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Ein männlicher Arzt misst den Puls einer weiblichen Patietin. | © Vitaly Gariev | Unsplash
© Vitaly Gariev | Unsplash
12.12.2025 • 11:00
Camille Haldner im Porträt  | © Leah Kunz Camille Haldner
7 Minuten
EDITION F Voices Kolumne

Medical Gaslighting: Syptom eines patriarchalen Gesundheitssystems

Medical Gaslighting ist ein verbreitetes Phänomen im Gesundheitswesen, bei dem Beschwerden von Patient*innen heruntergespielt, ignoriert oder fehlgedeutet werden. Besonders betroffen: Frauen und marginalisierte Gruppen. Dabei sind die Folgen dieser strukturellen Ungleichbehandlung im Gesundheitssystem teilweise gravierend. Eine neue Plakatkampagne von Feministische Medizin e.V. und Mis(s)understood Bodies macht nun strukturelle und geschlechtsspezifische Missstände in der Gesundheitsversorgung sichtbar.

Tak tak tak, bum bum bum, radadada radadada ... was wie schlecht abgemischter Techno klingt, wurde nach einem Sportunfall im März zum Soundtrack meines Jahres. Mittlerweile zum fünften Mal innerhalb weniger Monate schichtet ein Magnetresonanztomograph Bilder vom Inneren meines Bewegungsapparats. Und während ich von außen betrachtet ganz ruhig daliege – um das Gerät nicht bei der Arbeit zu stören –, rauscht es in mir drin. 

Hätte der Arzt meine Beschwerden nicht als übertrieben abgetan, wären diese Komplikationen vermutlich nicht entstanden. Hätte der Arzt die für eine solche Verletzung angemessene Behandlung angeordnet, wäre mein Jahr ganz anders verlaufen. Hätte ich doch nur mit noch mehr Nachdruck betont, wie stark die Beschwerden sind ... Hätte ich mich doch nur stärker gegen sein Abwiegeln gewehrt ... Hätte ich bloß früher einen weiteren Arzt konsultiert ... 

Zu wissen, dass ich mich gerade in dieser Situation befinde, weil mich der Arzt bei der Erstversorgung nach meinem Unfall nicht ernst (genug) genommen hat, reibt mich auf. Heute weiß ich, dass ich nicht allein bin mit dieser Erfahrung und es einen Namen dafür gibt, was ich erlebt habe: Medical Gaslighting. 

Abweichung von der Norm

Medical Gaslighting ist ein leider verbreitetes Phänomen, bei dem medizinisches Fachpersonal die Beschwerden von Patient*innen herunterspielt, ignoriert oder nicht ernst nimmt. Betroffene erleben, dass ihre Symptome als übertrieben dargestellt, als eingebildet abgetan oder auf Stress, Psyche oder andere triviale Ursachen zurückgeführt werden. Die Konsequenz: Langwierige gesundheitliche Komplikationen, die Zeit, Geld, Nerven und Energie kosten und zum Schluss oftmals von mehreren Spezialist*innen behandelt werden müssen.

Besonders betroffen von Medical Gaslighting sind Frauen und marginalisierte Gruppen wie Schwarze, behinderte, trans oder mehrgewichtige Menschen. Uns alle eint, dass wir uns in einem Medizinsystem bewegen, das unsere Körper und Bedürfnisse als Abweichung von einer jahrhundertealten Norm versteht.

„Die Medizin ist auf einen spezifischen Standard von Mensch – cis männlich, weiß, nicht-behindert – ausgerichtet. Wer nicht in die Norm passt, wird nicht nur vernachlässigt, sondern gefährdet“, erzählte mir Ärzt*in Sabina (Sabi) Schwachenwalde im Interview. Sabi ist Autor*in des Buches „Ungleich behandelt – Warum unser Gesundheitssystem die meisten Menschen diskriminiert“, das die historisch gewachsenen und bis heute andauernden Benachteiligungen in der Medizin beleuchtet.

Der Verein Feministische Medizin e.V. hat gemeinsam mit Mis(s)understood Bodies in diesem Herbst eine Plakatkampagne zur Sensibilisierung für Medical Gaslighting ins Leben gerufen. Mit Plakaten, Postkarten und Erfahrungsberichten sollen Patient*innen und medizinisches Personal für die Herausforderungen einer geschlechtergerechten und diskriminierungsfreien Gesundheitsversorgung sensibilisiert werden. Ziel der Aktion ist laut Feministische Medizin e.V., Impulse für ein kritisches und vorurteilsbewusstes Arbeiten im Gesundheitswesen zu setzen.

Bei dem Projekt berichten Betroffene von ihren Erfahrungen mit Medical Gaslighting: Welche Sätze sie im Gespräch mit medizinischem Personal hörten, wie lange sie auf eine Diagnose warten mussten und welche Folgen das für ihr Leben hatte – und machen damit geschlechtsspezifische Vorurteile im Gesundheitswesen sichtbar. Bemerkenswert ist laut dem Verein, dass sich trotz verschiedener Hintergründe, Orte, Altersgruppen und Diagnosen der Betroffenen die Reaktionen der Ärzt*innen sehr ähneln und sich wiederkehrende Muster zeigen.

Christina & Felicia teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting in der Plakatkampagne von Feministische Medizin & Mis(s)understood Bodies | © Kate Kuklinski, Thomas Pirot |Christina & Felicia teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting | Art Direction: Julia Vanessa Maier
© Kate Kuklinski, Thomas Pirot |Christina & Felicia teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting | Art Direction: Julia Vanessa Maier
Lovis & Leonie teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting in der Plakatkampagne von Feministische Medizin & Mis(s)understood Bodies | © Naemi Eckert, Charly Resch |Lovis & Leonie teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting | Art Direction: Julia Vanessa Maier
© Naemi Eckert, Charly Resch |Lovis & Leonie teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting | Art Direction: Julia Vanessa Maier
Nicole & Marie teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting in der Plakatkampagne von Feministische Medizin & Mis(s)understood Bodies | © Niklas Blum, Billy Söntgen|Nicole & Marie teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting | Art Direction: Julia Vanessa Maier
© Niklas Blum, Billy Söntgen|Nicole & Marie teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting | Art Direction: Julia Vanessa Maier
Zoa & Marlene teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting in der Plakatkampagne von Feministische Medizin & Mis(s)understood Bodies | © Anna Wu, Gianni Caretta |Zoa & Marlene teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting | Art Direction: Julia Vanessa Maier
© Anna Wu, Gianni Caretta |Zoa & Marlene teilen ihre Erfahrungen mit Medical Gaslighting | Art Direction: Julia Vanessa Maier

Das patriarchale Prinzip

„Diskriminierungen geschehen vermutlich nicht immer bewusst, aber ihnen zugrunde liegt die gefährliche Vorstellung der ,Halbgötter in Weiß‘, zu denen Mediziner*innen medial und gesellschaftlich bis heute stilisiert werden“, sagt Sabi Schwachenwalde. Im Interview kritisiert Sabi, dass das Medizinsystem stark von Hierarchien, Machtmissbrauch und Misogynie geprägt ist. „Ich habe den Eindruck, dass vielen Mediziner*innen gar nicht bewusst ist, welche Machtposition sie innehaben. Die Art und Weise, wie wir Ärzt*innen sozialisiert werden, regt nicht dazu an, diese Ungleichheit und daraus entstehende Dynamiken zu reflektieren. Es geht nicht um Patient*innen, es geht ums patriarchale Prinzip.“

Wie dieses patriarchale Prinzip sich so zeigt, konnte ich in den vergangenen Monaten aus nächster Nähe feststellen. Da war zum Beispiel der Arzt, bei dem ich nervös auf der Liege saß, weil man mir kurz zuvor gesagt hatte, dass eine aus der Fehlbehandlung entstandene Komplikation potenziell lebensbedrohlich sei – und der mir dann ernsthaft empfahl: „Trinken Sie zu Hause ein, zwei Gläser Wein, das beruhigt.“

Unvergessen auch der Arzt, der mir bei der Untersuchung, bei der ich untenrum nur in Unterwäsche bekleidet war, mitteilte: „Sonst habe ich vor allem die Beine älterer Menschen vor mir, da ist es eine Wohltat, zur Abwechslung so schöne junge Beine anzuschauen.“

Und mein Lowlight: Der Arzt, der mir, als er feststellte, dass ich Journalistin bin, von einem rechtspopulistischen Schweizer Politiker und Publizisten, der als Putin-Versteher gilt, und seinem hetzerischen Schmierblatt vorschwärmte. „Das ist die einzige Zeitung, die wir lesen. Der Rest des Journalismus ist unglaubwürdig. In dieser Praxis sind wir russophil und erkennen, wie Unrecht den Russen getan wird.“

Machtungleichgewicht und Privilegien

Als Patient*in solche übergriffigen Kommentare, unangemessene Komplimente und krude Theorien zu hören zu bekommen, ist perfide, weil man dem medizinischen Personal oft ziemlich ausgeliefert ist. Was tun in so einer Situation? Schluckst du deinen Ärger runter in der Hoffnung, dass der Mediziner zumindest fachlich einen guten Job macht? Oder widersprichst du und riskierst, dass der Arzt dich deshalb eventuell schlechter behandelt? Und woher eigentlich die Kraft nehmen, wenn Schmerzen und Sorgen gefühlt alle vorhandenen Ressourcen fressen? Insbesondere in einem Gesundheitssystem, in dem man als gesetzlich Versicherte*r kaum Termine bekommt und zur Diagnosestellung und Behandlung nur wenige Minuten vorgesehen sind, ist das Machtungleichgewicht riesig.

Und so liege ich jeweils dort, schlucke schwer und ärgere mich über diese Ungerechtigkeit. Hinzu kommt das schlechte Gewissen, weil ich um meine Privilegien als weiße, schlanke, heteronormativ gelesene cis Frau, die keine sichtbaren Behinderungen und Einschränkungen hat, weiß. Ich kann nur erahnen, wie viel ätzender solche Situationen für stärker marginalisierte Menschen sein müssen – und bin am Ende nicht nur sauer auf den Arzt, sondern auch auf diese ungerechte Welt.

Wie gefährlich Medical Gaslighting und Ungleichbehandlung in der Medizin sind, ist mittlerweile gut belegt. Ein anschauliches Beispiel liefert der Blick in die Statistik zu Herzinfarkten in Deutschland im Jahr 2023: Männer erleiden dreimal so oft einen Herzinfarkt wie Frauen, doch das Risiko, dabei zu sterben, ist für Frauen mehr als doppelt so hoch. (Quelle: Deutscher Herzbericht 2025, „Zeit“) Denn: Frauen zeigen andere Symptome, die oftmals viel zu spät erkannt werden. Hinzu kommt, dass die Behandlungsmethoden weiterhin stark auf den Männerkörper ausgerichtet sind. Und selbst wenn ein Herzinfarkt bei Frauen rechtzeitig behandelt werden kann, geht die Ungleichbehandlung weiter. Sabi Schwachenwalde verweist in deren Buch „Ungleich Behandelt“ auf Studien, die zeigen, dass Frauen, die nach einer Herz-OP über Schmerzen klagen, eher Beruhigungsmittel erhalten, während Männer eher Schmerzmittel erhalten.

Gerechtere Gesundheitsversorgung 

Das Bewusstsein für die medizinischen Unterschiede der Geschlechter wächst, insbesondere dank des unermüdlichen Engagements von Frauen im Bereich der Medizin und in aktivistischen Kreisen. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Überlebenschancen für Frauen steigen, wenn sie von weiblichem medizinischem Personal behandelt werden. Welchen Unterschied es macht, medizinisches Personal zu haben, das geschlechtersensibel arbeitet, habe ich am eigenen Leib erlebt.

Nachdem ich über Wochen nur von männlichen Ärzten behandelt wurde, traf ich in der Charité auf eine Ärztin, die etwa in meinem Alter war. Noch bevor sie auch nur ein Wort sagte, verriet mir ihr sichtbar getragenes Pride-Symbol, dass sie sich vermutlich in ihrem Blick auf die Welt stark von den älteren, weißen Ärzten abhebt, die mir zuletzt begegnet waren. Und tatsächlich bestätigte sich mein Eindruck innerhalb von Minuten, als sie sagte: „Das Medikament, das Sie aktuell nehmen, hat in Studien bei weiblichen Probandinnen deutlich häufiger zu Komplikationen geführt als bei männlichen Probanden. Ich schreibe Ihnen ein anderes Präparat mit dem gleichen Wirkprinzip auf, das sich bei Frauen bewährt hat.“

Seit jeher bevorzuge ich es, in medizinischen Belangen von FLINTA-Personen behandelt zu werden – und empfehle das insbesondere seit meinem Unfall allen, die es hören wollen. Das ist nicht immer möglich, insbesondere wenn es schnell gehen muss, sind wir alle froh, überhaupt einen Termin bei Fachärzt*innen zu erhalten, aber es ist zumindest ein Ansatz. Was auch helfen kann, wie ich in den vergangenen Monaten feststellen musste, ist: eine männliche Person mit in den Behandlungsraum nehmen. So tragisch es ist, auf solche Mittel zurückzugreifen, im Umgang mit patriarchalisch geprägtem Personal hilft es tatsächlich. Unangenehme Situationen erlebte ich vor allem, wenn mein Freund nicht dabei war. Seine Anwesenheit schien bei den oftmals männlichen Behandlern zu bewirken, dass man dem vorgetragenen Anliegen Gehör schenkte und respektvoll blieb.

Feministische Medizin e.V. bestärkt Patient*innen auf der Kampagnen-Website zudem darin, für ihre Rechte einzustehen, und zeigt ihnen Möglichkeiten auf, wie sie mit Medical Gaslighting und ähnlichen Situationen umgehen können. Zudem bietet das Projekt Behandelnden praktische Hinweise, wie man im Arbeitsalltag Stereotype reflektieren und für eine gerechtere Gesundheitsversorgung einstehen könnte.

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