Gewalt gegen Frauen und Mädchen nimmt während der Fußball-Europameisterschaft deutlich zu. UN Women fordert umfassende politische Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt.
Seit dem 14. Juni 2024 ist wieder alles im Ausnahmezustand. Feiernde Fans ziehen durch die Straßen, vor jeder Eckkneipe ist eine Leinwand oder ein Fernseher aufgebaut, und aus vielen Wohnzimmern flimmert es grün.
Die Fußball-Europameisterschaft der Männer ist für viele Menschen ein bedeutendes Sportevent. Unter dem Motto „Vereint im Herzen Europas“ hoffen die Fans auf ein neues Sommermärchen in Deutschland. Aber für viele Frauen und Mädchen birgt diese Zeit auch eine noch größere Gefahr als ohnehin.
„Studien zeigen, dass während großer Fußballturniere die Fälle von Partnerschaftsgewalt zunehmen. Wir möchten die Gewalt gegen Frauen und Mädchen abseits des Rasens, des Bildschirms und des Public Viewings sichtbar machen“, sagt Elke Ferner, Vorsitzende von UN Women Deutschland.
Um auf diese alarmierende Entwicklung aufmerksam zu machen, weist UN Women Deutschland sowohl potenzielle Täter als auch bedrohte und betroffene Frauen auf die vorhandenen Unterstützungsangebote hin. Gleichzeitig fordert die Organisation eine umfassende politische Gesamtstrategie gegen geschlechtsspezifische Gewalt sowie die zügige Verabschiedung des geplanten Gewaltschutzgesetzes mit einer bedarfsgerechten Finanzierung.
Erschreckende Zahlen und Fakten
Untersuchungen aus England während der Fußball-Weltmeisterschaften 2002, 2006 und 2010 haben gezeigt, dass partnerschaftliche Gewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen zunimmt. Bei einem Sieg der englischen Nationalmannschaft stieg die Zahl der gemeldeten Fälle häuslicher Gewalt um 26 Prozent, bei einer Niederlage sogar um 38 Prozent.
Ein wesentlicher Faktor für diesen Anstieg könnte laut Studie der erhöhte Alkoholkonsum sein. Elke Ferner aber stellt klar, dass partnerschaftliche Gewalt weder am Fußball noch am Alkohol liegt, sondern an gewalttätigen Männern.
In Deutschland steigt die Partnerschaftsgewalt kontinuierlich an, in den letzten fünf Jahren um 17,5 Prozent. Im Jahr 2023 wurden 155 Frauen durch ihren (Ex-)Partner getötet. Jeden Tag wird ein Tötungsversuch verzeichnet. Mehr als alle vier Minuten erfährt eine Frau in Deutschland Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner, wie das Bundeskriminalamt (BKA) berichtet.
Ein gesamtgesellschaftliches Problem
„Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das eine gesamtpolitische und gesamtgesellschaftliche Lösung braucht“, fordert Elke Ferner. Um geschlechtsspezifische Gewalt nachhaltig zu beenden und die Unabhängigkeit von Frauen und Mädchen in all ihrer Vielfalt zu stärken, benötigt es eine politische Gesamtstrategie und Gleichstellung auf allen Ebenen.
Bei einem Interview mit Amnesty International sagte die Familienrechtsanwältin Asha Hedayati („Die stille Gewalt“, Rowohlt), die insbesondere von Gewalt betroffene Frauen vertritt: „Für eine effektive Bekämpfung von geschlechtsbezogenen Ungleichheiten und Abhängigkeiten brauchen wir Maßnahmen, die allen Frauen helfen: Das reicht von umfassender staatlicher Unterstützung für Sorgearbeit bis hin zu einer besseren Bezahlung und konsequenter Armutsbekämpfung. Einzelne Reformen reichen nicht. Wir müssen uns Systemfragen stellen mit fundamentalen, ja sogar revolutionären, Visionen und Veränderungen für eine gerechte Gesellschaft. Wir könnten jetzt schon damit beginnen, alle Berufsgruppen, die mit Gewaltbetroffenen arbeiten, zu Fortbildungen zu verpflichten, mehr in präventive Täterarbeit zu investieren und zu begreifen, dass männliche Gewalt nicht naturgegeben ist.“
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ steht betroffenen und bedrohten Frauen, ihrem Umfeld sowie Fachkräften rund um die Uhr zur Verfügung. Unter der Telefonnummer 116 016 oder online auf hilfetelefon.de erhalten sie 365 Tage im Jahr Unterstützung in 17 Sprachen.
Auch für (potenzielle) Täter gibt es Hilfsangebote bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e.V., dem profeministischen Dachverband von Täterarbeitseinrichtungen in Deutschland.
UN Women Deutschland setzt ein klares Zeichen: Partnerschaftsgewalt hat keinen Platz in unserer Gesellschaft – weder während der Fußball-EM noch sonst irgendwann. Es ist Zeit, die rote Karte zu zeigen und gemeinsam für eine gewaltfreie Zukunft zu kämpfen.
Quelle: UN Women
- alle vier Minuten erlebt eine Frau in Deutschland Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner.
- 331 Frauen wurden Opfer von versuchtem/vollendeten Mord oder Totschlag (2022: 312 Frauen).
- 155 Frauen wurden durch ihren (Ex-)Partner getötet – alle zwei Tage! (2021: 133 getötete Frauen).
- 12.931 Frauen wurden von ihrem (Ex-)Partner schwer oder gefährlich körperlich verletzt.
- 4.622 Frauen erlebten sexualisierte Gewalt durch ihren (Ex-)Partner – mehr als alle zwei Stunden eine Frau.
Quelle: UN Women
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