmen, dafür ggf. ausgelacht zu werden oder auf Widerstände zu stoßen. Und auch, ohne Sicherheitsnetz zu starten. Wer etwas wagt, der weiß, dass er oder sie tief fällt, wenn es nicht klappt, der oder die ist richtig mutig.“

Buchtipp: Natalya Nepomnyashcha: „Wir von unten. Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet“, Ullstein Verlag, 19,99 Euro. Mehr erfahren.

Natalya Nepomnyashcha ist Speakerin beim FFF DAY! 

Am 11. Oktober 2025 findet im bcc Berlin der FFF DAY statt. Gemeinsam mit weiteren Speaker*innen spricht Natalya Nepomnyashcha auf der Konferenz über Chancengerechtigkeit sowie soziale und finanzielle Ungleichheit, auf dem Panel: 
Superarm und Superreich: Wie wir soziale Ungleichheit überwinden können
Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Die Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft oder ökonomischem Status, beeinflusst entscheidend, wie Menschen Zugang zu Bildung, Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe erleben. Frauen sind weltweit überproportional von Armut betroffen und erleben die Auswirkungen sozialer Ungleichheit oft auf doppelte Weise: durch finanzielle Benachteiligung und strukturelle Diskriminierung. Wie können feministische Bewegungen einen Raum schaffen, in dem sich alle Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft repräsentiert fühlen? 

Du möchtest bei dem Panel dabei sein? Unter fffday.com findest du Infos zur Konferenz, zum Programm, zu den diesjährigen Speaker*innen und deinem Ticket, das du hier sichern kannst.

Werbebanner für den FFF DAY am 11. Oktober 2025. Motto: Be Bold!  | © EDITION F
© EDITION F

„BE BOLD“ ist das Motto des FFF DAY am 11. Oktober 2025!

Beim FFF Day 2025 im bcc Berlin feiern wir den Mut, für Menschenrechte und Demokratie einzustehen. Wir wollen den verschiedenen Facetten von Mut Raum geben – weltweit und individuell. Gemeinsam erkunden wir, wie Mut sich in unterschiedlichen Kontexten zeigt, wie Privilegien unsere Perspektive darauf prägen und was Mut bewirken kann. Unter dem Motto „Be bold“ feiern wir mutige Menschen, die Grenzen überwinden und Veränderung schaffen. Freu dich auf inspirierende Keynotes, internationale Stimmen und vielfältige Begegnungen, die Mut sichtbar und spürbar machen. 

Lasst uns zusammen mutig die Zukunft gestalten! Sichere dir dein Ticket JETZT!

Julia Becker: „Feminismus ist kein Projekt, sondern eine Lebensaufgabe“
FUNKE-Verlegerin Julia Becker spricht über Feminismus, Diversität in Unternehmen und journalistische Verantwortung.
Marjane Satrapi: „Genialität ist ein Attribut, das Frauen selten zugeschrieben wird“
Die iranisch-französische Autorin und Regisseurin Marjane Satrapi wurde mit der Verfilmung ihrer Comics weltbekannt.
10 Erfinderinnen, die du kennen solltest
Schon vor 200 Jahren bewiesen Frauen: Wissenschaft ist keine Männerdomäne. Wir stellen Pionierinnen vor.
Gleichberechtigung am Arbeitsplatz? – Das können wir alle dafür tun
Unsere Autorin Ylva Tebartz schreibt darüber, wie wir alle zu mehr Gleichberechtigung im Job beitragen können.