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Foto von Ärzt*in und Autor*in Sabina Schwachenwalde | © Paula Winkler
© Paula Winkler
Camille Haldner
18.07.2025 • 12:00
Gendermedizin & Health Gap 

„Unser Medizinsystem ist von Hierarchien, Machtmissbrauch und Misogynie geprägt“

Diagnose: Diskriminierung. So lautet die fachliche Einschätzung von Ärzt*in Sabina Schwachenwalde nach eingehender Betrachtung des deutschen Gesundheitssystems. Im Buch „Ungleich behandelt“ und bei uns im Interview erklärt Schwachenwalde, was schiefläuft und was dagegen getan werden kann. 

Im weltweiten Vergleich gilt Deutschland als eines der Länder mit einer besonders guten Gesundheitsversorgung. Aber gilt das wirklich für alle Patient*innen hierzulande? Ärzt*in und Autor*in Sabina Schwachenwalde bemängelt, dass ein System, das die meisten Menschen diskriminiert, nicht wirklich als gut bezeichnet werden kann. In „Ungleich behandelt – Warum unser Gesundheitssystem die meisten Menschen diskriminiert“ beleuchtet Schwachenwalde die historisch gewachsenen und bis heute andauernden Benachteiligungen in der Medizin. Leser*innen von „Ungleich behandelt“ verstehen schnell: „Marginalisierte Menschen leben kränker und sterben früher. Weil sie dem Dauerstress der Diskriminierung ausgesetzt sind, weil ihnen ihre Beschwerden nicht geglaubt, weil sie gewaltvoll in Normen gezwängt, weil uns die Daten und das Wissen über sie fehlen, weil sie ungleich behandelt werden.“ In „Ungleich behandelt“ seziert Sabina Schwachenwalde die Ursachen für Ungleichbehandlung und Unterversorgung in der Medizin und unterlegt diese mit zahlreichen Studien, neuesten Forschungsergebnissen und spannenden Anekdoten.

Im Gegensatz zu anderen Autor*innen, die sich in den vergangenen Jahren dem Thema gewidmet haben, beschränkt sich das Buch nicht auf den Health Gap zwischen Männern und Frauen, sondern beleuchtet die weit darüber hinausgehende Ungleichbehandlung marginalisierter Gruppen im Gesundheitssystem. Aufkommender Verzweiflung angesichts der zahlreichen Missstände, Leerstellen und Fehldiagnosen begegnet Schwachenwalde mit neuen Ideen, innovativen Ansätzen und Beispielen aus der neueren Medizin, die Hoffnung machen und zeigen: Es geht auch anders. Wie? Das lest ihr hier im Interview – und in ausführlicher Version natürlich im Buch.

In deinem Buch schreibst du: „Die Medizin ist nur auf einen sehr spezifischen Standard von Mensch ausgerichtet. Wer nicht in die definierten Gesellschafts-, Geschlechter-, Begehrens- oder Körpernormen passt, wird nicht nur vernachlässigt, sondern gefährdet.“ – Wann ist dir erstmals aufgefallen, dass es diese Norm in der Medizin gibt, und was muss man sich darunter vorstellen?

„Dieser Standardmensch – cis männlich, weiß und nicht-behindert – begegnet uns nicht nur in der Medizin, sondern in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Menschen, auf die diese Merkmale nicht zutreffen, werden als Abweichung von der angeblichen Norm betrachtet. Absurd ist, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht in diese medizinische und gesellschaftliche Norm passt. Wir bewegen uns in einem System, das auf eine zahlenmäßige Minderheit ausgerichtet ist.

Aufgefallen ist mir das erst, als ich mich im Studium mit feministischen Themen auseinandergesetzt und festgestellt habe, dass dieser Standardmensch überall ist: auf dem Podium im Hörsaal, in Anatomiebüchern, Fallbeispielen und Prüfungsfragen. Dabei wäre es entscheidend, Frauen und andere marginalisierte Gruppen in den Blick zu nehmen und die Verschränkungen dieser Benachteiligungen zu berücksichtigen.“

Für „Ungleich behandelt“ wolltest du herausfinden, warum manche Körper mehr und andere weniger umsorgt werden im Gesundheitssystem. Welche Erklärung hast du gefunden?

„Unser Medizinsystem ist stark von Hierarchien, Machtmissbrauch und Misogynie geprägt. Im Buch thematisiere ich nicht nur Diskriminierung im heutigen Gesundheitswesen, sondern beleuchte, wie sich diese Mechanismen historisch entwickelt haben und welche Rolle sie in der Etablierung und Aufrechterhaltung von Unterdrückungssystemen gespielt haben. Bestimmte Gruppen von Menschen schlechter zu behandeln, wurde vielfach als Machtinstrument eingesetzt, beispielsweise um Frauen aus dem öffentlichen Leben rauszuhalten.

Lange hieß es, das weibliche Gehirn sei ganz anders gestrickt als das von Männern, Frauenkörper seien nicht stark genug, um den Strapazen eines Studiums Stand zu halten und die Periode hindere Menstruierende daran, außerhalb des Haushalts zu arbeiten. Schwarze Menschen und People of Color wurden mittels rassistischer Körperstereotype als weniger wert markiert, was sich bis heute auf die Behandlung auswirkt. Angehende Ärzt*innen lernen beispielsweise nicht, wie sie bei Schwarzen und rassifizierten Menschen eine Blässe bei innerer Blutung oder Hautausschlag, der auf eine Hirnhautentzündung hindeutet, erkennen.

In der Medizin geht es bis heute um Deutungshoheit und gesellschaftliche Stellung. Wer darüber bestimmt, was als krank und was als gesund oder normal gilt, hat Macht. Ärztliche Gutachten beispielsweise entscheiden über die Geschäftsfähigkeit von Menschen. Und selbst bei einer Routineuntersuchung kann die Art, wie medizinisches Personal Patient*innen begegnet, enormen Einfluss auf deren Zukunft haben.“

Wie erlebst du als Mediziner*in den Umgang mit den Machtdynamiken im Gesundheitssystem?

„Ich habe den Eindruck, dass vielen Mediziner*innen gar nicht bewusst ist, welche Machtposition sie innehaben. Die Art und Weise, wie wir in Studium, Ausbildung und Beruf sozialisiert werden, regt nicht dazu an, diese Ungleichheit und daraus entstehende Dynamiken zu reflektieren und zu hinterfragen. Vielmehr werden wir Ärzt*innen darauf konditioniert, gegenüber Patient*innen das Gesicht zu wahren und möglichst keine Fehler zuzugeben, weil uns das angeblich unglaubwürdig macht.

Dieses Denken halte ich für falsch. In der Medizin bräuchte es eine bessere Fehlerkultur, die uns Ärzt*innen erlaubt zuzugeben, dass auch wir nur Menschen sind und eben nicht alles wissen. Doch wir haben in der Ausbildung nicht gelernt einzugestehen, dass wir bei manchen Krankheitsbildern erstmal keine Diagnose stellen können. Das muss im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass ein*e Patient*in nichts hat. Vielmehr kann es sein, dass keine der Diagnosen und Medikationen, die wir zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung haben, zu dem Krankheitsbild passt.“

Foto von Ärzt*in und Autor*in Sabina Schwachenwalde. | © Tristan Heß
© Tristan Heß
Ärzt*in und Autor*in Sabina Schwachenwalde.

Gibt es ein Beispiel aus deinem Berufsleben, in dem besonders stark sichtbar wurde, wie Macht missbraucht und der Umgang damit nicht kritisch reflektiert wurde?

„Im Buch erzähle ich von einer solchen Situation. Das aufzuschreiben, ist mir nicht leichtgefallen. Dazu musste ich erst reflektieren, inwiefern ich selbst innerhalb des Systems übergriffig gehandelt habe und Teil einer gewaltvollen Praktik war: Dabei wird an Frauen, die für eine anstehende Operation narkotisiert wurden, die manuelle gynäkologische Untersuchung geübt, ohne dass dafür ihr Einverständnis eingeholt wurde. Bei der Buchrecherche stellte ich fest, dass das kein Einzelfall ist, sondern Teil eines größeren strukturellen Problems. Die Autorin Mona Chollet beschreibt in ihrem Buch, dass es im französischen Gesundheitssystem zu ähnlichen Situationen kommt wie in Deutschland.

Ich habe damals sehr mit den Vorgaben von oben und dieser Art zu lernen, gehadert, am Ende aber eben auch nicht protestiert. Viele Mediziner*innen, die auf diese Grenzüberschreitung angesprochen werden, sind sich keiner Schuld bewusst. Sie agieren im Selbstverständnis, dass diese Praktik nun einmal Bestandteil der Ausbildung von Ärzt*innen sei und ihnen zustehe. Deshalb ist es wichtig, ein Bewusstsein für solche Probleme zu schaffen und Menschen dadurch die Chance zu geben, sich selbst zu hinterfragen sowie die eigene machtvolle Rolle und den Umgang damit zu reflektieren.“

In deinem Buch beschreibst du eine Folge dieser fehlenden Selbstreflektion, sogenanntes „Medical Gaslighting“. Ein Satz ist mir dazu besonders in Erinnerung geblieben: „Es geht nicht um die Patient*innen, es geht ums patriarchale Prinzip“. Was meinst du damit?

„Long Covid ist ein gutes Beispiel für dieses Phänomen: Da an vielen Stellen Wissen zu dem Krankheitsbild fehlt, kommt es zu Gaslighting seitens der Ärzt*innen, die sich vor dem Verlust der Deutungshoheit – die nun mal mit gesellschaftlicher Stellung und Macht einhergeht – fürchten. Das kann sich darin äußern, dass Patient*innen vom medizinischen Personal nicht ernst genommen, ihnen Symptome abgesprochen, ihre Beschwerden verharmlost oder sie sogar für die Erkrankung verantwortlich gemacht werden.

Aus Studien wissen wir zudem, dass bestimmten Gruppen von Menschen eher Glauben geschenkt wird. Schwarze Menschen, People of Color und weiblich gelesene Personen werden weniger ernst genommen als Männer. Bei behinderten Menschen werden Beschwerden oft auf die Behinderung geschoben. Das gleiche Phänomen beobachten wir bei mehrgewichtigen Menschen, deren Gewicht als Ursache für all ihre Probleme angeführt wird.

Solche Diskriminierungen geschehen vermutlich nicht immer bewusst, aber ihnen zugrunde liegt die gefährliche Vorstellung der ,Halbgötter in Weiß‘, zu denen Mediziner*innen medial und gesellschaftlich bis heute stilisiert werden. Natürlich ist das ein anspruchsvoller Beruf, dem eine intensive und langjährige Ausbildung vorangeht, aber wir sollten Ärzt*innen von ihrem Podest herunterholen – oder vielmehr sollten wir Mediziner*innen an uns selbst den Anspruch haben, davon herunterzusteigen. Genau dieses imaginäre Podest führt nämlich dazu, dass wir uns über andere Menschen stellen und unsere Bedeutung überhohen, ohne dass das gerechtfertigt wäre.“

Zur Person: Sabina Schwachenwalde, geboren 1991 in Neuruppin, ist Ärzt*in und Feminist*in. Während des Studiums in Berlin, Istanbul und Melbourne forschte Sabi zu medizinischer Versorgung von Frauen aus eingewanderten Familien, schrieb journalistische Texte und setzte sich ehrenamtlich für gesundheitspolitische Themen ein. Durch die Arbeit in der Geburtshilfe kennt Sabi das Gesundheitssystem aus ärztlicher Perspektive, seit der eigenen Post-Covid Erkrankung auch aus Patient*innensicht. Derzeit lebt Sabi Schwachenwalde in Hamburg und arbeitet inzwischen wieder ärztlich in einer Praxis für Allgemeinmedizin.

Du bist während der Pandemie an Long Covid erkrankt. Wie erlebst du das deutsche Gesundheitssystem aus deiner besonderen Perspektive als Patient*in und Ärzt*in zugleich?

„Auf der theoretischen Ebene habe ich mich bereits vor meiner Erkrankung mit dem Verhältnis zwischen Patient*in und Mediziner*in auseinandergesetzt. Als Long Covid-Erkrankte*r kann ich das Patient*innen-Erleben nun aber auf der emotionalen Ebene besser nachvollziehen und habe eine neue Empathie entwickelt. Der größte Unterschied zwischen der Perspektive als Ärzt*in und Patient*in ist der Faktor Zeit. Als Ärzt*in hatte ich permanent das Gefühl, nicht hinterherzukommen, weil der Workload so hoch war. Ich wusste oft nicht, wo mir der Kopf steht, bin von einem Patienten zur nächsten gerannt, habe versucht, möglichst viel abzuarbeiten und kam trotz vieler Überstunden nicht hinterher.

Als Patient*in wiederum habe ich mich ausgebremst gefühlt – und das nicht nur durch die Symptome. Allein die Anzahl Stunden, die ich in Wartezimmern verbracht habe. Ich wusste bereits vor meiner Erkrankung, dass Patient*innen sehr lange warten müssen. Aber man entwickelt als Betroffene*r ein anderes Verständnis dafür, was es bedeutet, mit Beschwerden stundenlang warten gelassen zu werden. Ich konnte mich teilweise kaum auf den Stühlen im Wartezimmer aufrecht halten, weil ich so schlapp war. Nach solchen Strapazen dann fünf Minuten eine Ärztin sprechen zu können, die kaum Zeit hat, sich eingehend mit Patient*innen zu befassen und zu merken, dass man nur eine von vielen Nummern ist, war auf unschöne Art einprägsam.“

Wenn wir die Perspektive wechseln – weg von den Patient*innen hin zu den Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten: Wie hast du das erlebt? Wo siehst du mögliche Lösungen, um der Care-Krise, die sich durch fehlende Fachkräfte immer weiter verstärkt, etwas entgegenzusetzen?

„Ich zitiere im Buch mehr als eine Studie mit mehreren tausend Befragten, in denen sich gezeigt hat, dass ehemalige Pflegekräfte in den Beruf zurückkehren würden, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Diese Ergebnisse lassen sich vermutlich auf Ärzt*innen übertragen, die aus dem Beruf ausgestiegen sind. Ich habe mich in den vergangenen Jahren stets in diesem Zwiespalt aus Liebe für den Beruf und Wut über die untragbaren Bedingungen bewegt. Und so geht es vielen Kolleg*innen.

Im Gesundheitssystem zu arbeiten, wäre eigentlich etwas Schönes, aber nicht unter den aktuellen Bedingungen, die es unmöglich machen, schon nur Grundbedürfnisse abzudecken. Wir können die Arbeit nach Feierabend nicht liegenlassen und am nächsten Tag weitermachen, solange Krankenhaus-Patient*innen uns akut brauchen, deren Leben teilweise von uns abhängen. Und genau dieser Umstand wird ausgenutzt und jeweils an unsere Verantwortung und Moral als medizinisches Personal appelliert.

Wir befinden uns hier in einem Teufelskreis: Je knapper das medizinische Personal, desto schlechter die Arbeitsbedingungen und umso mehr Menschen steigen aus dem Beruf aus. Wir müssen dringend überlegen, wie wir medizinische Berufe so gestalten, dass sie für Menschen langfristig und realistisch ausübbar sind, ohne dass das Personal immer am Limit läuft.“

Lange wurden Medikamente nur an Männern getestet, inzwischen ist bekannt, welche negativen Auswirkungen das hat. In Deutschland gibt es mittlerweile eine offizielle Empfehlung, Medikamente auch an Frauen zu testen, aber keine verbindliche Vorgabe. Die gesellschaftliche und mediale Debatte über Missstände in der Medizin scheint etwas zu bewirken und doch wird das System lange nicht allen Menschen gerecht. Wie ist dein Eindruck: Wird das Wissen um patriarchale Missstände in der Medizin genutzt, um Versorgungs- und Wissenslücken effektiv zu schließen?

„Bei Wissens- und Forschungslücken ist Awareness wichtig, aber ein weiterer Faktor entscheidender: Geld. Im Buch beleuchte ich, wie viel von finanziellen Aspekten abhängt und nach welchen Profitlogiken unser Gesundheitssystem funktioniert. Finanzielle Interessen entscheiden darüber, was erforscht wird und was nicht oder auch wofür Gelder zur Verfügung stehen. Laut dem Deutschen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen bringen 60 Prozent der neu auf dem Markt zugelassenen Medikamente keinen Zusatznutzen im Vergleich zu davor existierenden Produkten. Wenn wir also Datenlücken füllen wollen, müssen wir uns dazu verpflichten, Krankheiten zu erforschen, die einerseits viele Menschen betreffen und andererseits viel Leid verursachen. Das ist im Moment nicht der Fall.“

Sondern? 

„Es gibt überproportional viel Forschung und Medizin zur Behandlung von Erektionsstörungen, von denen aber nur etwa 19 Prozent der Menschen mit Penis betroffen sind – im Gegensatz zum prämenstruellen Syndrom, unter dem ein Großteil der Menstruierenden leidet. Dieser ,Funding Gap‘ existiert nicht nur im Vergleich zwischen den Geschlechtern, sondern auch mit Blick auf globale Gesundheit. Es gibt unverhältnismäßig viel Forschung zu Haarausfall im Vergleich zur Erforschung von Malaria-Medikamenten. Krankheiten wie Malaria, Denguefieber oder Ebola betreffen mehrheitlich ärmere Menschen, was wiederum kein lukrativer Absatzmarkt ist für Pharmafirmen, weil sich Betroffene die teuer entwickelten und hochpreisigen Medikamente nicht unbedingt leisten können.

Welche Krankheiten erforscht und wofür Medikamente entwickelt werden, hängt davon ab, wer im Forschungsbereich repräsentiert wird und wer die potenziellen Käufer*innen sind. Das finde ich schlimm. Letztlich krankt das ganze System daran, dass es nach kapitalistischen Profitlogiken aufgebaut wurde. Gesundheitsökonom*innen – allein diese Bezeichnung ist ein Widerspruch in sich – haben das Medizinsystem den Regeln des Marktes unterworfen.“

In deinem Buch schreibst du auch über Ageismus. Ich las dort das erste Mal den Begriff der „Altersrationierung“ in Bezug auf Gesundheitsökonomie und war ziemlich geschockt von den Beispielen, die du exemplarisch dafür aufführst. Magst du ein Beispiel dafür nennen und erzählen, was es damit auf sich hat?

„Durch die Ökonomisierung des Medizinsystems funktioniert Gesundheit wie eine Ware, bei der sich Wirtschaftler*innen die Frage nach der Effizienz stellen. Das ist erstmal nicht per se unmenschlich. Es kann sinnvoll sein, sich zu überlegen, ob man eine sehr alte Person mit medizinischen Prozeduren quält, um ihr Leben zu verlängern, ohne dass dabei die Lebensqualität steigt.

Gleichzeitig wird darüber nachgedacht, ob und wie medizinische Versorgung mit dem Alter oder Gesundheitszustand begrenzt wird, um Kosten zu sparen. Im Vergleich zu einer jüngeren Person wird einem alten Menschen aus wirtschaftlichen Gründen dann vielleicht eine bestimmte Behandlung vorenthalten. Dieses höhere Einsparpotenzial bei älteren Menschen wird in der Gesundheitsökonomie eben Altersrationierung genannt.

Die Logik, die dahintersteckt, ist sehr unmenschlich und nimmt das individuelle Leben nicht in den Blick. Das Problem sind dabei nicht einzelne Ärzt*innen, sondern die Funktionsweise des Gesundheitssystems. Daraus entsteht aber natürlich eine Mentalität, bei der medizinisches Personal darin geschult wird, nach solchen Logiken zu denken – und das steht dem menschlichen Ansatz entgegen.“

Was kann getan werden, damit Gesundheitsversorgung sich nicht an Privilegien orientiert, sondern alle Menschen gut versorgt werden?

„In erster Linie sehe ich die Politik in der Pflicht, Lücken zu identifizieren, entsprechende Forschung zu priorisieren und Geld zu investieren, um bestehende Ungerechtigkeiten auszugleichen. Teilweise geschieht das inzwischen, das haben wir beispielsweise bei der Forschung zu Endometriose gesehen. Dort haben Patient*innenvertretungen und Aktivist*innen die Debatte ins Rollen gebracht – und die Politik hat das Thema aufgegriffen. Das ist eine gute Entwicklung. Wir können das Gesundheitssystem nicht von heute auf morgen ändern, doch es existieren Ansätze, um das bestehende System fairer zu gestalten.“

Gendermedizin erhält zunehmend Beachtung, dabei geht es in der Regel aber um sogenannte Frauenkrankheiten. Nehmen wir als Beispiel einen transgeschlechtlichen Mann – da kommt zu mangelndem Wissen über Menschen mit Uterus, was auf manche trans Männer zutrifft, auch noch fehlendes Wissen über Transmedizin. Du schreibst im Buch, dass es bei Gendermedizin darum gehen sollte, Gesundheit für alle Geschlechter zu ermöglichen, also geschlechtersensible Medizin. Inwiefern kann man allen gerecht werden?

„Genau, Gendermedizin bedeutet nicht, lediglich Frauen stärker in den Blick zu nehmen, sondern genderspezifisch zu schauen, was Menschen brauchen. Wie der Name Gendermedizin schon sagt, sollten wir gute Gesundheitsversorgung für alle Geschlechter ermöglichen, also auch für intergeschlechtliche, trans und nicht-binäre Menschen. Übrigens fehlen uns auch zu cis Männern Daten, beispielsweise in Bezug auf psychische Erkrankungen oder Essstörungen. Ich zitiere im Buch die Gendermedizinerin Amma Yeboah, die die sogenannte Precision Medizin anführt, die in Großbritannien bereits stärker vertreten ist. Dabei versucht man, bestehende Kategorien aufzubrechen und im Einzelfall zu schauen, was ein*e Patient*in braucht, der*die gerade vor einem sitzt und welche physischen und psychischen Faktoren die Person mitbringt. In der ,präzisen Medizin‘ geht es darum, die verschiedenen Ebenen von Geschlecht differenziert zu betrachten. Denn biologisches Geschlecht wird nicht einheitlich definiert. Vielmehr gibt es viele verschiedene Faktoren wie Chromosomen, Genitalien, Hormone, Psyche und dazu noch Variationen auf all diesen Ebenen. Diese differenzierte Betrachtung ist auch über Gender hinaus sinnvoll.“

Inwiefern?

„Ein vereinfachtes Beispiel: Bei der Kontrolle von Blutwerten wird uns gesagt, ob wir im Normbereich liegen oder nicht. Doch dieser Normbereich folgt einer statistischen Berechnung. Dabei wurde anhand einer Gruppe Menschen untersucht, in welchem Bereich sich der Großteil bewegt – und hat den zur Norm gemacht. Dabei müsste man sich eigentlich fragen, anhand welcher Gruppe Menschen dieser Normbereich berechnet wurde. Handelte es sich bei der untersuchten Gruppe vielleicht nur um cis Männer? Darüber verraten uns die Normbereiche nichts. Deshalb kann es sein, dass der Blutwert einer einzelnen Person außerhalb des Normbereichs liegt, jedoch für ihre persönliche Gesundheit unproblematisch ist. Patient*innen wird in vielen Fällen dann aber gesagt, dass ein erhöhter Wert ein Problem sei.

Es ist nachvollziehbar, dass es diese Kategorien in der Medizin gibt, um Anhaltspunkte zu haben, mit denen sich arbeiten lässt. Allerdings müssen wir lernen zu unterscheiden, an welcher Stelle diese Kategorien hilfreich und an welcher Stelle sie schädlich sind. Möglichst vielen Menschen in der Medizin gerecht zu werden, ist mit Kosten und Aufwand verbunden. Doch statt zu fragen, ob individualisierte und diskriminierungssensible Forschung nötig ist, sollten wir vielmehr schauen, wie wir sie ermöglichen können.“

„Feminismus ist die beste Medizin in einem diskriminierenden System“, schreibst du in „Ungleich Behandelt“. Welche Behandlung oder Medizin würdest du also dem deutschen Gesundheitssystem verschreiben?

„Tatsächlich gibt es nicht das eine Medikament, das ich empfehlen kann. Vielmehr muss an verschiedenen Stellschrauben gedreht werden. Eine Behandlung, die sich aus verschiedenen Ansätzen und Medikamenten zusammensetzt, finde ich deshalb das passendere Bild. Selbstreflexion wäre eines der Medikamente, das ich dem Gesundheitssystem verschreiben würde. Medizinisches Personal muss sich selbst, das eigene Verhalten und Vorurteile reflektieren und dieses Wissen in die Behandlungspraxis miteinbeziehen. Dann müssen die Arbeits- und Rahmenbedingungen menschenwürdiger gestaltet werden, für alle Beteiligten. Ohne wird es schwierig, irgendwas zu verbessern.

Außerdem würde ich unabhängige Anlauf- und Meldestellen verschreiben, an die sich Menschen wenden können, die im Medizinkontext Übergriffe oder Diskriminierung erleben. Geld ist ein weiterer entscheidender Faktor und dabei vor allem die Priorisierung marginalisierter Gruppen. Das ist auch die Essenz meines Buches: Ich wünsche mir besonders viel Fürsorge, Ressourcen, Aufmerksamkeit und Zeit für besonders stark marginalisierte Menschen. Das wird an anderen Stellen im Gesundheitssystem bereits so gehandhabt: Menschen, deren Gesundheitszustand kritisch ist, kommen auf die Intensivstation, die eine besondere Versorgung und Zugriff auf viele Ressourcen ermöglicht. Dieses Konzept sollten wir auf soziale Faktoren übertragen und Menschen, die Diskriminierung in ihrem Leben erfahren und viele Belastungen haben, weil sie mehrfach marginalisiert sind, sollten entsprechend viele Ressourcen zugeteilt werden.“

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