Das Sexshopkollektiv „Fuck Yeah“ im Hamburger Gängeviertel will die Sextoy-Industrie neu denken und dabei einen Safer Space für queere FLINTA schaffen. Im Interview sprechen wir mit Mitbegründer*in Zarah über die Entstigmatisierung der Sexualität, feministisches Sextoydesign und darüber, was sie von anderen Sexshops unterscheidet.
Neben der vollgestickerten Eingangstür, wie es im Hamburger Gängeviertel üblich ist, befindet ein großes, offenes Schaufenster. Oben drüber steht „Fuck Yeah Sexshopkollektiv“. Es ist bunt dekoriert, feministische Bücher und Merchandise sind ausgestellt – und natürlich Dildos, Vibratoren und Co.
Wir treffen uns mit Zarah Henschen, eine*n der Gründer*innen des Kollektivs, direkt im Geschäft. Während Zarah uns Tee und Kaffee aufsetzt, dürfen wir uns umschauen. Der Laden besteht aus einem großen Raum mit einer Empore und darunter einer kleinen Nische mit Bücherregalen. Durch das große Fenster ist es hell und es wirkt gemütlich. Zarah erklärt, das gehöre zum Konzept: „Das Konzept queerfeministischer Sexshops ist, einen Raum mit einer feministischen Brille auf Sexualität, Lust und Körper zu schaffen – und das äußert sich zum Beispiel in diesem Teppich. Alle querfeministischen Sexshops, die ich kenne, haben einen Teppich, weil das eine Wohlfühlatmosphäre schafft. Man soll sich heimisch fühlen. Auch Pflanzen sind eher besonders für den Einzelhandel. Man sieht bei Orion nicht, dass sich jemand die Zeit und Mühe macht, Pflanzen zu gießen. Das zeigt, dass wir uns um den Raum hier kümmern.“
Zarah gibt uns eine Tour durch die Abteilungen. Auffällig ist, dass es im Gegensatz zu herkömmlichen Sexshops es hier keine Männer- und Frauenabteilungen gibt. „Es gibt Frauen mit Penis, es gibt Männer mit Vulva, es gibt nicht-binäre Personen, für die die Bezeichnungen gar nicht zutreffen“, erzählt Zarah. „Deshalb sind die Produkte nach Funktion sortiert. Wir haben eine Penisecke, da hinten sind Produkte zum Einführen und hier sind zum Beispiel Produkte zum Auflegen.“
„Ein queerfeministischer Sexshop lebt davon, dass man die Produktauswahl so gestaltet, dass sie Sinn für den Körper ergibt. Dazu gehört auch, dass wir besonders auf Materialien achten – wir verkaufen hauptsächlich Produkte aus Silikon. Darauf muss man achten, weil es beispielsweise von der EU für Sextoys keine Vorgaben gibt. Viele Kunststoffe sind nicht für Schleimhäute geeignet, weil sie Weichmacher beinhalten, die krebserregend oder hormonell wirken können.
Die Materialien, die sich teilweise in Sextoys befinden, dürften nie für eine Backform oder für Kinderspielzeuge oder Schnuller verwendet werden, weil diese ja auch mit Schleimhäuten in Kontakt kommen, wenn Kinder sie in den Mund nehmen. In herkömmlichen Sexshops ist, glaube ich, oft der Gelbeutel wichtiger als der Körper und die Gesundheit der Menschen.“
„Es ist sozusagen mein Hobby, mir im Urlaub die lokale Sexshop-Szene anzuschauen. Hier in Hamburg kenne ich auch alle Läden auf der Reeperbahn und Co. Die Produkte, die dort verkauft werden, sind für mich wirklich schlimm. Viele davon sollte man höchstens mit einem Warnhinweis verkaufen, dass man sie nur mit Toycover oder Kondom benutzen sollte. Andere Produkte sollte man gar nicht verkaufen, wie zum Beispiel Analtoys, die keine oder eine sehr kleine Horizontalsperre besitzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese ‚verschwinden‘ und in der Notaufnahme entfernt werden müssen, ist sehr hoch. Das ist für alle Seiten unangenehm und vermeidbar.
Das Schlimme ist, nicht nur die Sexshops, die diese Produkte verkaufen, interessiert es nicht, sondern auch auf der Ebene darüber: die Produzenten. Als ich hier angefangen habe, dachte ich, die Leute, die Sextoys produzieren, seien total cool. Aber letztendlich sind es auch nur Businessleute im Anzug. Vielleicht in Turnschuhen, weil sie etwas alternativer sind, doch sie kümmern sich nicht um Körper und Sexualität, sondern nur um Absatzzahlen. Ein absurdes Beispiel, das ich mal gesehen habe, war ein Analplug, an dem der Knopf zum Ein- und Ausschalten am Stiel war, also an dem Teil des Produkts, der eingeführt wird. Da hat sich niemand Gedanken darüber gemacht, wie der benutzt wird und trotzdem kommen davon 50.000 Stück auf den Markt.“
„Eine Sache, die ich wirklich gerne verkaufe, sind diese ‚Bufferringe‘. Die können zum Beispiel über ein Toy oder den Penis gestülpt werden und verringern so die Eindringtiefe und wirken wie ein ‚Stoßdämpfer‘. Das ist für Menschen interessant, deren Cervix relativ weit vorne ist oder die aus welchen Gründen auch immer Schmerzen beim Eindringen haben. Dieses Produkt finde ich besonders smart, weil es zwei Themen – Sexualität und Schmerzen – miteinander vereint, die in der Regel nie von der Industrie thematisiert werden würden. Die Firma dahinter ist ein kleines Startup aus Amerika, das über ein Crowdfunding realisiert wurde.
Es ist, wie ich finde, ein sehr feministisches Produkt, gerade weil es den Penis sozusagen ‚verkürzt‘ und individuelles Schmerzempfinden thematisiert. Deshalb wäre es auf ‚natürliche Weise‘ nie auf den Markt gekommen. Hier wird deutlich, was alles möglich wäre, wenn man mal die richtigen ranlassen würde und nicht die Industrie den Markt bestimmen lassen würde.“
„Das hoffen wir natürlich. Es ist zumindest das Ziel unseres Konzepts: Offen für alle zu sein, mit einem großen Herz für queere FLINTA. Natürlich haben wir auch Produkte für cis Männer mit Penis, aber da legen wir nicht unseren Fokus drauf und das merkt man auch hier im Alltag – uns besuchen deutlich mehr lesbische Pärchen mit Vulven als schwule Pärchen mit Penissen. Für letztere gibt es auch an anderen Orten spezialisiertere Shops.
Dennoch war es uns sehr wichtig, mit unserem Konzept die Mitte der Gesellschaft zu erreichen, deswegen hängt hier auch keine große Antifa-Flagge oder so etwas. Wir möchten den Laden niedrigschwellig halten und erreichen, dass sich auch Leute zu uns trauen, die mit politischen Themen noch gar nichts zu tun haben.
Manchmal kommt ein hetero cis Mann herein und sucht etwas für seine Freundin. Dann frage ich zuerst ganz einfach: ‚Welches Genital hat die Freundin denn?‘ So eine kleine Frage kann bereits einen riesigen Denkanstoß geben. Genauso unsere Produktauswahl und -präsentation: Menschen sehen unsere Regale mit Produkten für trans Personen und stellen manchmal interessierte Fragen.
Um insgesamt einladend zu wirken, lassen wir beispielsweise das Schaufenster offen. Ich glaube, das macht viel, weil unsicherere Menschen von außen reinschauen können und sich so vielleicht eher hereintrauen. Außerdem machen wir regelmäßig die Toynights. Das ist quasi eine Einführungsveranstaltung, um aufzuzeigen, welche Sextoys es eigentlich gibt und wie sie funktionieren. An diesen Abenden kommen viele Menschen, die uns zum ersten Mal besuchen oder die sogar zum ersten Mal in ihrem Leben einen Sexshop betreten.“
„Es passiert sehr häufig, dass Kund*innen – gerade die, die zum ersten Mal kommen und etwas unsicher sind – mich und meine Kolleg*innen fragen, was wir gerne benutzen. Darauf antworten wir immer, dass das eigentlich gar nicht relevant ist, weil Körper und Lust so unterschiedlich sind, dass mein Lieblingstoy vielleicht gar nicht zu ihnen passe. Ich sehe es als Kompliment, dass mir jemand so vertraut, meine Meinung wertschätzt. Dennoch versuchen wir in der Beratung eher herauszufinden, was die individuelle Person brauchen könnte.
Unser Anspruch ist eine solidarische Beratung. Es geht uns nicht darum, irgendetwas aufzuschwatzen – das wäre oft ziemlich einfach, weil viele Menschen gerade mit dem Thema Sexualität so viele Unsicherheiten haben. Wir könnten diese Situation ausnutzen, aber das ist nicht unsere Herangehensweise. Wir schauen wirklich, was für die individuelle Person in dieser Situation am besten passt – und wenn sie am Ende nichts Passendes findet, dann ist das auch in Ordnung.
Wenn eine Person unsicher ist, empfehle ich, wieder nach Hause zu fahren, ein paar Nächte drüber zu schlafen, danach wiederzukommen und zu schauen, ob es sich immer noch gut anfühlt. Das ist einfach authentischer und ich glaube, dass die Kund*innen das auch merken. Sie kommen gerne wieder, weil sie sich gut beraten und ernstgenommen fühlen.“
„Mein persönlicher Themenschwerpunkt liegt bei intersektionaler Sexualpädagogik, also bei den Überschneidungen zwischen Sexualität und Themen wie Behinderung, Rassismus oder Alter. Ich bin gelernte Kulturwissenschaftlerin, daher kommt mein Interesse an queerfeministischen Themen. Doch auch schon vor meinem Studium habe ich mich in politischen Kreisen viel mit Kapitalismuskritik, Gender und Feminismus auseinandergesetzt. Als wir die Idee mit dem Sexshop hatten, habe ich nachträglich noch eine Ausbildung zur Sexualpädagogin gemacht.
In der Praxis habe ich zum Beispiel letztens erst einen Workshop zu den Themen Sexualität und Behinderung entwickelt. Dort stellen wir uns die Frage, wie Sextoys für behinderte Menschen beim Sex unterstützend wirken können. Bald entwickle ich einen weiteren Workshop zu Sexualität und Menopause. In der Regel gehe ich immer von der Frage aus, wie Sextoys verschiedene Menschen auf unterschiedliche Art und Weise unterstützen können.“
„Das finde ich sehr schön, das ist uns auch wichtig. Wir wollen auf keinen Fall den Eindruck erwecken, wenn du queer bist, musst du das und das machen oder ausprobieren. Im Gegenteil: schau es dir an und überlege dir, ob es was für dich ist. Kannst du es dir vorstellen? Ist es mit Lust besetzt oder reizvoll? Wenn nicht, dann lass es auch.
Die klassischen, berühmten deutschen Onlineshops bewerben Produkte oft mit dreifachen oder multiplen Orgasmen. Muss das sein? Diesen ‚Leistungsdruck‘ wollen wir auf jeden Fall rausnehmen.“
„Ja, die Abteilung nennen wir ‚Gender Expression‘ oder ‚Gender Affirming‘ – wir nutzen das Lehnwort aus dem Englischen, weil im Deutschen die Worte dafür noch fehlen. Das sind Produkte, die den eigenen Geschlechtsausdruck und die eigene Gender Performance, dahingehend verändern, dass es sich besser für einen anfühlt. Sodass die eigene Lebensrealität zum Gender, manche sagen auch gefühltes Geschlecht, einer Person passt. Man nennt das auch ‚Gender Euphoria‘. Darüber hinaus sind die Produkte auch wichtig zum ‚Passing‘. Also dafür, um von anderen Menschen als das richtige oder passendere Geschlecht wahrgenommen zu werden.
Wir haben Binder, Kompressionsoberteile, die das Brustgewebe flachdrücken, um eine maskulinere Optik zu erzielen. Dann gibt es Packer zum Einlegen in die Unterhose, die eine Beule erzeugen. Die sind von Gewicht und Form ähnlich zu einem Penis. Die Pendants zu diesen beiden Produkten sind Brustprothesen und Tucking-Panties und -Gaffs.
All diese Produkte gibt es im klassischen Einzelhandel gar nicht. Es gibt einfach keine Läden, wo so etwas verkauft wird. Dabei sind gerade die Textilprodukte solche, die man anprobieren sollte, bevor man sie kauft. Binder greifen stark in die Atmung ein. Für die eigene Sicherheit und Gesundheit ist es sehr wichtig, dass sie gut passen.
Ich fände es mega cool, wenn es einen spezialisierten Shop gäbe, doch den gibt es nicht. Und da wir sowieso versuchen, hier einen Safer Space zu schaffen, dachten wir uns, dass es vielleicht eine ganz gute Umgebung für diese Produkte ist – wo Menschen sich auch wohlfühlen, hinzukommen. Natürlich passt es auch einfach zu uns, weil wir uns als queerfeministischer Sexshop bereits viel mit diesen Themen beschäftigen.
Unser Vorteil zu einem spezialisierten Shop ist, dass man sich hier nicht outen muss. Wenn jemand hereinkommt, ist nicht sofort ersichtlich, ob die Person einen Binder oder Brustprothesen sucht – sie könnte genauso gut einfach nur eine Postkarte kaufen wollen. Und dadurch, dass wir hier im Laden keine Pornographie und keine Darstellungen von Genitalen und nackten Körpern haben, können hier auch Jugendliche ohne Eltern oder Betreuer*in reinkommen.
‚Normale‘ Sexshops, zum Beispiel auf der Reeperbahn, sind ab 18, weil sie Pornos verkaufen. Weil wir das nicht machen, darf auch unser Schaufenster frei sein. Sextoys per se sind nicht ab 18.“
„Wir finden Pornos cool. Wenn sie unter feministischen Kriterien produziert werden, spricht nichts dagegen und es gibt auch viele Mainstream-Pornos, bei deren Produktionen gute Arbeitsbedingungen herrschen – auch bei denen, die nicht queer sind. Wir haben uns gegen Pornos entschieden, weil es uns wichtiger ist, dass Jugendliche hier reinkommen können. Außerdem findet der meiste Pornokonsum heutzutage auf Streaming-Plattformen statt. Das heißt, wenn wir jetzt DVDs hier hinstellen, würde das vermutlich sowieso nicht den großen Umsatz bringen.“
„Ein Kollektiv zu sein, bedeutet, dass wir keine*n Chef*in haben, sondern Entscheidungen gemeinsam treffen. Wir haben auch keine Gelgeber*innen im Hintergrund – keine Kredite, keine Investoren. Ganz zu Beginn hatten wir ein Crowdfunding, dort kam unser Startkapital von 20 Tausend Euro zusammen, doch alles darüber hinaus – eigentlich alles, was du hier jetzt siehst – haben wir uns selbst erarbeitet.
Wir haben alle das gleiche Mitspracherecht und wir haben auch alle ein Vetorecht. Wenn jemand mit einer Entscheidung gar nicht einverstanden ist, müssen wir uns gemeinsam etwas anderes überlegen. Das funktioniert sehr gut, auch wenn es viel Zeit kostet. Das können sich bestimmt alle gut vorstellen, die mal in einem Verein tätig waren oder einen Urlaub geplant haben. Kollektive Prozesse brauchen immer viel Zeit und Raum. Wir haben dafür den Vorteil, dass wir wirklich alle zu 100% hinter dem stehen, was wir hier machen und sich alle damit wohlfühlen.
Wir lernen dadurch viel voneinander, weil das notwendig ist, um Konsens-Entscheidungen treffen zu können. Wenn wir darüber reden, wie viel Gehalt wir auszahlen, müssen wir darüber reden, wie viel Geld wir eigentlich zum Leben brauchen – darüber wie wir leben und was uns wichtig ist. So viel Privates im Team zu teilen, schafft viel Geborgenheit und Vertrauen innerhalb des Teams.“
„In der Beratung versuchen wir, mit den Menschen mitzuschwingen, mit ihnen zu viben. In der Praxis heißt das, wenn jemand sehr unsicher und ruhig ist, werde ich auch ruhiger. Die Scham kennen wir selbst auch alle. Es ist schließlich nicht so, dass wir hier im Team jeden Abend im Swingerclub zusammenkommen, als hätten wir schon alles hier ausprobiert oder als wären wir alle immer selbst sexuell aktiv.
Es geht hier auch nicht um meine Sexualität, sondern darum, dass ich mich mit Sexualitäten auskenne. Dafür muss ich selbst nicht viel Sex haben. Vielleicht habe ich nur durchschnittlichen Vanilla-Sex alle drei Monate. Wir haben auch asexuelle Menschen im Team. Es geht darum, dass man sich gut mit den Produkten und ihren Funktionen auskennt.
Es ist eben nicht so, dass ich absolute Sexpert*in bin, sondern vielleicht werde ich selbst auch mal rot bei sexuellen Themen, so wie gerade. (Zarah wird rot und grinst.) Es ist wichtig, anzuerkennen, dass das gesellschaftlich ein schwieriges Thema ist und offen damit umzugehen.
Gleichzeitig finde ich auch, dass Sexualität etwas ist, was davon lebt, dass es nicht komplett seziert und auseinandergenommen wird, sondern dass dort immer ein Mysterium, etwas Geheimnisvolles, Heimliches bleibt, das nie komplett aufgeblättert wird. Das macht es ja auch reizvoll.
Ich glaube, gesellschaftlich muss schon noch viel Scham weg, damit die Hürden fallen und Dinge wie ‚Consent‘ besprechbarer werden, aber dass das Thema vollständig entmystifiziert wird, finde ich nicht erstrebenswert.“