Suchen
Silhouette von Menschen im Park vor einem Sonnenuntergang | © IMAGO / Wolfgang Maria Weber
© IMAGO / Wolfgang Maria Weber
21.10.2025 • 14:00
Autorin Sarah Große-Johannböcke | © Lara Abul-Ella Sarah Große-Johannböcke
8 Minuten
Kommentar

Generation Kanonenfutter: Was das neue Wehrdienstmodell für die junge Generation bedeutet

Unsere Autorin Sarah fragt sich: Wie frei ist „freiwillig“, wenn der Staat Jugendliche ins Losverfahren schiebt, um sie für den Krieg fit zu machen?

Ich erinnere mich an meine eigene Volljährigkeit: Abi machen, Freund*innen treffen, Erdbeersekt auf Dorfpartys exen, nachts auf Feldwegen nach Hause laufen. Das ist alles noch gar nicht so lange her. 2017 war ein Sommer, in dem ich maximal mit meinen Eltern um den richtigen Spülmaschinengang oder die Studienwahl stritt. Niemand fragte mich, ob ich bitte dafür bereit sei, für „mein Land“ mit einer Waffe durch die Heide zu marschieren.

Eine „Wehrpflicht light“?

Es ist Juli 2025. In Bayern sind Sommerferien, die Menschen schwitzen in Freibädern und Ferienwohnungen, im Rest des Landes herrscht Sommerloch. Niemand denkt an deutsche Politiker*innen, während man Aperol auf Eis trinkt. Und dann tritt Boris Pistorius, SPD, Bundesverteidigungsminister, vor die Kameras und stellt ein Projekt vor, das den Sommer der Jugendlichen bestimmt, lange bevor sie überhaupt merken, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde. Deutschland soll ein neues Wehrdienstmodell bekommen. Start: Januar 2026. Überschrift: „Wehrpflicht light“.

Der unattraktivste Arbeitgeber der Republik

Die alte Wehrpflicht ist seit vierzehn Jahren ausgesetzt. Aktuell gibt es etwa 182.000 Soldat*innen in Deutschland. Angesichts der „verschärften Bedrohungslage in Europa“ solle die Bundeswehr noch konsequenter auf die Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet werden. 182.000 Menschen würden schlichtweg nicht ausreichen. Bis 2035 sollen es daher 260.000 Soldat*innen werden. Das Ziel des neuen Wehrdienstes sei es, einen Beitrag zur Stärkung der Reserve (also die Erhöhung der Anzahl der zur Verfügung stehenden Reservist*innen) zu garantieren. Offensichtlich haben Werbespots im Kino und Stände auf der GamesCom neben Call of Duty und Fortnite nicht ausgereicht, um genügend Jugendliche vom Militärdienst zu überzeugen. Die Wiedereinführung der Wehrerfassung und der Wehrüberwachung, so heißt es auf der Website des Bundes, forcieren den Aufbau einer starken personellen Reserve.

Wie aber lässt sich für den wohl unattraktivsten Arbeitgeber des Landes neues Personal gewinnen? Pistorius Antwort (so deutsch und nüchtern, wie es nur geht): ein Fragebogen, ein Register und die stille, dringende Hoffnung, dass das genügend Jugendliche motiviert, ihre Körper dem Staat zu verpflichten. Denn wenn deutsche Politiker*innen etwas noch mehr lieben als Militärromantik, dann ist das wohl die Bürokratie. Ab Jahrgang 2008 soll nun also jede*r Jugendliche Post vom Bund bekommen. Ziel ist es, ihre Eignung und Bereitschaft zum Dienst in der Bundeswehr zu ermitteln und frühzeitig für den Bund zu werben. 
 
Für Männer, bzw. Jungs soll die Ausfüllung des Bogens Pflicht sein, für Frauen bzw. Mädchen freiwillig. Ab 2027 soll dann die nächste Stufe folgen: Verpflichtende Musterungen für alle frisch 18 gewordenen Teenager. 
Wer abgeschreckt von (sexualisierter) Gewalt, Rechtsextremismus, rassistischer und antisemitischer Einstellung in der Truppe ist und bei den geplanten Vorhaben eher Zwangsverwaltung statt Freiwilligkeit riecht, kriegt als Besänftigungsstrategie aber auch ein paar Goodies obendrauf: ein höherer Sold (etwa 2.300 Euro netto), diverse Weiterbildungsmöglichkeiten, kostenlose Bahntickets, Bezuschussungen ohne Ende. 
Fast wirkt es so, als würde die Bundesregierung aus dem Wehrdienst eine Art staatlich gefördertes Gap-Year mit Schusswaffenausbildung machen. Man könnte lachen, wenn es nicht so düster wäre. Wer ernst bleiben will, dem*der fällt vielleicht auf, dass das alles für Jugendliche aus Haushalten mit wenig Geld ein gar nicht mal so unattraktives Paket sein könnte. Was also als „freiwilliger Dienst“ beworben wird, wirkt für viele eher wie ein rationaler Überlebensplan in einem System, das sonst kaum Perspektiven für die Zukunft bereithält. Für einige junge Menschen könnte der Schritt in die Kaserne somit weder aus aufgedrücktem Pflichtbewusstsein noch aus heroischen Motiven erfolgen, sondern schlicht aus fehlender Zukunftsperspektive und finanziellen Nöten.

Freiwilligkeit oder Losverfahren? 

Im Sommer hielt Pistorius seinen Plan noch für wasserdicht, zeigte sich hoffnungsvoll. Sein Mantra: „Wir setzen auf Freiwilligkeit, wir bekommen diese Zahlen.“ Für Friedrich Merz war Geld eh nie das Problem, sondern qualifiziertes Personal und Zeitdruck. Ganz schön bold von jemandem, der gleichzeitig den Sozialstaat für nicht mehr finanzierbar erklärt.

Offiziell lautet das Motto: „So viele Freiwillige wie möglich, so schnell wie möglich.“ Inoffiziell könnte man sagen: „Fröhlicher Wehrdienst – und möge das Glück stets mit euch sein!” Denn für den Fall, dass sich nicht genug begeisterungsfähige junge Menschen mit Passion für Disziplin und Frühaufstehen finden, wurde ein Thema besonders heiß diskutiert: das Losverfahren. Wer sich nicht freiwillig meldet, landet im Lostopf. Wie in Dänemark sollen zufällig ausgewählte junge Männer zur Musterung eingeladen und überzeugt werden, freiwillig zu dienen. Scheitert auch das, entscheidet der Bundestag, wer einrückt.
Am 16. Oktober 2025 wurde der Gesetzentwurf zur Modernisierung des Wehrdienstes unter dem Titel „Wehrdienst-Modernisierungsgesetz“ mit eben diesem „Kompromiss“ in den Bundestag eingebracht. Wochenlanges Zoffen in der Koalition, eine abgesagte Pressekonferenz, ein Pistorius, der nicht wütend, sondern reichlich enttäuscht ist – so richtig zufrieden mit dem Entwurf scheint niemand zu sein, nicht einmal diejenigen, die ihn vorgeschlagen haben. Die SPD hält an der Freiwilligkeit fest, die CDU findet das Konzept zu unverbindlich und fordert feste Aufwuchsziele, gern kombiniert mit einer allgemeinen Pflicht. Nach der ersten Lesung wurde der Entwurf an den Verteidigungsausschuss überwiesen. Ein echter Kompromiss, der den Namen verdient hätte, steht noch aus.

Mit oder ohne Losverfahren schwebt trotzdem im Subtext die Drohung: Wenn sich zum Ende der Dekade nicht genug finden, kommt die alte Wehrpflicht zurück. Der vorgestellte Entwurf erlaubt nämlich per Rechtsverordnung, bei wachsender Sicherheitsbedrohung zu einer verpflichtenden Heranziehung überzugehen. Dadurch, dass die Wehrpflicht vor 14 Jahren nicht abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt wurde, ist eine Wiederaufnahme übrigens auch gar nicht so kompliziert.

Schritt für Schritt, Fragebogen für Fragebogen und Los für Los geht es zurück in alte Militärstrukturen. „Freiwillig” ist hier wahrscheinlich genauso freiwillig gemeint wie die Teilnahme am Weihnachtsessen bei den Schwiegereltern.

Generation Kanonenfutter

Es gibt eine weitere Frage, die ich mir angesichts der bevorstehenden „Wehrpflicht light“ dringend stelle: Wie geht es den jungen Menschen eigentlich, die bald per Los oder „freiwillig“ zum Strammstehen in der Kaserne verdonnert werden könnten? Wer gerade in den sozialen Medien unterwegs ist, sieht eine Generation, die ihren eigenen Untergang mit einer Mischung aus Galgenhumor und Zynismus verarbeitet. Ernüchterung und Angst werden in Panem-Memes verpackt, ein sarkastischer Umgang mit Katastrophenszenarien dient als Schutzschild gegen die Ohnmacht. Unter einem Beitrag der Tagesschau lese ich in der Kommentarspalte die Formulierung „Generation Kanonenfutter“, es schmerzt, es passt.
Kein Volksentscheid, kein Zugehen auf junge Menschen, nicht mal ein Instagram-Poll oder eine halbgare Mentimeter-Umfrage. Entscheidungen werden, mal wieder, über die Köpfe junger Menschen hinweg gefällt, gerne dann, wenn ebendiese Menschen am Strand liegen und noch daran glauben, die Welt wäre offen für ihre Ideen & Hoffnungen. Auch diejenigen, die sich vielleicht freiwillig für den Dienst bei der Bundeswehr entscheiden würden, sind bedrückt über die Situation und fordern, dass ihnen in dieser Situation auf Augenhöhe begegnet werde
Und klar, es gibt auch genügend Jugendliche, die sich scheinbar pflichtbewusst den bisher rein bürokratischen Strapazen unterziehen würden. Begründung: „Irgendwer müsse ja das Land verteidigen.“ Es ist die „This-is-fine“-Attitüde einer Generation, die gelernt hat, dass sie von ihrer Politik sowieso nichts Besseres zu erwarten hat.

Für alles verantwortlich, von niemandem gefragt

In den letzten Jahren hat die Politik eindrücklich bewiesen, wie wenig Awareness für die Lebensumstände und Nöte junger Menschen vorhanden ist. Während der Pandemie wurden Schüler*innen mit sich und der Welt allein gelassen, eine angemessene digitale Ausstattung war und ist weiterhin nicht gewährleistet und psychische Belastungen wurden ignoriert oder kleingeredet. Klimakrise, Energiepolitik, bezahlbarer Wohnraum, Bildung, Rentensystem. Das alles wird wie ein ungeliebtes Schrottwichtelgeschenk an die Jugend weitergereicht, während die „Alten” gemütlich der Rente entgegenblicken; nach ihnen die Sintflut. Und dann? Dann soll genau diese Jugend im „Verteidigungsfall“ ein Land verteidigen, dessen Politiker*innen ihre Klimabewegung lächerlich machen, ihre Selbstbestimmung als „Gender-Gaga“ abtun und Teile von ihnen am liebsten aus dem ach so schönen deutschen Stadtbild streichen würden. Absurder lässt sich Verantwortung kaum delegieren.

Wenn Verteidigungsministerien wieder Kriegsministerien heißen

Am 1. September war Antikriegstag. Schulen schimmeln, es mangelt an bezahlbaren Wohnungen, soziale Leistungen werden gekürzt. Den Sozialstaat könne man sich nicht mehr leisten, Drohnen schon.
Heute, fast zehn Jahre nach meinem Abi, stehen auch wieder junge Menschen an der Schwelle zum Erwachsensein. Nach einer globalen Pandemie, andauernden Kriegen und bestehenden Ausbeutungs- und Ungleichheitssystemen hat sich die Zukunftsangst der jüngeren Generationen vielleicht nur noch verschärft. Ich verstehe die Angst, und klar, ich teile sie auch. Wie sicher ist unser Frieden wirklich, wenn Hass und Willkür in so vielen Teilen der Welt die Oberhand gewinnen? Was bedeutet es, wenn Europa alte Grenzen wieder hochzieht und Nationalstaaten als Bollwerke gefeiert werden? Wie viel Verantwortung in der Verteidigung eines Landes sollte Bürger*innen auferlegt werden?

Ich will nicht behaupten, die Antworten zu kennen. Ich will auch keine moralischen Abwägungen vollziehen. Und trotzdem: Wie fair ist es, die potenzielle Verteidigung eines Landes einer Jugend aufzubürden, deren aktuelle Lebensumstände und Probleme von der Politik weder gesehen noch ernst genommen werden? Wäre es nicht vielleicht wünschenswerter, junge Menschen friedenstüchtig statt kriegstüchtig zu machen?  
Was ich aber ganz genau weiß ist, dass es keine gute Entwicklung ist, wenn aus Verteidigungsministerien plötzlich wieder Kriegsministerien werden. Und was ich auch fest vertrete, ist der Grundsatz, dass kein Mensch jemals dazu genötigt werden sollte, sich für „sein“ Land irgendeine willkürlich gezogene Grenze in der Landschaft aufzuopfern und in Konflikte geschickt zu werden, in denen er bereit ist, potenziell Menschen zu verletzen, die mehr mit ihm gemeinsam haben als jene, die ihm diesen Auftrag erteilt haben. 

Eine Jugend ohne Kasernen

Ein weiteres Ziel des neuen Wehrdienstes soll übrigens auch sein, „jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich für Deutschland zu engagieren“. Als ob das nicht auch anders möglich wäre?
Ich wünsche mir eine Jugend, die Dates im Park hat, kostenlos durchs Land reist, Kulturtickets bekommt, frei wählen darf, wo sie eine Ausbildung startet, wo sie wohnt, wen sie liebt und zwar OHNE dass sie sich dabei dem Militär verpflichtet. Eine Jugend, die sich höchstens mit Eltern über Spülmaschinendienste streitet. 

Liebe Bundesregierung: Ein Land, das seine Jugend ins Feld schickt, statt sie zu fördern, verteidigt nicht, es verheizt.

 

Dieser Text erschien zuerst in unserem Voices Newsletter, für den du dich hier anmelden kannst.

Schlagwörter
Interview
Margret Rasfeld: „Wir brauchen Schulen, die Kinder stark machen – nicht klein.“ 
Bildung, sagt Margret Rasfeld, darf kein Ort der Angst sein, sondern einer der Selbstwirksamkeit, Empathie und Freude.
„Uns alle eint der Hass von außen“ – Anatomie einer CSD-Verhinderung
Trotz Spenden und Bekenntnis zur Vielfalt: Der Christopher Street Day (CSD) in Köthen wird 2025 systematisch behindert.
Feminismus: Was der Begriff heute bedeutet und wann jemand Feministin ist
Vom Wahlrecht bis hin zur #MeToo-Bewegung: Was ist Feminismus eigentlich?
Wie Angst, Bürokratie und rechte Drohungen die Pride-Saison 2025 belasten
Queeres Leben in Deutschland ist heute stärker von Bedrohungen und Übergriffen betroffen als je zuvor.
„FLINTA, weiblich gelesen, Frauen*“ – inklusiv denken, statt nur inklusiv sprechen 
Nicht-binäre Geschlechter und queere Lebensrealitäten sind sichtbarer denn je. Doch die deutsche Sprache bietet kaum ein...
Briefe statt Feindbilder: Eine Israelin und ein Iraner schreiben gegen den Hass an
„Über den Hass hinweg“ ist ein bewegender Briefwechsel zwischen der in Tel Aviv lebenden Autorin Katharina Höftmann Ciob...