Geschichten prägen unsere Sicht auf Normalität. Deshalb sollten Kinder möglichst früh erleben, dass es unterschiedliche Familienformen, Lebensrealitäten, Hautfarben und Fähigkeiten gibt, schreibt die Autorin Joanna Peprah. In ihrem Artikel erklärt sie, warum vielfältige Kinderbücher nicht nur für marginalisierte Kinder eine wichtige Rolle spielen.
„Ist das auch für weiße Kinder?“ Diese Frage höre ich immer wieder, wenn ich über mein Empowerment-, Lern- und Malbuch „Big Hair, Big Dreams“ spreche.
Oft steckt dahinter Unsicherheit: Brauchen Kinder Bücher, in denen Vielfalt gezeigt wird, wirklich – auch wenn sie selbst nicht betroffen sind?
Meine Antwort ist eindeutig: Ja.
Denn vielfältige Kinderbücher sind für alle Kinder wichtig. Sie geben nicht nur jenen eine Stimme, die sich selten in Geschichten wiederfinden, sondern öffnen allen jungen Leser*innen die Augen für die Realität, in der wir leben.
Kinder lernen über Geschichten, wer gesehen wird, wessen Erfahrungen zählen und was als „normal“ gilt. Viele klassische Kinderbücher erzählen jedoch immer wieder dieselbe Lebenswelt: eine weiße Mittelstandsfamilie mit Haus und Garten, Mama ist zu Hause, Papa arbeitet, Probleme werden am Reiterhof gelöst. Aber wie viele Kinder leben heute tatsächlich so?
Die Realität ist vielfältiger. Laut Mikrozensus hatten 2023 rund 43 Prozent der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland mindestens ein Elternteil mit Migrationsgeschichte (Quelle: BAMF 2023). Etwa 2,1 Millionen Minderjährige – rund 14 Prozent aller Kinder und Jugendlichen – wachsen in einkommensarmen Haushalten auf (Quelle: Destatis 2024). Und auch andere Lebensrealitäten kommen in Kinderbüchern selten vor: Schwarze Kinder, Sintizze und Romnja, Alleinerziehende, Patchwork- und Pflegefamilien, queere Eltern, Kinder mit Behinderungen oder Fluchterfahrung.
Fehlt diese Vielfalt, lernen Kinder unbewusst: Alles, was davon abweicht, ist „anders“. Das grenzt aus und verletzt.
Geschichten, die Vielfalt sichtbar machen, stellen Kinder in den Mittelpunkt, die sonst nur am Rand vorkommen, und geben ihnen eine Stimme. Sie zeigen neue Perspektiven, stärken das Selbstbild und fördern Empathie. Vielfalt zu zeigen, ist keine pädagogische Kür, sondern eine Notwendigkeit.
Viele diverse Kinderbücher erscheinen in kleinen Verlagen oder im Selfpublishing. Häufig werden sie von Frauen und/oder BIPoC geschrieben – oft nebenberuflich und unter schwierigen Bedingungen. Wer solche Bücher kauft, unterstützt nicht nur vielfältige Inhalte, sondern auch die Arbeit von Autor*innen, deren Stimmen zu selten gehört werden.
Vielfältige Bücher sind keine Last, sie sind ein Geschenk. Sie erweitern den Blick, repräsentieren verschiedene Lebensrealitäten und geben Orientierung. Sie zeigen Kindern, dass es viele Arten gibt zu leben, zu lieben und zu fühlen und dass alle dazugehören.
Ich lese meinen Kindern regelmäßig solche Bücher vor. Ich möchte, dass sie wissen: Nicht jedes Kind kann hören, sehen oder rennen. Es gibt viele Arten zu kommunizieren. Nicht alle wachsen mit zwei Elternteilen auf oder haben ein eigenes Zimmer. Und sie sollen verstehen, dass es viele verschiedene Hautfarben gibt – ebenso Erkrankungen wie Vitiligo, bei der Menschen Pigmentierung in ihrer Haut verlieren. Wenn meine Kinder im Alltag auf vielfältige Menschen treffen, sollen sie nicht verunsichert oder abwertend reagieren, sondern respektvoll, offen und inklusiv handeln.
Lasst uns unseren Kindern nicht nur eine Geschichte der vermeintlichen Normalität erzählen, sondern vielfältige und beflügelnde Geschichten. Zeigen wir ihnen Bücher, in denen sie sich selbst wiedererkennen und die ihnen die Lebensrealitäten ihres Umfelds näherbringen. Vielfalt ist nicht die Ausnahme, Vielfalt ist die Realität. Je früher Kinder das erfahren, desto gesünder entwickelt sich ihre soziale Kompetenz und desto stabiler wird unser gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Buchtipp: Joanna Peprah und Doreen Asenso: „Big Hair, Big Dreams – Empowerment Lern- und Malbuch“, Hawandel Verlag, 9,90 Euro. Mehr erfahren.