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Mahnmal Levetzowstrasse Berlin, Kerzen und Blumen | © Gedenken 9. November 1938, Mahnmal Levetzowstrasse Berlin, ©IMAGO / IPON
© Gedenken 9. November 1938, Mahnmal Levetzowstrasse Berlin, ©IMAGO / IPON
09.11.2025 • 11:42
Autorin Linda-Rachel Sabiers | © Max Zerrahn Linda Rachel Sabiers
16 Minuten
Jüdische Meme-Künstlerin im Interview

ruth__lol über deutsche Erinnerungskultur und ihr Versagen

Am 9. November erinnert Deutschland an die Pogromnacht 1938 – doch während der toten Jüd*innen gedacht wird, bleibt der Umgang mit den lebenden schwierig. Autorin Linda Rachel Sabiers, selbst Jüdin, spricht mit der jüdischen Meme-Künstlerin ruth__lol über Spannungsfelder und Humor als Schutz.

Heute, am 9. November, jährt sich die Reichspogromnacht zum 87. Mal – jener Tag, an dem in Deutschland jüdisches Leben brannte, während die Welt schwieg. Bis heute gedenkt man hierzulande streng nach Staatsräson der Toten. Mich interessiert – als Jüdin – etwas anderes: Wie gehen wir mit den Lebenden um? Mit jüdischem Leben, das komplex, laut, widersprüchlich und politisch unbequem ist? 

Kaum jemand verkörpert diesen Widerspruch so sehr wie ruth__lol. Die Künstlerin nutzt Memes bei Social Media, um über Antisemitismus, Identität und die Absurdität deutscher Diskurse zu sprechen – mit Schärfe, Zynismus und einem Humor, der gleichzeitig wehtut und tröstet. Für viele d*innen, auch für mich, war und ist ihre Art, auf Antisemitismus und Israelhass zu reagieren, heilsam.

Mit ruth__lol habe ich über Humor als Überlebensstrategie gesprochen – aber auch über Ambiguitätstoleranz, Kritik und Doppelmoral. Und über die Frage, warum Deutschland immer noch besser darin ist, jüdischen Toten zu gedenken, als mit jüdischem Leben in der Gegenwart umzugehen. 

 

Dein erstes Meme mit explizit jüdischem Bezug griff den Skandal um Fabian Wolff auf – dem Publizisten, der sich jahrelang eine jüdische Identität erfand. Du schriebst: „Fabian Wolff war mir als Jude echt lieber als du, sorry.“ In Deutschland wird jüdischen Toten meist mit großer Andacht begegnet – mit den Lebenden tut man sich schwer. Woran liegt das? 

 
„Ich glaube, das hängt vor allem mit der insgesamt sehr missglückten Aufarbeitung in Deutschland zusammen – und eigentlich zieht sich das ja bis heute durch. Es ist einfach bequemer, tote Jüd*innen zu betrauern, weil die keine Kritik mehr äußern können. Tote sind praktisch: Sie widersprechen nicht, sie stellen keine unangenehmen Fragen, sie machen’s einem leicht, sich dabei wie ein guter Mensch zu fühlen. 
 
In Deutschland geht es in der sogenannten Aufarbeitung oft darum, sich selbst zu entlasten – eine Art moralische Wiedergutwerdung, eine Reinigung von allem, was mit der industriellen Vernichtung der europäischen Jüd*innen zu tun hatte. Die Toten sind da nützlich, weil man sie für alles Mögliche instrumentalisieren kann. Sie können nicht sagen: ,Moment mal, so einfach ist das nicht.' Viele haben keine Nachkommen mehr, die sich wehren könnten. 
 
Lebende Jüd*innen hingegen sind komplizierter. Sie haben Meinungen, sie kritisieren, sie sagen manchmal Dinge, die unangenehm sind. Und das passt nicht zu dem Bedürfnis vieler Deutscher, sich selbst als geläutert und reflektiert zu sehen. Ich habe oft das Gefühl, dass Menschen im Gespräch mit mir eigentlich nur hören wollen, dass sie alles richtig machen – dass sie ,die Guten' sind. Als jüdische Person bekommt man dadurch automatisch eine undankbare Rolle zugeschrieben: Man soll Verständnis haben, versöhnen, aufklären und irgendwie die emotionale Arbeit übernehmen, die eigentlich andere leisten müssten. Und genau deshalb ist der Umgang mit den Toten so viel einfacher. Sie sind still. Sie sind verfügbar. Mit den Lebenden muss man sich auseinandersetzen – und das wollen viele nicht.“ 
Meme mit Text: Fabian Wolff war mir als echt lieber als du sorry | © ruth__Lol
© ruth__Lol
Meme mit Text: 9.11. deutsches Gedenken kompletter Abfuck | © ruth__lol
© ruth__lol

Bis zum 7. Oktober 2023 war dein Feed vor allem Satire über Kapitalismus, Männlichkeit, Rassismus und deutsche Politik. Nach dem Angriff der Hamas änderte sich das schlagartig. Du kommentiertest das Massaker und das Schweigen in Teilen der linken Bubble mit dem Satz: „very quiet wiedermal aus der linken bubble just saying we see you und eure nicht-Reaktionen“. 

 

Mit diesem Post zeichnete sich eine „Nicht-Reaktion“ ab, die über zwei Jahre anhielt – und einen tiefen Graben zwischen vielen jüdischen Menschen und linker Lebensrealität aufriss, vor allem angesichts der fehlenden Solidarität mit israelischen Opfern, unter ihnen verschleppte und sexuell missbrauchte Frauen. Du bezeichnest dich selbst als links – dieser Bruch muss also auch für dich persönlich ein realer Struggle gewesen sein. War dir damals schon klar, dass diese Stille bleiben würde? 

„Ja, ich wurde für diesen Post ziemlich heftig kritisiert – vor allem aus linken Strukturen. Da hieß es dann, das sei ,vorschnell’ oder ,unfair’ oder ,zu pauschal’. Aber wenn man sich schon länger in diesen Kreisen bewegt, dann weiß man: Das war keine spontane Eingebung. Das war ein Muster, das sich einfach wiederholt. Der Umgang mit Jüd*innen in linken Strukturen war schon immer schwierig – man konnte das nur bis zum 7. Oktober besser ignorieren. 
 
Bis dahin haben viele von uns versucht, Kompromisse zu machen, irgendwie dazu zu gehören, trotz allem. Aber dieser Tag hat etwas aufgerissen, das schon lange da war. Und ich glaube, viele jüdische Menschen – mich eingeschlossen – haben da zum ersten Mal wirklich gespürt: Diese Solidarität, die wir immer wieder brauchen, die kommt aus manchen Bubbles einfach nicht. Und das ist schmerzhaft, aber auch nicht wirklich überraschend. 
 
Ich habe damals sehr bewusst geschrieben, was ich geschrieben habe, weil ich wusste, wie die Abläufe sind. Es passiert etwas Furchtbares, und dann kommt das große Ringen um Worte. Dann wird im Plenum und in Telegram-Gruppen diskutiert, welche Formulierung ,safe' genug ist, um ja niemandem weh zu tun – außer vielleicht denen, die wirklich betroffen sind. Man sucht nach einem Statement, das irgendwie alles gleichzeitig sagen kann, und am Ende sagt man: nichts. 
 
Und das hängt direkt mit dem zusammen, worüber wir vorher gesprochen haben: Es gibt in Deutschland keinen gelernten, echten Umgang mit lebenden jüdischen Menschen. Man weiß nicht, wie man reagieren soll, ohne sich selbst zu gefährden oder falsch zu machen. Also sagt man lieber gar nichts. Diese Stille war nicht neu – sie war nur lauter als sonst. Ein gutes Beispiel war ja vor Kurzem dieses Falafelshirt-Debakel.“
 

... im queeren und linken Café- und Barkollektiv K‑Fetisch in Berlin-Neukölln wurden ein israelischer Mann und seine Partnerin nach Angaben der Betroffenen wegen eines T-Shirts mit dem Wort „Falafel“ in hebräischer, arabischer und lateinischer Schrift des Lokals verwiesen. Eine Angestellte soll gesagt haben: „Ich bediene keine Zionisten“. Der Vorfall wurde öffentlich als antisemitisch kritisiert. Wir wissen jedoch bis heute nicht, was wirklich ablief. 

„Drei Designer*innen bringen ein Shirt raus, Menschen werden aufgrund der Tatsache, dass sie das Shirt tragen, eines Lokals verwiesen. Und dann dauert es eine Woche, bis ein Statement kommt, das alles nur noch schlimmer macht. Ich habe es gelesen und gedacht: Okay, also selbst da schafft man’s nicht, das Wort Antisemitismus zu verwenden. Stattdessen kommt dieses typische ,Ihr seid mitgemeint – dieses diffuse, ausweichende ,alle sind gemeint'.

Aber das stimmt eben nicht. Linke jüdische Menschen suchen seit Jahren nach Räumen, in denen sie sicher sein können. Und viele halten trotzdem durch – in Kontexten, in denen sie immer wieder Antisemitismus erleben, den sie runterschlucken, weil sie glauben, dass andere Themen gerade wichtiger sind. Ich glaube, das hat sich nach dem 7. Oktober verändert. Viele konnten es nicht mehr aushalten.“  

Unsere Großeltern haben den 9. November 1938 als Zäsur erlebt – ein jüdisches Leben mit einem Davor und Danach. Heute sprechen viele davon, dass der 7. Oktober 2023 für ihre Generation eine ähnliche Bruchlinie markiert. Nicht, weil die Ereignisse vergleichbar wären, sondern weil das, was danach kam – der offene, globale Antisemitismus – jüdisches Leben erneut in eine existenzielle Unsicherheit gestürzt hat. Wie siehst du das? Erlebst du diesen Moment ebenfalls als eine Art Zäsur – ein „Davor“ und „Danach“ – für jüdisches Leben heute? 

 
„Ich finde, man muss da zuerst unterscheiden, ob man von Parallelen oder von Kontinuitäten spricht – das sind zwei verschiedene Dinge. Und beides spielt hier irgendwie eine Rolle. Gleichzeitig merke ich aber, dass wir sprachlich seit dem 7. Oktober extrem unsauber geworden sind, wenn wir versuchen, das alles zu beschreiben. Und das ist gefährlich. 
 
Wenn man über den 9. November spricht, dann spricht man über eine ganz bestimmte historische Kontinuität, über einen Weg dorthin. Aber Vergleiche im engeren Sinn finde ich schwierig – ich frage mich immer: Was bringt uns das eigentlich? Was ist der Erkenntnisgewinn? Ich sehe seit dem 7. Oktober ständig, wie diese Vergleichssprache wieder aufkommt.  
 
Und ich finde das krass, weil diese Relativierungen in den letzten Jahren wieder enorm zugenommen haben. Deswegen versuche ich, genau das zu vermeiden, obwohl es mir nicht immer gelingt. Vergleiche sind oft ein gutes Werkzeug, um etwas zu skizzieren, aber sie bergen eben auch große Risiken. Es geht nicht darum, Ereignisse gegeneinander aufzurechnen oder sie in eine Linie zu stellen, sondern darum, Kontinuitäten zu erkennen, ohne die Einzigartigkeit der jeweiligen Gewalt zu verwischen.“ 
 

Ich kann nachvollziehen, wieso du diesen Vergleich ablehnst. Ich musste in den letzten Monaten oft an meinen Großvater denken – an dieses Gefühl totaler Ohnmacht, von dem er mir oft aus seinen Erfahrungen als Kind auf der Flucht erzählte. Ich habe mal in einer Kolumne genervt darüber geschrieben, dass so viele Jüd*innen sinnbildlich auf gepackten Koffern sitzen. Ich dachte damals: Wir müssen uns doch irgendwann entscheiden – sind die Koffer ausgepackt, oder gehen wir? Aber der 7. Oktober hat das für mich verändert. Zwischen mir und meinem Mann kam plötzlich dieses Gespräch auf: „Sollen wir wirklich gehen?“

„Ich glaube, das gehört irgendwie zum Gesamtpaket dazu – wenn man in Deutschland oder Österreich jüdisch ist. Dieses Gefühl, nie wirklich dazuzugehören. Zumindest ist das meine persönliche Erfahrung, und die teilen viele, mit denen ich spreche. Egal, in welcher Institution ich war – in der Schule, an der Uni, bei der Arbeit oder in irgendwelchen organisierten Strukturen – es gab immer Situationen, in denen ich mit Antisemitismus konfrontiert war. Und das macht es natürlich schwierig, sich hier wirklich sicher oder zuhause zu fühlen. 
 
Ich finde auch diese Argumentation absurd, wenn Leute sagen: ,Aber jüdische Menschen haben doch keine konkrete Bedrohung zu befürchten, höchstens mal einen Anschlag.’ Das ist so falsch. Es geht ja nicht nur um physische Bedrohung, sondern um dieses konstante Gefühl, dass man beobachtet, bewertet, anders ist. Und das nagt an einem. Du fragst dich irgendwann: Wo gehöre ich hin? 
 
Und egal, wohin man schaut – man gehört irgendwie nirgends richtig hin. In Deutschland nicht, weil man als Jüdin immer irgendwie ,die Andere’ bleibt. In Israel vielleicht auch nicht, weil man aus Europa kommt und dort wieder andere Hürden überwinden muss. Das ist wie so eine Identitätslotterie, bei der du nie gewinnst.  
 
Ich habe Familie in Israel, und natürlich habe ich auch darüber nachgedacht, dorthin zu gehen. Aber das ist keine leichte Entscheidung. Menschen verlassen ihr Zuhause nicht, weil sie plötzlich Lust auf ein anderes Land oder bessere Sozialleistungen haben. Das ist ein massiver Schritt – mit extrem vielen Verlusten. Du gibst alles auf, was dich bis dahin getragen hat: Sprache, Routinen, Freundschaften, manchmal auch das Gefühl, eine Zukunft zu haben. Das ist nichts, was man ‚einfach so‘ macht.“ 
Meme mit Text: Heute lesen wir das Märchen von der deutschen Aufarbeitung | © ruth__lol
© ruth__lol

Du bist durch deine Inhalte sicherlich viel Hass und Häme ausgesetzt. Dabei bedienst du dich einer sehr „jüdischen Art” mit Trauma, Ausgrenzung und Hass umzugehen: dem Humor. Ich kenne das aus meiner Familie. Bist auch du mit diesem Bewältigungsmechanismus großgeworden? 

„Ich finde, es ist schon ein großer Unterschied, ob jemand Kritik äußert – also inhaltliche Kritik, die ja wichtig ist – oder ob es einfach nur Hass ist. Weil: Man übersieht Dinge, man weiß Sachen nicht, man muss ja auch mal darauf hingewiesen werden, wo man vielleicht etwas nicht mitgedacht hat oder was übersehen wurde. Das finde ich gut, das finde ich wichtig. 
 
Aber das ist eben etwas anderes als dieses, was du gerade gesagt hast – Shitstorm, Häme, Hass. Das sind verschiedene Dinge, und ich glaube, viele Leute können das nicht unterscheiden. Wenn ich etwas poste, dann ist das nie als Ganzheitsmeinung gedacht. Es ist eher ein Impuls, eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung, eine Art Verarbeitung. Ein Meme ist ja kein Essay. Es ist ein Ausgangspunkt. Und viele interpretieren das falsch, als wäre das schon das Ende einer Diskussion. 
 
Natürlich gibt’s auch diese typischen Trolls, das bringt Social Media einfach mit sich. Das sickert zwar manchmal durch, aber inzwischen kann ich das ziemlich gut unterscheiden: Ist das jetzt wirklich an mich gerichtet? Geht es da um Austausch, oder geht’s nur ums Klicken und um Reichweite? Wenn’s destruktiv ist, dann denke ich mir: So funktioniert das Internet halt – ich blocke und melde diese Personen dann auch.  
 
Und was Humor betrifft – ja, das stimmt schon, der spielt eine Rolle. Aber ich finde, man muss aufpassen, weil dieses Bild vom ,lustigen Juden’, der sein Trauma mit Humor verarbeitet, eben auch eine Art positives Stereotyp ist, das die Verantwortung der Verarbeitung wieder auf die Betroffenen abwälzt. So ein Klischee, das total bequem ist. Trotzdem glaube ich, Humor ist wichtig, gerade für jüdische Menschen. Es ist eine Art, sich zu schützen, Dinge zu verarbeiten. 
 
Mein Großvater hat mir zum Beispiel erzählt, dass sie in den KZ-Baracken heimlich Schnaps gebrannt haben – und dass sie sich betrunken und Witze erzählt haben. Das finde ich bis heute noch unglaublich. Weil das so eine Geschichte ist, die in der Erzählung vom jüdischen Widerstand fast nie vorkommt. Dass es da eben nicht nur Leid gab, sondern auch diesen Moment von Leben, von Humor, von Trotz. Dass man selbst da noch gelacht hat – nicht, weil man nichts verstanden hat, sondern gerade weil man alles verstanden hat."
 

Ich verstehe total, was du meinst – und trotzdem glaube ich, dass du die Kraft deiner Memes manchmal unterschätzt. Gerade für viele jüdische Menschen sind sie in dieser Zeit etwas, das Halt gibt. Wenn alles um einen herum brennt, wenn man in den Nachrichten und auf den Straßen nur noch Hass liest – „Zionists are Nazis“, „Juden raus“ –, dann ist es fast übermenschlich, das in Satire zu verwandeln.

 

Du hast diese seltene Fähigkeit, Schmerz in Sprache zu bringen, ohne ihn zu verharmlosen. Du legst den Finger auf das, was weh tut, und gleichzeitig zwingst du uns, zu lachen – nicht, weil es witzig ist, sondern weil das Lachen der einzige Moment ist, in dem man wieder atmen kann. 

Und das, finde ich, ist eine Form von Stärke, die man sich ruhig selbst zugestehen darf. 

 
„Danke, das berührt mich. Und, ja, Humor kann etwas unglaublich Heilsames haben. Die letzten zwei Jahre waren geprägt von Isolation, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Angst. Das sind so die Hauptgefühle, die man mit sich rumträgt. Und Humor holt dich genau da ab. Er trifft dich auf derselben Ebene, auf der du verzweifelt bist – nur eben in einer anderen Tonlage. 
 
Ich glaube, deswegen funktioniert das auch so gut. Humor kann dieselbe Intensität haben wie Schmerz. Wenn du auf der Höhe deiner Frustration abgeholt wirst, aber durch Humor, dann ist das wie ein Ventil. Und ja, so pathetisch das klingt: Humor ist ein verbindendes Element und oft die einzige Brücke, die überhaupt noch funktioniert. Eine Möglichkeit, Schmerz so aufzubereiten, dass auch Menschen, die selbst nicht betroffen sind, ihn wenigstens ansatzweise verstehen können.“ 
 

Wer ist eigentlich die Zielgruppe deiner Memes? Geht es dir in erster Linie um die Community – also darum zu zeigen: „Du bist mit diesem Gefühl nicht allein“ – oder ist es dir genauso wichtig, dass auch nichtjüdische Menschen deinen Content sehen und verstehen, worin die Probleme liegen? 

 
„Ganz ehrlich? Ich weiß oft selbst nicht genau, wer die Zielgruppe ist. Meistens poste ich einfach, weil ich etwas fühle – Wut, Frust, Traurigkeit, irgendwas – und dann haue ich das raus. Erst danach sehe ich in den Reaktionen, wen das eigentlich am meisten erreicht oder anspricht. 
 
Es ist mir schon öfter passiert, dass ich dachte: ,Ja, das ist jetzt ein total jüdisches Meme, das versteht eh nur die Community.’ Und dann wurde es plötzlich komplett von Nichtjüd*innen geteilt, die geschrieben haben: ,Ich hab keine Ahnung von dem Thema, aber das hat mich irgendwie zum Nachdenken gebracht‘. Das finde ich immer spannend – zu sehen, wie sich das verselbstständigt. 
 
Aber wenn ich’s priorisieren müsste, dann ist meine erste Ebene schon immer die jüdische Community. Weil das die Perspektive ist, aus der ich spreche – und weil ich weiß, wie sich dieser Schmerz anfühlt, den wir alle teilen. Meine Motivation ist dann, etwas in Bewegung zu bringen, das hilft, dieses Gefühl von Isolation ein Stück weit aufzulösen.“
 

Hast du gerade seit dem 7. Oktober auch Nachrichten von Menschen außerhalb der jüdischen Bubble bekommen, die dir geschrieben haben: „Hey, durch deinen Content habe ich einen neuen Blick auf etwas bekommen, das ich vorher übersehen oder verdrängt habe“ – also dass sich durch deine Arbeit bei ihnen etwas verändert hat? 

 
„Auf jeden Fall. Ich glaube, dass mein Account für viele Leute eine Art Einblick bietet, den sie vorher gar nicht hatten – oder gebraucht haben, um überhaupt zu verstehen, wie vielfältig jüdisches Leben ist. Viele merken dadurch erst: Jüd*innen sind keine homogene Masse. Nicht alle sind so, wie man’s vielleicht aus den Medien kennt oder vom Zentralrat der Juden – also eher superkonservativ, religiös und weiß.  
 
Allein das, zu sehen, dass es da so viele verschiedene Stimmen, Lebensrealitäten, Haltungen gibt – das ist für viele echt mindblowing. Viele merken dann auch, wie tief sie selbst noch in bestimmten Stereotypen hängen. Und ich glaube, genau das führt oft dazu, dass sich was bewegt – dass eine andere Auseinandersetzung entsteht. Vielleicht legen sich dadurch auch ein bisschen diese Hemmungen, diese Berührungsängste im Umgang mit jüdischen Menschen.“ 
 

Deine Memes fordern Ambiguitätstoleranz – du bist links, jüdisch, sprichst dich klar für Israels Existenzrecht aus und kritisierst trotzdem Netanjahu und den Siedlungsbau. Hast du das Gefühl, dass genau diese Vielschichtigkeit von außen oft missverstanden wird – vielleicht sogar so, dass man dir mangelnde Empathie für das Leid der Menschen in Gaza unterstellt? 

 
„Ich finde, dieser ganze Diskurs ist einfach komplett abgefuckt. Leute kommen mit ihren vorgefertigten Projektionen um die Ecke – mit Annahmen, die sie sich aus irgendwelchen Erzählungen zusammenbauen. Und dann reagieren sie auf dieses Bild, das sie von mir haben, nicht auf das, was ich tatsächlich sage oder tue. 
 
Ich habe mehrfach Aufrufe für Gaza geteilt. Ich habe Memes gemacht über Netanjahu. Ich kritisiere ständig die israelische Regierung – das ist alles öffentlich und kein Geheimnis. Aber das spielt keine Rolle, wenn Leute schon beschlossen haben, wer du für sie bist. Ich glaube, das ist etwas, in das man erst reinwachsen muss: dass es Menschen gibt, die haben ein fixes Bild von dir, und egal wie oft du versuchst, das mit Argumenten zu korrigieren – es wird nicht funktionieren. 
 
Und das liegt einfach daran, dass ich eine jüdische Person bin, die sich dafür ausspricht, dass Jüd*innen in Frieden und Sicherheit leben können. Für viele ist das schon gleichbedeutend mit einem automatischen Solidaritätsentzug gegenüber Palästinenser*innen. Aber das ist kein ,me problem’, das ist ein ,you problem’. Wenn deine Vorstellung von Solidarität bedeutet, dass Sicherheit und Frieden nicht für alle gleichzeitig möglich sind – dann checkst du Solidarität einfach nicht. 
 
Wenn Solidarität nur selektiv funktioniert, ist sie nichts wert. Und ich glaube, genau deshalb reden viele auch nicht mehr über Antisemitismus – weil sie Angst haben, ihr Kontingent an Empathie sei schon aufgebraucht. Das ist eine fiktive Erzählung von der begrenzten Ressource der Solidarität. So nach dem Motto: ,Ich hab jetzt schon zu viel Mitgefühl mit Jüd*innen gehabt, also kann ich das anderen nicht mehr geben’. Und das ist einfach eine komplett kaputte Art, die Welt wahrzunehmen.“ 
 

Manchmal habe ich das Gefühl, dass für viele Menschen Empathie dort endet, wo Humor beginnt. Sobald man etwas mit Witz oder Satire betrachtet, heißt es: „Darüber darf man doch keine Witze machen.“ Was sagst du – endet Empathie dort, wo Humor beginnt? 

 
„Das schließt sich überhaupt nicht aus. Im besten Fall ist beides endlos – Empathie und Humor. Ich glaube, gerade in Deutschland gibt es ein sehr seltsames Verständnis von Moral und dieser Haltung moralischer Überlegenheit. Da wird dann plötzlich festgelegt, was lustig sein darf und was nicht. Und ganz ehrlich: Wer entscheidet das? Also, wer ist hier eigentlich lustig? 
 
Ich mache zum Beispiel nie Memes über Zivilopfer oder über menschliches Leid. Mir geht’s nie darum, Leid abzuwerten oder zu relativieren. Ganz im Gegenteil – ich glaube, Humor ist manchmal die einzige Alternative, die bleibt. Wenn du keine Satire mehr machen darfst, keine Ironie, keinen Witz, dann bleibt dir ja nur noch, dich auf den Boden zu legen und dich deiner Depression hinzugeben.“ 
 

Du, ich kenne einige Leute, die nach dem 7. Oktober in Embryostellung auf dem Boden gelegen und tagelang das Haus nicht verlassen haben …

Das ist definitiv eine Option. Ich hatte jedoch ganz klar und belegt eine verzögerte Reaktion auf die Ereignisse. Mein Psychiater hat das alles mit mir durchgespielt. Ich habe rechts und links um mich herum alle leiden und umfallen sehen, war wochen- und monatelang so taub, dass ich das Gefühl hatte, unter einer Glaskuppel zu sitzen und alles nur noch dumpf wahrnehmen kann. Irgendwann war es dann so weit, dass dieses Glas erst Sprünge bekam und dann über mir einbrach. Und dann saß ich inmitten dieses Scherbenhaufens.  

Ich glaube, genau deswegen bin ich auch immer ein bisschen vorsichtig, wenn es um diese romantisierte Vorstellung von Resilienz geht. Dieses ,Egal was mit uns passiert, wir stehen wieder auf – das klingt schön, aber es ist auch verdammt anstrengend. Um ehrlich zu sein: Ich fände es auch mal ganz geil, einfach nicht resilient sein zu müssen. Einfach vielleicht hundert Jahre lang ,Living a good life mentally. 

Wenn du aus dem 9. November ein Meme machen müsstest, welches Bild und, wenn du das so spontan kannst, welche Wörter würdest du verwenden? 

„Ich habe einer Person mal erzählt, dass meine Großmutter damals fliehen musste und auch lange in China war. Woraufhin sie sagte:‚Das ist ja cool. Voll die Travellerin!‘. Ich finde, dass das den deutschen Umgang mit Erinnerung und den Umgang mit Jüdinnen und Juden ziemlich gut zusammenfasst. Dieses empörte Traurigsein an bestimmten Tagen, um dann im Alltag zu beweisen, dass man die Materie nicht verstanden hat."

Meme mit Text: Kontinuitäten on their way to fuck shit up | © ruth__lol
© ruth__lol
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