In Folge 65 von „Echt & Unzensiert“ spricht Lena Jensen über ein Thema, über das viel zu selten offen gesprochen wird – obwohl es erschreckend viele betrifft: sexualisierte Gewalt gegen Kinder.
CN: In dem folgenden Interview geht es um sexualisierte Gewalt. Entsprechende Erfahrungen werden ausdrücklich geschildert. Bitte lese den Text nur, wenn du dich stabil fühlst.
Lena ist selbst Betroffene. Sie wurde in ihrer Kindheit über mehrere Jahre missbraucht – von Menschen, die ihr nah standen und denen sie vertraut hat. Heute nutzt sie ihre Stimme, um genau darüber zu sprechen: über die Mechanismen hinter solchen Taten, über Täterdynamiken, über Warnsignale, die Erwachsene erkennen sollten, und über die Verantwortung, die wir alle tragen.
Gemeinsam mit unserem Host Tino spricht Lena über ihren eigenen Weg: über das erste Aussprechen, über das Versagen von Institutionen, über Manipulation, Sedierung, Ermittlungen – und darüber, wie ein Kinderleben komplett aus den Angeln gehoben wird, wenn plötzlich alles ans Licht kommt. Sie erzählt aber auch davon, wie Heilung aussehen kann, wie sie heute als Mutter Prävention lebt und warum es so wichtig ist, Kindern beizubringen, Grenzen zu setzen und ihre Gefühle ernst zu nehmen.
Die ganze Podcastfolge hörst du über einen Klick ins Titelbild oder eingebettet unten im Artikel und natürlich überall dort, wo es Podcasts gibt. Einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Lena Jensen liest du hier.
„2018 war ich auf Social Media eigentlich eher privat unterwegs. Richtig los ging es erst später – in der Corona-Zeit, wie bei vielen anderen auch. Damals bin ich auf die Aufarbeitungskommission für sexuellen Missbrauch aufmerksam geworden. Sie führt Gespräche mit Betroffenen, um herauszufinden, was schiefgelaufen ist und was sich ändern muss. Das hat mich total interessiert, also bin ich hingegangen und habe meine Geschichte erzählt.
Zur selben Zeit bin ich auf einen Aufruf von Miss Germany gestoßen. Die suchten Frauen, die gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen. Ich kannte Miss Germany damals ehrlich gesagt gar nicht und dachte, es sei nur ein Schönheitswettbewerb. Aber dann hat es bei mir richtig Klick gemacht und ich dachte: Genau das fehlt uns. Wir müssen dieses Tabuthema gesellschaftsfähig machen.
Bis dahin wurde meist nur über Einzelfälle berichtet, wenn gerade etwas in den Medien war. Ansonsten herrschte Schweigen. Und da dachte ich: Wenn ich es schaffe, das Thema auf eine größere Bühne zu bringen – in Magazine, die auch den Mainstream erreichen – dann hören vielleicht mehr Menschen zu. Also habe ich mich beworben, wurde angenommen und habe angefangen, öffentlich darüber zu sprechen.“
„Es war absolut befreiend. Es hat sich wirklich so angefühlt, als wäre das genau mein Weg. Total verrückt eigentlich – bis dahin hatte ich nicht einmal mit meinen Freundinnen darüber gesprochen. Nur meine Familie wusste Bescheid. Als das Thema dann öffentlich wurde, musste ich sehr schnell mit allen reden, bevor sie es über Social Media erfahren. Also habe ich mich mit jeder einzelnen zusammengesetzt und alles erzählt. Das war richtig heftig.
Mit dem, was darauf folgte, hatte ich überhaupt nicht gerechnet: Etwa die Hälfte meiner Freundinnen hat mir ihr Herz geöffnet und erzählt, dass ihnen Ähnliches passiert ist. In diesem Moment wusste ich: Das ist der richtige Weg. Wir müssen einen offenen Umgang mit diesem Tabuthema gesellschaftsfähig machen. Wir kennen uns seit über zehn Jahren – und wir haben nie darüber gesprochen. Das kann doch nicht sein.“
„Wer die Täter waren, darf ich aus rechtlichen Gründen leider nicht sagen, weil sie nie verurteilt wurden. Ich kann nur sagen, dass es Menschen waren, die ich sehr gern hatte und die unserer Familie sehr nahe standen.
Angefangen hat das Ganze, als ich ungefähr zwei Jahre alt war. Ich lag in einem Kinderreisebett, es war dunkel, und der Täter kam mit einer Taschenlampe ins Zimmer. Er hat mir mit dem Licht ins Gesicht geleuchtet, mich aus dem Bett gehoben, sich auf einen Stuhl gesetzt, mich ausgezogen und mich dann auf seinen Schoß gesetzt, wo er mich schließlich sexuell missbraucht hat.
Was ich noch ganz deutlich im Kopf habe, ist eine Stimme von der Seite – freundlich, fast fröhlich: ‚Lena, lächel doch mal in die Kamera.‘ Genau so, wie man es sagen würde, wenn man ein Kind normal fotografiert. Das hat die ganze Situation so absurd normal wirken lassen. Als ich zur Seite schaute, sah ich die Frau mit der Kamera auf mich gerichtet, mit einem breiten Grinsen hinter der Lampe. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was da passiert.
Das war die erste Situation, an die ich mich erinnere. Und über all die Jahre kam dann immer mehr dazu.“
„Ja, genau. Es hat sich immer weiter zugespitzt. Wie oft oder seit wann ich betäubt wurde, weiß ich nicht – wenn man sediert ist, nimmt man das ja nicht bewusst wahr.
Ich weiß noch, dass ich irgendwann immer mehr Schwierigkeiten hatte, mich an Dinge zu erinnern. Wenn meine Eltern wissen wollten, wie der Tag gewesen war, sagte der Täter zum Beispiel: ‚Wir waren am Strand. War doch toll, oder Lena?‘ Und ich stand daneben und dachte nur: Wenn es so toll war, warum kann ich mich dann nicht erinnern? Was stimmt mit meinem Kopf nicht?
An eine Situation erinnere ich mich noch sehr deutlich. Wir sind mit dem Auto losgefahren – etwas, das später, als ich älter war, häufig vorkam. Die Frau gab mir einen Tupperbecher mit Orangensaft, in dem weiße Klümpchen schwammen. Ich wollte ihn nicht trinken, sie rührte noch einmal um – und schließlich trank ich ihn doch. Ich weiß noch, wie das andere Kind bei jeder Fahrt sofort eingeschlafen ist und ich mich fragte: Warum passiert das? Wieso wirst du jedes Mal so schnell müde? Und jedes Mal dachte ich: Wach bleiben, nicht einschlafen. Aber irgendwann war ich auch weg.
Ich weiß noch, dass ich einmal aufgewacht bin und viele nackte Männer um mich herum standen. Das sind die einzigen Fetzen, die mir davon geblieben sind. Rückblickend kann ich sagen: Ich denke, dass ich sediert wurde.“
„Das ist sehr unterschiedlich. Manche Täter*innen finden es sogar gut, wenn Kinder sich wehren oder nicht wollen – und machen es trotzdem. Andere wiederum folgen bestimmten Ideologien oder Philosophien, in denen behauptet wird, dass sexueller Kontakt zwischen Kindern und Erwachsenen etwas Gutes sei. Das ist natürlich völliger Quatsch. Trotzdem hält sich so etwas in manchen Köpfen, wenn Menschen ohnehin in diese Richtung denken wollen.
Ich glaube auch, dass viele eine Art ‚Beziehung‘ zu dem Kind herstellen wollen – zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung. Bei mir war es zum Beispiel so: Es wurde zwar Gewalt angewendet, aber der eigentliche sexuelle Akt sollte immer so aussehen, als würde ich das wollen. Das war ihnen wichtig. Und ich glaube, viele reden sich das selbst schön. Sie manipulieren sich selbst und das Kind.
Aber egal, ob Sedierung, Manipulation, Druck oder körperliche Gewalt – all das ist sexualisierte Gewalt. Da passiert nichts freiwillig.“
„Meine Mama hat schon sehr früh gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich war ungefähr zwei Jahre alt, als ich ihr gegenüber plötzlich extrem aggressiv wurde. Die Täter*innen hatten mir immer wieder eingeredet, meine Mama sei die Böse und sie selbst die Guten – dadurch richtete sich meine ganze Wut gegen sie. Für meine Mutter wirkte es so, als hätte sie etwas falsch gemacht, zumal die Täter*innen ihr immer wieder sagten: ‚Bei uns ist sie nicht so, das muss an dir liegen.‘ Das hat sie total verunsichert.
Bei mir haben sich damals viele auffällige Verhaltensweisen gezeigt: Ich habe wieder ins Bett gemacht, mich stark aufgekratzt – ich hatte Neurodermitis – und mich sogar zeitweise mit Kot eingeschmiert. Ich habe plötzlich stark gestottert, eine Sozialphobie entwickelt und große Angst vor anderen Menschen gehabt. Gleichzeitig habe ich für mein Alter sehr unpassendes, sexualisiertes Verhalten gezeigt und war häufig wund im Genitalbereich.
Als meine Mama die ersten Anzeichen gesehen hat, ist sie sofort mit mir zu verschiedenen Ärzt*innen und Psycholog*innen gegangen. Während des gesamten Missbrauchs – der bis zu meinem sechsten oder siebten Lebensjahr ging – war ich durchgehend in ärztlicher und psychologischer Behandlung. Und trotzdem hat niemand der Fachleute den Verdacht geäußert, dass es sexueller Missbrauch sein könnte. Das macht mich bis heute fassungslos.“
„Ja, genau. Meine Kindergärtnerin hat meine Mama irgendwann zur Seite genommen und meinte, dass mein Verhalten Hinweise auf sexuellen Missbrauch zeigen könnte. Für meine Mutter war das total unvorstellbar. Ihr erster Gedanke war: Wer sollte so etwas tun? Man vertraut ja den Menschen im eigenen Umfeld.
Kurz darauf hat sie mich zufällig früher abgeholt als verabredet. Und da hat sie die Täter*innen mit uns die Treppe herunterkommen sehen – wir waren nur in Unterwäsche, alles war abgedunkelt. Einer der Täter*innen sagte dann zu mir: „Lena, geh dich nochmal waschen.“ Da bekam meine Mama ein ganz komisches Bauchgefühl. Sie hat mich nie wieder dorthin gebracht.
Sie hat dann direkt mit einem Neuropsychologen und dem Jugendamt gesprochen, um herauszufinden, was sie tun kann. Dort wurde ihr erklärt, dass man Kindern keine suggestiven Fragen stellen darf – also keine Ja-Nein-Fragen –, sondern sie selbst erzählen lassen muss. Unter Anleitung hat sie dann eine Art spielerische Therapie mit mir gemacht. Und irgendwann habe ich mich ihr dann gegenüber geöffnet.“
„Ja. Es ist für Eltern in so einem Moment generell unglaublich schwer, richtig zu reagieren. Viele schreiben mir zum Beispiel: ‚Mein Kind hat erzählt, dass der Opa es im Genitalbereich gekitzelt hat.‘ Und die erste Reaktion der Eltern ist dann oft: ‚Nein, das darf man nicht! Oh Gott, das ist verboten!‘ Sie erschrecken total – was ja auch verständlich ist – und wollen ihrem Kind sofort klarmachen, dass das nicht in Ordnung ist.
Aber was passiert beim Kind? Es zieht sich zurück, denkt, es hätte etwas falsch gemacht, und spricht nicht mehr darüber. Das Beste, was man in so einem Moment tun kann, ist: ruhig bleiben, sagen ‚Ich glaube dir, danke, dass du mir das erzählst‘, und sich dann kurz zurückziehen, um sich zu regulieren und Hilfe zu holen.
Genau so hat es meine Mama gemacht. Als ich mich ihr geöffnet habe, ist sie erst mal weggegangen. Sie hat mir später erzählt, dass es ihr in der Kehle gebrannt hat, weil sie am liebsten geschrien hätte. Auch bei Angehörigen passiert ja ein Trauma. Aber sie hat es in dem Moment runtergeschluckt und gesagt: ‚Ich muss jetzt funktionieren.‘ Und dann sind wir direkt zur Polizei gegangen.“
„Damals gab es ja noch kein Internet, keine Aufklärung, keine schnellen Infos. Meine Mama sagt heute selbst: Das Wichtigste wäre gewesen, früher überhaupt für möglich zu halten, dass so etwas wie Kindesmissbrauch passieren kann.
Für sie war das immer etwas, das nur ‚in schlimmen Fällen‘ vorkommt, aber nicht im eigenen Umfeld, nicht in jeder Gesellschaftsschicht, nicht mitten im Alltag. Sie dachte: Das passiert anderen, aber nicht uns. Ich denke, genau das war – bei ihr und auch im ganzen Umfeld – das größte Problem: Niemand hat so etwas überhaupt in Betracht gezogen.“
„Wenn ich auf meine Erfahrungen schaue, dann sind es oft Menschen, die versuchen, anderen das Gefühl abzusprechen oder das Umfeld ganz bewusst zu manipulieren. Auch wenn Erwachsene ständig das Aussehen von Kindern kommentieren oder sexualisieren, kann das ein erstes Warnsignal sein.
Wir kennen doch alle diese ekligen Sprüche von manchen Leuten – ein unangenehmer Sportlehrer oder Erwachsene, die merkwürdige, sexualisierte Kommentare gegenüber Kindern oder Jugendlichen abgeben. Früher haben wir das oft als ‚normal‘ hingenommen, aber Sprache ist eben auch eine Form von Gewalt. Und wenn jemand schon so spricht, zeigt das häufig, wie weit der Gedanke eigentlich schon gegangen ist.
Wichtig ist auch zu verstehen, dass ein Täter nicht der Fremde im Busch ist, sondern sehr oft jemand aus dem nahen Umfeld: eine Person, der man vertraut, die man bewusst ins eigene Leben lässt und die viel Kontakt zu Kindern sucht. Viele Betroffene schreiben mir, dass solche Personen gerne alleine mit dem Kind sein wollen – und die Eltern dann als ‚Helikoptereltern‘ abstempeln, wenn sie das nicht erlauben. Dieses Manipulieren über Schuldgefühle ist ein großes Warnsignal.
Und dann gibt es natürlich Grenzüberschreitungen – auch im Kleinen. Wenn jemand Dinge mit einem Kind macht, die das Kind eigentlich nicht möchte, und seine Grenzen immer wieder ignoriert. Das bedeutet nicht, dass jede dieser Personen automatisch Täter*innen sind. Aber genau in solchen Situationen sollte man aufmerksam werden und dem Kind klar vermitteln: Deine Grenzen zählen, und das geht so nicht.“
„Ich glaube, das ist viel komplexer, als viele denken. Wenn ein Kind erfährt, dass die Menschen, die einem nah waren – und bei mir war das ja eine absolut ungesunde Beziehung –, plötzlich weg sind, dann bedeutet das trotzdem Verlust. Ich habe diese Menschen auf eine verdrehte Art ja trotzdem geliebt. Und deshalb war ich traurig, als ich sie nicht mehr sehen durfte. Ich war in einer Art Trauerprozess, weil ich gar nicht verstanden habe, warum der Kontakt plötzlich abgebrochen wurde.
Wir stellen uns das oft so einfach vor: Ein Kind erlebt Gewalt, geht zur Polizei, und dann ist es erleichtert, diese Personen nie wieder sehen zu müssen. Aber so ist das nicht. Man ist traurig, verwirrt – weil man zum ersten Mal begreift, dass das, was passiert ist, eigentlich verboten war. Gleichzeitig muss man erst wieder lernen, was gesunde Beziehungen überhaupt sind und wem man vertrauen kann.
Dazu kommt, dass einem vielleicht nicht geglaubt wird. Ich wurde zum Beispiel gefragt, ob ich das aus dem Fernsehen hätte. Da denkst du dir als Kind: Was stimmt denn nicht mit mir? Und gleichzeitig spürt man den Schmerz, den man im eigenen Umfeld auslöst. Ich habe das Trauma meiner Angehörigen so stark gefühlt – ausgelöst durch meine Worte. Das war für mich kaum auszuhalten.
Dieses ganze Gefühlschaos – Trauer, Schuld, Verwirrung, Angst, Verantwortung – führt dazu, dass man als Kind manchmal denkt: Vielleicht wäre es leichter gewesen, die Gewalt weiter auszuhalten, statt diesen Weg zu gehen. Ich wollte das anfangs wirklich oft rückgängig machen. Aber das geht natürlich nicht.“
„Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie ich damals bei der Polizei saß. Zwei Personen im Raum, grelles Licht, eine Kamera – und all das hat mich total getriggert. In diesem Moment fühlte ich mich fast wieder wie im Missbrauch. Ich war etwa sieben Jahre alt, ganz allein, ohne meine Mama oder irgendeinen Beistand, und ich dachte die ganze Zeit: Ich kann das nicht.
Ich wollte nicht darüber reden, wollte Worte wie ‚Penis‘ oder ‚Scheide‘ nicht aussprechen. Ich wollte mich nicht erinnern, nicht darüber nachdenken. Ich hatte ja Monate gebraucht, um mich überhaupt meiner eigenen Mutter zu öffnen – wie sollte ich das Fremden in so kurzer Zeit erzählen? Vor allem, wenn man das Gefühl hat, alle hätten es eilig, weil sie irgendwann Mittagspause machen wollen.
Für mich war das unfassbar schlimm. Natürlich habe ich trotzdem ausgesagt, aber ich glaube, ich hätte eine viel bessere, klarere Aussage machen können, wenn man mir mehr Zeit gegeben hätte und ich Unterstützung gehabt hätte. So war es einfach ein Prozess, der für ein Kind viel zu viel war.“
„Das frage ich mich bis heute. Aus rechtlichen Gründen kann ich nicht alles im Detail erzählen, aber wir waren mehrere betroffene Kinder. Wir haben alle ausgesagt und unabhängig voneinander dieselben Täter benannt. Es gab auch medizinische Untersuchungen, bei denen sexueller Missbrauch – sowohl anal als auch vaginal – eindeutig festgestellt wurde. Allerdings wurden keine DNA-Spuren untersucht. Ich weiß nicht, ob das damals nicht üblich war oder ob es schlicht versäumt wurde. Fakt ist: Es wurde zwar bestätigt, dass Missbrauch stattgefunden hat, aber nicht, wer ihn begangen hat. Und unsere Aussagen allein haben offenbar nicht ausgereicht.
Wir haben außerdem von dem Videomaterial erzählt, das existiert hat – und das sogar an Nachbarn weitergegeben wurde. Bei einer Hausdurchsuchung wurde danach zwar gesucht, aber die Täter wussten wochenlang vorher, dass ein Verfahren läuft. Natürlich wurde dann nichts mehr gefunden. Und so wurde das Verfahren schließlich eingestellt.
Parallel dazu wurden wir massiv bedroht. Immer wieder standen verschiedene Männer, komplett schwarz gekleidet, vor unserem Haus. Die Polizei hat nichts unternommen. Wir konnten kaum noch irgendwo hingehen.
Schließlich kamen wir zum Weissen Ring, ins Opferschutzprogramm. Dort wurde uns geholfen, einen neuen Nachnamen – Jensen – anzunehmen und umzuziehen. Finanzielle Unterstützung gab es nicht, aber wir bekamen zumindest die Möglichkeit, uns überhaupt in Sicherheit zu bringen. Trotzdem haben wir dadurch natürlich alles verloren: unser Zuhause, unser Umfeld, unsere Freund*innen – und wir waren völlig erschöpft und finanziell am Ende.
Als das Verfahren eingestellt wurde, wollte unser Anwalt noch einmal versuchen, es weiterzuführen – aber meine Eltern konnten einfach nicht mehr. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Und genau das finde ich so schlimm an diesem System: Du traust dich, mit deinem Kind zur Polizei zu gehen. Mehrere betroffene Kinder melden sich. Es wird aber nicht konsequent ermittelt – und am Ende verlieren wir alles, während die Täter einfach weiterleben wie vorher. Für sie hat sich nichts verändert. Für uns alles. Wie soll man da die Kraft aufbringen, immer weiterzukämpfen? Irgendwann geht das einfach nicht mehr.“
„Ja, ich auch. Aber ich glaube, dass viele Menschen etwas einfach ausblenden, wenn sie es sich selbst nicht vorstellen können. Wenn etwas nicht in ihr Weltbild passt oder sie bestimmten Personen so etwas absolut nicht zutrauen, dann existiert es für sie quasi nicht. Dann halten sie lieber an ihrer eigenen Realität fest, statt sich wirklich zu hinterfragen. Und genau dadurch bleiben viele stumm — selbst dann, wenn ihre Unterstützung so dringend gebraucht wäre.“
„Als wir umgezogen sind, war das für mich unglaublich schwer, weil meine Eltern – eigentlich wir alle – in einer massiven Krise waren. Und ich habe mir für alles die Schuld gegeben. In meinem kindlichen Denken dachte ich: Wegen mir ist das alles passiert. Wenn ich nicht mehr da bin, geht es allen besser. So kam es zu meinen ersten Suizidversuchen.
Ich war damals in der ersten Klasse – und ich habe diese Zeit kaum bewusst erlebt. Alles war surreal, wie in Watte. Ich wusste oft nicht, wo mein Körper anfängt oder aufhört. Meine Wahrnehmung war komplett verzerrt. Am Ende musste ich die erste Klasse wiederholen.
Mein letzter Suizidversuch fand schließlich im öffentlichen Raum statt – danach kam ich dann in die geschlossene Psychiatrie. Dort hat dann eine Therapeutin von meinem Fall erfahren und mit mir EMDR-Therapie gemacht. Das hat mir unglaublich doll geholfen. Aber gleichzeitig war es eine sehr einsame Zeit. Ich war ohne meine Eltern dort. Ich weiß noch, wie ich nachts allein in diesem Kinderbett lag, ‚Laura Stern‘ gehört habe und mich selbst festgehalten habe, weil ich das Gefühl hatte, innerlich zu zerreißen.“
„Am meisten ist es tatsächlich Traurigkeit. Ich empfinde es als so unglaublich gemein, was damals passiert ist. Man traut sich, die Wahrheit zu sagen, stellt sich diesem unfassbaren Schmerz – und trotzdem prasseln danach gefühlt nur noch mehr Steine auf einen ein. Am Ende war ich diejenige, die allein in einem Zimmer saß und all das durchleben musste, ohne jemals wirklich Gerechtigkeit zu bekommen.
Es bricht mir einfach das Herz, dass so etwas auf den Schultern von Kindern – und auch ihren Eltern – landet. Ich weiß noch, wie traurig ich damals war. Ich habe so viel geweint, so intensiv gefühlt. Und dieses Grundgefühl von Trauer ist bis heute das, was am stärksten bleibt.“
„Ja, die Verjährung ist noch nicht abgelaufen. Aber im Moment komme ich nicht wirklich weiter, weil die Akten verschwunden sind. Das ist der aktuelle Stand. Alles Weitere wird man dann sehen müssen.“
„Ja. Und wenn man dann bedenkt, dass jede vierte Frau und jeder siebte Mann in der Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt hat, bedeutet das im Umkehrschluss, dass unglaublich viele Täter*innen unerkannt unter uns leben. Wir alle kennen mit hoher Wahrscheinlichkeit jemanden, ohne es zu wissen.“
Noch mehr Einblicke und Impulse gibt Lena Jensen in Folge 65 unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Dort spricht sie unter anderem darüber, wie sehr ihre Erfahrungen sie bis heute im Alltag beeinflussen (ab Minute 26:12), wie sie ihren eigenen Sohn vor Missbrauch schützt (ab Minute 28:56) und welche Anlaufstellen sie Betroffenen und Angehörigen empfiehlt (ab Minute 33:04). Unbedingt reinhören!
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Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!