Foto: Cihan Cakmak

Sibel Schick: „Feminismus, der kein Problem mit Hierarchien hat, macht sich überflüssig“

Sibel Schick kritisiert in ihrem Buch „Weißen Feminismus canceln“, dass manche Bewegungen, die sich feministisch nennen, keine echte Gleichberechtigung bewirken. Ihre Analyse kombiniert sie mit Handlungsansätzen, wie ein gutes Leben für alle Menschen Wirklichkeit werden kann. Wir haben mit der Autorin über ihre Kritik, erstarkenden Anti-Feminismus, Macht und Gerechtigkeit gesprochen.

Was verstehst du unter weißem Feminismus – und warum willst du diesen canceln, wie der Titel deines Buches verrät? 

„Der Begriff weiß im politischen Sinne markiert eine Privilegierung. Damit sind nicht Menschen mit spezifischen Körpereigenschaften gemeint, sondern Anhänger*innen einer bestimmten feministischen Strömung. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Der weiße Feminismus erkennt lediglich sexistische Diskriminierung und geht von einer Norm Frau aus, die keine weiteren Marginalisierungen erfährt. Diese Norm-Frau ist weder behindert noch chronisch krank; sie ist nicht (erkennbar) jüdisch oder muslimisch, sie ist nicht rassistisch markiert, sie ist nicht von Queerfeindlichkeit betroffen, sie ist nicht arm, gehört eher dem Mittelstand an und ist meist gut ausgebildet. Weißer Feminismus entwickelt lediglich für diese Norm-Frau Maßnahmen und missachtet die Lebensrealität vieler marginalisierter Menschen. Außerdem legitimiert dieser Feminismus viele Erscheinungsformen von Diskriminierung und schafft neue Opfer und Täter*innen. Ich erlebe oft, dass Menschen, die nur Sexismus erfahren und diese Diskriminierung aufgrund ihrer ansonsten privilegierten Position nicht als großes Problem erleben, schnell behaupten, Feminismus sei mittlerweile überflüssig. Mein Buch verstehe ich als Intervention. Ich möchte weißen Feminismus durch eine Bewegung ersetzen, die für mehr Menschen relevant sein könnte.“ 

„Ich habe es in eine Führungsposition geschafft, obwohl ich eine Frau bin, ich fühle mich nicht benachteiligt.“ – Das ist eine Aussage, die mir immer wieder begegnet. Beziehst du dich auf solche Denkmuster, wenn du sagst, dass weißer Feminismus dazu führt, dass viele den Kampf für Gleichberechtigung als unnötig erachten? 

„Genau. Solche Äußerungen klingen erstmal plausibel, wenn Menschen nur von ihrer individuellen Realität ausgehen und strukturelle Probleme ausblenden. Nach den geltenden patriarchalen Regeln zu spielen, kann für die eigene Karriere funktionieren. Für die feministische Bewegung ist allerdings wenig gewonnen, wenn es einzelne Frauen ,nach oben‘ schaffen. Denn wo es ein ,Oben‘ gibt, muss es auch ein ,Unten‘ geben. Macht zu haben, ist immer an Überlegenheit gekoppelt. Doch Feminismus, der kein Problem mit Hierarchien hat und Ungleichheit akzeptiert, macht sich überflüssig. Die Daseinsberechtigung des Feminismus lautet: Gleichberechtigung herstellen. Wenn wir stattdessen nur bestehende, ungerechte Systeme für unser individuelles Weiterkommen nutzen, ist das nicht nur unfeministisch, sondern aktiv anti-feministisch.“ 

Feminismus, der kein Problem mit Hierarchien hat und Ungleichheit akzeptiert, macht sich überflüssig.

Wofür würdest du dir bei dem Thema mehr Bewusstsein wünschen?  

„Es wird viel zu wenig darüber gesprochen, auf wessen Kosten es Menschen in Führungspositionen schaffen. Beispiele dafür sind andere Personen, die für weniger Geld die Wohnungen von Führungspersönlichkeiten putzen oder deren Kinder unter prekären Bedingungen betreuen. Das ist nicht vereinbar mit echter Gleichberechtigung. Statt den patriarchalen Status quo anzugreifen, manövriert man sich im bestehenden System hoch und stellt sich mit sehr privilegierten Menschen – oftmals weiße Männer – gleich. Das ist der Mechanismus des weißen Feminismus. Diese Bewegung fordert keine echte Gleichberechtigung, sondern die eigene Privilegierung. Aber Privilegien sind nicht neutral, sie setzen die Benachteiligung anderer voraus.“ 

Weißer Feminismus
Sibel Schick definiert weißen Feminismus wie folgt: „Weißer Feminismus betrachtet Diskriminierung nur auf Grundlage des Geschlechts. Für den weißen Feminismus sind Rassismus, Antisemitismus, Armut, Behinderung, chronische Krankheit etc. irrelevant, diese sind keine ,Frauenthemen´. Frau ist nur weiß, berufstätig, gesund und Mittelstand. Das heißt, dass es in diesem Weltbild nur die Unterdrücker, also Männer, und die Opfer, Frauen, geben kann, weil Diskriminierung ja nur aufgrund des Geschlechts passieren kann. Diese zwei Kategorien von Mann und Frau sind klar voneinander getrennt und in sich homogen. Das heißt: Alle Frauen sind gleich, alle Männer sind gleich, keinerlei unterschiedliche Erfahrungen, keine weiteren Hierarchien jenseits des Geschlechts, die zu Ungerechtigkeiten in der jeweiligen Gruppe führen könnten. Damit dieses Weltbild funktioniert, ist der weiße Feminismus auf das Geschlecht als eine klar getrennte, biologisch-essentialistisch definierte Kategorie und auf Frau und Mann als gegensätzliche und komplementäre Wesen angewiesen.“

Mittlerweile sprechen immer mehr Menschen über ihre Privilegien, benennen diese auch kritisch, aber reicht das?  

„Das ist ein wichtiger erster Schritt, aber damit hat sich die Angelegenheit nicht erledigt. Es kann einen gewissen Komfort bieten, zu sagen – ,Ich hab meine Privilegien gecheckt‘ – doch dieser Erkenntnis und Benennung müssen Handlungen und politische Forderungen folgen. Wenn das nicht geschieht, ist es einfach Gelaber.“ 

Du beschreibst in deinem Buch, welchen Unterschied es machen kann, wenn eine weiße Person eine rassifizierte Person zur Ausländerbehörde begleitet. Wäre das ein Beispiel dafür, wie man seine Privilegien zum Vorteil anderer einsetzen könnte?  

„Eine solche Handlung kann für das Leben dieser einen rassifizierten Person einen großen Unterschied machen, da es bei der Ausländerbehörde oft um Existenzen geht. Doch nicht jedes Privileg kann zum Vorteil anderer eingesetzt werden. Unsere Gesundheit können wir nicht mit chronisch kranken Menschen teilen. Privilegien funktionieren nicht wie Geld auf einem Bankkonto, von dem wir etwas an andere überweisen können. Wir können aber überlegen, warum wir viel mehr Geld haben als andere. Ein besonders stoßendes Beispiel für finanzielle Ungerechtigkeit sind deutsche Behindertenwerkstätten: Dort werden Menschen für knapp 1,50 Euro die Stunde ausgebeutet und bekommen bei der Forderung nach Mindestlohn zu hören, das sei zu viel verlangt. Das muss man sich mal reinziehen, wir sprechen von M-i-n-d-e-s-t-l-o-h-n. Selbst bei einer solchen Minimalforderung sind Menschen unsolidarisch.“ 

Reichtum ist doch sehr wohl etwas, was geteilt werden könnte.  

„Das Problem ist, dass die Diskussion über Privilegien auf der individuellen Ebene verharrt und wir dadurch keine nachhaltigen Lösungen für strukturell bedingte Ungleichheit entwickeln. Die Geldspende an eine weniger wohlhabende Person ändert nichts an der Tatsache, dass es arme und superreiche Menschen gibt. Auf die paar Fälle, wo Menschen durch eine Spende massiv geholfen wurde, kommen Millionen von Menschen, die weiter von Armut betroffen sind. Wir haben es hier mit einem globalen Problem zu tun, das auch eine Folge der Konsumkultur hierzulande ist. Wenn wir Gerechtigkeit fordern, müssen wir größer denken, als wir es bisher getan haben.“ 

Wie könnte das aussehen?  

„Eine Forderung könnte sein, dass deutsche Unternehmen ihre Produktion nicht ins Ausland verlagern dürfen. Denn so umgehen sie die Arbeitsrechte der EU. In vielen Teilen der Welt arbeiten Menschen unter unwürdigsten Bedingungen: ohne Pausen, ohne Zugang zu Toiletten, die Schlafplätze befinden sich in schmutzigen Kellern auf ekelhaften Matratzen, Absicherung gibt es nicht, und das trotz hoher Verletzungsgefahr.“  

In der Einleitung deines Buches beschreibst du, wie unser Leben sich verändert, wenn wir uns die Unterschiede zu anderen Menschen gewahr werden. Du nimmst dabei Bezug auf dein Bewusstwerden von Hautfarbe und erklärst, dass die damit einhergehende Erkenntnis nur über Abgrenzung entsteht. Wie blickst du auf die vielfach geäußerte Behauptung, wir müssten aufhören, auf Unterschiede zu verweisen und uns auf Gemeinsamkeiten konzentrieren? 

„Über Unterschiede zu sprechen, bedeutet auch, über Ungerechtigkeiten zu reden. Viele Menschen empfinden es aber als unbequem, sich mit der Diskriminierung anderer zu befassen. Dann müssten sie sich nämlich fragen, was das mit ihnen zu tun hat und wären damit konfrontiert, dass ihre Privilegierung einen Anteil daran hat. Darauf müsste eine Konsequenz folgen. Stattdessen verweist man also lieber darauf, dass Spaltung gefährlich sei und man für Zusammenhalt eintrete. Manche tun das definitiv mit Kalkül, bei vielen Menschen halte ich das aber für Unreflektiertheit. Wir sollten uns vor Augen führen, dass mehrfach marginalisierte Gruppen gar nicht die Macht besitzen, eine Gesellschaft zu spalten. Ich würde mir mehr Bewusstsein dafür wünschen, dass wir Unterschiede nur neutralisieren können, wenn wir darüber sprechen. Der Vorwurf der Spaltung ist falsch herum gedacht. Wenn wir Feminismus über eine einzige Diskriminierungsdimension – Sexismus – hinaus öffnen und breitere Maßnahmen fordern, können wir viel mehr Menschen mobilisieren. Das macht uns stärker und nicht schwächer.“ 

Eine Schwarze Freundin von mir sagte mal: Wenn man überlegt, wie viele marginalisierte Gruppen es gibt, und die Zahl dieser Gruppen zusammenzählt, dann stellen die eigentlich eine Mehrheit im Vergleich zur sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Darin liegt eigentlich eine Kraft. Warum also liegt die Macht noch immer bei einer gar nicht so großen Gruppe?  

„Wir leben in Zeiten des neoliberalen Kapitalismus, Macht soll dabei nicht gleichmäßig verteilt sein, ganz im Gegenteil. Es ist im Sinne dieses Wirtschaftssystems, dass Menschen Ohnmacht verspüren und denken, dass sie keine andere Wahl hätten, als sich in dieses System einzufügen, um zu überleben. Diese Existenzangst ist tief in uns eingegraben. Das macht es schwer, individualisiertes Denken herauszufordern. Wer Geldsorgen und wenig Privilegien hat, muss viel arbeiten. Dadurch bleiben kaum Ressourcen übrig, um sich im Kollektiv zu organisieren und neue Ideen für eine andere, gerechtere Gesellschaft zu entwickeln. Uns fehlt sogar die Zeit, um Verbindungen zu anderen Menschen zu pflegen, was uns eigentlich Kraft geben würde. Das finde ich sehr traurig.“   

Neben „weißen Feminismus“ birgt auch der zweite Teil deines Buchtitels Sprengkraft: „canceln“. Der Begriff wird oft zur Abwehr von Kritik verwendet – und gleichzeitig gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass selbst streitbarste Persönlichkeiten nicht abgesägt wurden. Was verstehst du unter „canceln“ und was wolltest du mit diesem Titel erreichen?  

Canceln beschreibt eigentlich nur eine einzige Sache: Menschen die Plattform entziehen. Das Wort ist mittlerweile negativ beladen. Doch eigentlich sollten wir diesen Akt als politische Praxis verstehen und anerkennen, dass es sinnvoll sein kann, gewissen Sachen ein Ende zu bereiten. Ich fände es beispielsweise mehr als okay, wenn Ausbeutung gecancelt würde. Der Begriff wird jedoch vom rechts-konservativen Lager zur Täter-Opfer-Umkehr instrumentalisiert: Deren Anhänger*innen nehmen sich das Recht heraus, gewaltvoll und abwertend mit Menschen umzugehen – und wehren Kritik an diesem Verhalten dann mit dem Cancel-Vorwurf ab. Sie missbrauchen den Begriff, um Bewegungen für Gleichberechtigung zu dämonisieren. Das ist zynisch. Denn jene, die am lautesten ,Cancel Culture‘ schreien, werden am Ende in Talkshows eingeladen, auf Covern abgedruckt oder schreiben Meinungstexte für große Publikationen. Von den Menschen, die tatsächlich gecancelt wurden, bekommen wir kaum etwas mit. Wir gehen täglich an ihnen vorbei – in Büros, auf der Straße, in Schulen – und nehmen sie nicht wahr. Ihre strukturelle Benachteiligung führt dazu, dass sie diskriminiert, systematisch klein und unsichtbar gehalten werden.“ 

Feminismus wird oft als „radikal“ verschrien, als ob das was Schlechtes sei. Dabei kommt das Wort von radix (Latein) und meint, eine Sache an seiner Wurzel zu bekämpfen, was beispielsweise im Fall von Ableismus, Antisemitismus oder Transfeindlichkeit doch sinnvoll wäre. Gerade Letzteres ist verbreitet bei Frauen, die sich als Radikalfeministinnen bezeichnen. Du schreibst im Buch auch über diese Strömung des weißen Feminismus. Ist radikaler Feminismus also etwas Schlechtes?  

„Feminismus muss kompromisslos und nachhaltig sein. Er darf nicht an der Oberfläche kratzen, sondern muss die Strukturen in ihren Grundfesten erschüttern und radikale Veränderungen fordern. Diese transfeindlichen und zugleich oft auch sexarbeitsfeindlichen Strömungen bezeichnen sich selbst als feministisch, sind es in meinen Augen aber nicht. Ein Beispiel dafür ist das Festhalten an einem starren Geschlechterverständnis von ,männlich‘ und ,weiblich‘. Damit werden eins zu eins die patriarchalen Beschreibungen von Geschlecht reproduziert und an veralteten Normen festgehalten, die vielen Menschen schaden.“ 

Wir erleben zurzeit in Deutschland, in Europa generell, an vielen Stellen einen antifeministischen Backlash. Wie blickst du auf diese Entwicklung: Ist das nur ein letztes Aufbäumen, weil es vorwärts geht – oder laufen wir Gefahr, uns als Gesellschaft rückwärts zu bewegen?  

„Ich sehe darin eine reale Gefahr, die wir unbedingt ernst nehmen müssen. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben. Antifeministische Strömungen werden immer stärker. Sie haben nicht nur die finanziellen Mittel, um Fortschritt zu verhindern, sondern sind gut vernetzt. Obwohl diese Gruppierungen in gewissen Aspekten nicht die gleichen Ansichten vertreten, finden sie Einigkeit in Sachen Anti-Feminismus. Wenn wir dem Stand halten wollen, müssen wir zusammenstehen. Effektiv können wir das nur tun, wenn wir uns mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Es dürfen keine Hierarchien zwischen uns toleriert werden.“ 

Unter diesem Aspekt: Was wünschst du dir gerade für die feministische Bewegung, von der du dich als Teil verstehst?  

„Ich wünsche mir, dass Feminismus eine wahre Bedrohung für den patriarchalen Status quo wird.“  


„Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ von Sibel Schick (S. Fischer Verlag, 2023)

Im Buch ordnet die Autorin ein, dass der Feminismus in Deutschland sich ändern muss: Sich selbst als Feminist*in zu bezeichnen, hat Konjunktur, aber das heißt nicht, dass der Mainstream-Feminismus diesen Namen verdient hätte. Von ihm profitieren in Deutschland nämlich nur wenige: privilegierte, heterosexuelle und cisgeschlechtliche weiße Mittelschichtsangehörige. Die Ausbeutung aller anderen wird in die Unsichtbarkeit gedrängt. Schritt für Schritt analysiert Sibel Schick die Ausschlussmechanismen des weißen Feminismus anhand aktueller gesellschaftlicher Debatten und bricht dabei mit Traditionen und Erwartungen.

Sibel Schick wurde 1985 in Antalya, der Türkei geboren, und zog 2009 nach Deutschland. Sie arbeitet als Autorin und Journalistin.

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