Was passiert, wenn sich die von Natur aus sicherste Bindung der Welt unsicher anfühlt? Franziska Hohmann wächst mit einer schwer depressiven Mutter auf, kümmert sich, wird zur Seelentrösterin – und verliert sich selbst, bis der Alkohol übernimmt. Schonungslos und liebevoll erzählt sie, wie sie als erwachsene Fränzi Schritt für Schritt lernt, in Liebe loszulassen.
Seit sich Fränzi erinnern kann, verbringt ihre Mutter die meiste Zeit weinend im Bett. Was sie als kleines Mädchen nicht weiß: Ihre Mutter ist schwer depressiv. Zeitlebens nimmt die Krankheit mehr Raum ein als Fränzis Sorgen oder Wünsche – schon als Kindergartenkind kocht Fränzi für ihre Mutter und tröstet sie. Sie will als Kind vor allem alles richtig machen.
Franziska Hohmann hat lange Zeit versucht, ihrer kranken Mutter eine Stütze zu sein. In ihrem Buch erzählt sie, wie sie dabei selbst gnadenlos untergeht und alkoholkrank wird – und warum sie ihre Mutter trotz allem liebt und vermisst. „Ich bin mit einer schwer psychisch kranken Mutter aufgewachsen und selbst fast in den Abgrund gestürzt. Nun teile ich meine Geschichte, um Menschen zu erreichen, die Ähnliches erlebt haben oder gerade erleben. Mit diesem Buch möchte ich Mut machen, nicht aufzugeben.“ Ihre Geschichte macht Grautöne sichtbar und zeigt, wie man Vergangenheit loslassen kann, ohne sich von ihr abzuspalten.
„Sehr früh. In der Verlagswelt muss ja schnell alles in die Systeme – auch der Titel. Wir haben mit meiner Co-Autorin, unserer Agentin und der Lektorin viele Varianten hin- und hergeschickt. Allmählich wuchs daraus etwas Lautes. Irgendwann haben wir uns auf den Titel ,Gut, dass du nicht mehr da bist.’ geeinigt. Das war in your face – erst hat es mich selbst geschockt. Aber ich bin eine laute Person, und aufgewachsen mit einer Mutter, die schwer depressiv war, kann und darf ich sagen: Es ist gut, dass sie nicht mehr da ist – es ist gut, dass sie unter ihrer Krankheit nicht mehr leiden muss. Hinter dem Titel stehe ich vollkommen. Und bisher kam nur positives Feedback.“
„Ich habe sehr früh eine Elternrolle für meine Mutter übernommen – mal Tochter, mal Mutter, ein krasses Wechselbad. Als sie gestorben war und der Funktionsmodus – Beerdigung, Trauer – vorbei, fühlte es sich an, als würde jemand den Deckel abnehmen. Da kam dieses befreiende Gefühl. Ich musste nicht mehr ständig nach Hessen fahren, konnte wieder spontan reisen. Und trotzdem fehlt sie mir.“
„Im Jahr 2018 bin ich aus der Alkoholsucht rausgekommen, drei Jahre später starb meine Mutter. Ich habe dann mehr über meine Kindheit erzählt, und viele sagten: Schreib das bitte auf, es wird vielen anderen Menschen helfen. Ich traute mir das erst nicht zu. Über meine Mitbewohnerin lernte ich dann meine Co-Autorin kennen, die Journalistin und Autorin Nina Faecke. Wir haben lange Gespräche geführt, sie hat strukturiert, konzipiert, geschrieben – meine Geschichte in Worte gefasst. Die Erzählweise: Die Gegenwart aus meiner Ich-Perspektive und die Vergangenheit in der dritten Person – ,die kleine Fränzi’. Hinzu kamen Gesprächsprotokolle von Menschen, die mich begleitet haben, und am Schluss ein Interview mit der Psychologin Prof. Dr. Eva Asselmann, statt eines Glossars. Mir war wichtig, dass es eine echte Zusammenarbeit wird – volles Teamwork unter Frauen.“
„Wir haben uns zweimal eine Woche lang auf Mallorca verbarrikadiert und dann in Berlin weitergemacht. Intensive Interviews, Kapitelstruktur, erste geschriebene Seiten. Ich bin ein Kontrollfreak, wollte ständig lesen – aber Nina sagte: ,Vertrau mir.’ Nach fünf Monaten bekam ich einen großen Batzen. Dann habe ich gelesen, angemerkt, umgestellt, Worte getauscht – es ging zurück an sie, und wieder zurück zu mir. Die Interviews mit Wegbegleiter*innen habe ich unverändert gelassen – es sollte so authentisch wie möglich sein.“
„Absolut. Wir haben geweint, gelacht, Gänsehaut gehabt. Ich habe Nina ein Video mit vielen Fotos meiner Mutter gezeigt und ihr meine Grabrede vorgelesen – wir haben Rotz und Wasser geheult. Bevor sie in den Schreibtunnel abtauchte, waren wir uns Stütze. Es war nochmals ein reinigender Prozess. Im Juni war ich am Grab meiner Mutter, habe ihr einen dreiseitigen Brief vorgelesen und vom Buch erzählt. Das ließ mich ihre schwere Krankheit besser verstehen und bestärkte mich: Es ist gut, dass sie jetzt nicht mehr gegen die Krankheit ankämpfen muss. Und dass wir jetzt Frieden haben. Das wünsche ich vielen Menschen, die vielleicht verbittert auf ihre Mütter blicken.“
„Hätte sich meine Mutter mir früher mehr geöffnet und über ihre Krankheit gesprochen, wäre vieles anders gewesen. Pflegefamilie, Internat: Das war für sie sicher auch schwer. Sie konnte nicht darüber reden. Das geht vielen Eltern so. Vielleicht sollten Kinder ihre Eltern öfter fragen: ,Wie waren deine wilden Zeiten? Wie war es, Mutter zu sein?’ Solche Fragen stellt man selten, weil man von ,der Mutter’ unterbewusst erwartet, dass sie funktioniert. Die Distanz hat mir geholfen, sie als Individuum zu sehen und Frieden zu schließen. Ich möchte, dass Menschen offener in Dialog gehen – ehrlich fragen: ,Wie geht’s dir eigentlich?’ Kinder dürfen das auch ihre Eltern fragen, ohne gleich die Rollen zu tauschen.“
„In meiner Familie gab es nie wirkliches Familienleben, das kannte ich gar nicht. Ich habe viele Störfaktoren. In einer Talkshow sagte ich mal, dass ich ungern bei Freund*innen mit Kindern zu Abend esse. Im Internat war Abendessen eine Pflichtsituation – für mich ist Essen heute eher ein lockeres Happening. Dieses klassische ,Kinder bekommen eine Stulle und sitzen am Tisch' ist mir unangenehm.
Wir haben starke Glaubenssätze, wie Familie ,zu sein hat'. Es gibt viel Disharmonie – auch in vermeintlich idealen Prenzlauer-Berg-Familien, die vor 15 Jahren losgestartet sind. Es redet nur kaum jemand darüber. Man tut so, als sei alles cool – aber das ist es nicht.“
„Ja, ganz sicher. Ich habe vier, fünf beste Freundinnen und viele Wegbegleiter*innen – in jeder Stadt kann ich irgendwo übernachten. Aber das ist Arbeit: Sprachnachrichten, Nachfragen, Liebe zurückgeben. Ich neige zu negativen Gedanken, das ist typisch für Menschen, die süchtig waren. Dann sehe ich die Nachrichten von meinen Freundinnen am Morgen wie: ,Ich hab dich lieb’, ,Wie geht’s dir?’ Das ist ein Geschenk. Meine beste Freundin aus Musikbranchenzeiten, Ines, war kürzlich beim Frühstücksfernsehen dabei, einfach um für mich da zu sein. Und trotzdem erlebe ich viel Einsamkeit in Großstädten. Freundschaft sollte einen viel höheren Stellenwert haben, auch finanziell, steuerlich.“
„Das war ein Waldfest im Internat, ja. Ich weiß es noch genau, als wäre es gestern gewesen. Ich ließ das Zeug ins System – plötzlich tat vieles weniger weh. Und ich wollte dieses Gefühl wiederhaben. Meine Freundin Ramona erzählt in ihrem Protokoll im Buch, ich sei ein ruhiges Kind gewesen. Bis der Alkohol kam. Dann wurde ich der Klassenclown. Mein Wesen veränderte sich. Gefährlich wurde es dann zwanzig Jahre später – so ein Körper hält unfassbar viel aus. Alkohol war Motor und Medizin.“
„Anfang der 2000er war ich in der Berliner Musikbranche unterwegs. 2010 eröffnete ich einen Wein- und Delikatessenladen – nicht unbedingt ideal für jemanden, der zu viel trinkt. 2013 kehrte ich zu Universal zurück, suchte nach Struktur, während es meiner Mutter wieder schlechter ging und die Kindheit mich einholte. Ab 2015/16 trank ich morgens, wachte zitternd auf – die körperliche Abhängigkeit war da. Bei Frauen verläuft das oft steil bergab. Freund*innen machten Interventionen, meine Hausärztin sprach mich darauf an, und auch im Job wurde es Thema. Ich landete im ersten Entzug – insgesamt waren es fünf.
Ich habe fünf kleine Diamanten auf meinen Arm tätowiert – für jeden der fünf Entzüge einen. Der erste war in Berlin-Mitte, das ganze dauerte 16 Tage lang. Man kommt mit Promille an. Danach denkt man schnell: So schlimm war’s nicht. Das Absurde: Der Gedanke, nie wieder zu trinken, ist schlimmer als vieles andere. Mir hat der Satz ,Nur für heute’ sehr geholfen. Der letzte dreimonatige Entzug war der schlimmste Liebeskummer meines Lebens – ich war an Alkohol gebunden wie an Familie.“
„Ursprünglich hieß der Untertitel: ,Wie ich lernte loszulassen’. Meine Therapeutin sagte daraufhin: ,Du bist doch noch mittendrin. Ändere den Buchstaben.’ Und das tat ich dann auch. Man kommt nie vollständig weg – nicht von der Mutter, nicht von der eigenen Geschichte.
Heilen heißt: mich als Ganzes sehen. Und ganz wichtig: mich nicht schämen. Ich erzähle, dass ich Wodka in Unterwäsche-Schubladen versteckt habe, dass mich der Tod meiner Mutter erleichtert hat – und sofort öffnen sich andere Menschen, sagen: ,Ich kenne das.’ Teilen hilft heilen.“
„Genau das wollten wir erreichen: die kleine Fränzi sichtbar machen – mit Distanz, damit man es aushält, und doch so nah, dass es berührt. Die Idee hat sich während der Arbeit entwickelt. Nina schlug vor, es so zu machen, um Distanz und Nähe zu schaffen. Ich war erst skeptisch, habe dann aber gemerkt, wie sehr es hilft, die kleine Fränzi von außen zu betrachten. Das war fast wie eine zusätzliche Therapieebene: Ich konnte dieses Kind sehen, wie es durchs Leben stapft, und sagen: ,Mädel, du hast das krass gut gemacht.’ Und wenn es zu nah wurde, konnte ich in mein heutiges Ich zurückwechseln.“
„Zum ersten Mal kann ich sagen: Ich bin stolz auf sie. Ja, da ist Trauer um eine nicht gelebte Kindheit. Aber wichtig ist, nicht in der damaligen Dramatik stecken zu bleiben: annehmen, was war, und ehrlich mit dem Schmerz sein.“
„Oh, eine sehr große. Mein Leben ist schnell, die Musik spielt eine große Rolle – das alles steckt in diesem Buch. Ich schreibe jeden Tag eine Dankbarkeitsliste, die ich mit Nina teile. Ambivalenz ist ganz zentral: Lachen und Weinen, Hass und Liebe, Verletzlichkeit und Stärke – all das liegt sehr nah beieinander. Gefühle dürfen gleichzeitig existieren.“
„Erst Empörung, tiefstes Hessisch: ,Des geht doch gar net!’ Dann würde sie den Fame ein bisschen mögen. Am Ende säße sie hinten – stolz. Und vielleicht etwas traurig über das, was ihre Krankheit sie hat verpassen lassen.“
„Wir enden bei der Premierenlesung mit dem Song ,Wie geht es dir eigentlich?’ von Florian Künzler und Madeline Juno. Ich will, dass man sich umdreht und das ganz ernsthaft fragt. Und dass man Beziehungen prüft: Wer tut mir gut? Und: Von was darf ich mich befreien? ,Gut, dass du nicht mehr da bist’ – das gilt für Alkohol, für einen alten Arbeitgeber, für manches mehr. Und ich wünsche mir, dass wir ehrlicher mit Gefühlen werden.“
„Jede Situation verlassen zu können, wenn ich will. Autofahren, nüchtern, jederzeit. Spontan entscheiden, wohin ich morgen gehen will. Mir erlauben, zu denken und zu träumen – nach den Sternen zu greifen. Und ehrlich zu sein. Ja, für mich beginnt Mut mit Ehrlichkeit. Ich musste in meinem Job viel lügen. Heute habe ich die Freiheit, ehrlich zu sein.“
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