Zum Internationalen Tag der Kinderrechte fordern der Kinderschutzbund und Frauenhauskoordinierung e.V. (FHK) eine grundlegende Kurskorrektur: Gewaltschutz vor Sorge- und Umgangsrecht – und zwar gesetzlich verankert. Was sich trocken juristisch anhört, beschreibt in der Realität eine der zentralen Schutzlücken im deutschen Familienrecht. Eine Lücke, die jedes Jahr Zehntausende Kinder betrifft und viele von ihnen gefährdet.
Kinderrechte auf Schutz, Sicherheit und gewaltfreie Erziehung sind in Deutschland längst gesetzlich anerkannt – aber im Gerichtssaal haben sie oft erstaunlich wenig Gewicht. Familiengerichte ordnen immer wieder Kontakte zu gewaltausübenden Elternteilen an, selbst wenn Kinder sich dagegen aussprechen und häusliche Gewalt nachweislich stattgefunden hat.
Stefanie Knaab („Gewaltfrei in die Zukunft e.V.) sagte im Interview mit EDITION F: „Es ist erschreckend, dass Jugendämter und Gerichte oft so argumentieren: ,Nur weil er ein schlechter Ehemann ist, ist er noch kein schlechter Vater' – Aber doch, das ist er! Wenn es einen gewaltausübenden Partner gibt, hört die Gewalt nach der Trennung nicht auf. Viele gewalttätige Partner bekommen durch das geteilte Sorgerecht immer noch die Möglichkeit, über das Kind Gewalt auszuüben. Und so haben viele Männer immer noch Kontrolle über ihre Ex-Partnerinnen. Denn obwohl es so viel häusliche Gewalt gibt, sind vom Jugendamt begleitete Besuche eher selten.“
„Es kann nicht sein, dass Kinder gegen ihren Willen zum Umgang mit gewalttätigen Elternteilen gedrängt werden“, sagt Daniel Grein, Bundesgeschäftsführer des Kinderschutzbundes. Doch genau das passiert – systematisch und bundesweit. Damit verletzt Deutschland nicht nur seinen eigenen Anspruch, Kinder als eigenständige Rechtsträger ernst zu nehmen, sondern auch völkerrechtliche Verpflichtungen: Die Istanbul-Konvention schreibt seit 2018 ausdrücklich vor, dass Gewaltvorfälle bei gerichtlichen Entscheidungen zum Sorge- und Umgangsrecht zwingend berücksichtigt werden müssen. Aber diese Vorgabe bleibt in der Realität allzu oft Theorie.
2024 erreichte häusliche Gewalt in Deutschland einen neuen Höchststand:
Kinder sind dabei selten nur stille Beobachtende. Viele erleben Gewalt unmittelbar, andere wachsen in einem Klima der Angst auf. Trotzdem werden Umgänge häufig so angeordnet, als seien Kinder unbeteiligte Dritte – oder als müsse die „Bindung“ zu beiden Elternteilen um jeden Preis aufrechterhalten werden. Sibylle Schreiber, Geschäftsführerin von Frauenhauskoordinierung e.V., fordert deshalb ein entschlossenes Umdenken: „Solange Gerichte auf Umgang drängen, statt Gewalt als Ausschlusskriterium zu begreifen, bleiben Kinder und Mütter schutzlos.“
Warum fällt es Gerichten so schwer, häusliche Gewalt als relevant für das Kindeswohl zu begreifen? Ein Teil des Problems liegt im juristischen Paradigma: Das deutsche Familienrecht geht noch immer stark von der Idee aus, dass ein Kind zwingend zwei aktive Elternteile brauche. Dass Gewalt dieses Konzept fundamental infrage stellt, wird in Gutachten und Verfahrensabläufen häufig nicht ausreichend berücksichtigt.
Der Fokus der Familiengerichte liege nicht auf dem Recht auf körperliche Unversehrtheit oder Sicherheit der Mütter, sondern auf dem Kindeswohl, schreibt Christina Clemm, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin, in ihrem Buch „Gegen Frauenhass“ (Hanser Berlin, 2023). Um dieses Kindeswohl aber richtig einschätzen zu können, ziehen Familienrichter*innen in diesen Fällen sogenannte Verfahrensbeistände heran. Sie sollen die Interessen der Kinder eruieren und in den Verfahren vertreten, doch Kenntnisse über geschlechtsbezogene Gewalt sind für ihre Arbeit keine Voraussetzung. Christina Clemm schreibt: „Meine Erfahrungen mit Verfahrensbeiständ*innen sind durchwachsen, leider gerade in Verfahren mit geschlechtsbezogener Gewalt häufig katastrophal.“ Denn hier geht es häufig um subjektive Annahmen und persönliche Wertvorstellungen, zum Beispiel: „Ein Kind braucht grundsätzlich beide Elternteile und leidet immer massiv unter dem Kontaktabbruch zu einem von ihnen.“ Oder: „Zu einem Streit gehören schließlich immer zwei.“
Oft werden die Kinder zu Objekten gerichtlicher Verhandlungen. Ihre Aussagen werden relativiert oder als „manipuliert“ abgetan. Ihre Ängste werden als Störfaktor im „Elternkonflikt“ gesehen – statt als Warnsignal. Die Folge: ein massiver Vertrauensbruch zwischen Kindern und staatlichen Institutionen, die sie eigentlich schützen sollten.
Die Istanbul-Konvention – offiziell das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ – ist mehr als ein Vertrag. Sie ist eine klare Haltung: Gewalt gegen Frauen ist kein Randthema, sie ist eine Menschenrechtsverletzung. 2011 beschlossen, formuliert die Istanbul-Konvention erstmals verbindliche Standards, die Staaten in die Pflicht nehmen, Betroffene zu schützen, Gewalt konsequent zu verfolgen und Prävention nachhaltig zu stärken.
Deutschland hat die Konvention 2017 ratifiziert, seit dem 1. Februar 2018 gilt sie hierzulande verbindlich. Die 81 Artikel fordern nichts weniger als einen systemischen Wandel: umfassende Schutzkonzepte, unabhängige Beratungsstrukturen, verlässliche Finanzierung, wirksame Strafverfolgung. Und sie machen deutlich: Geschlechtsspezifische Gewalt ist kein individuelles Problem, sondern eine strukturelle Realität.
Damit stellt die Istanbul-Konvention auch eine große gesellschaftliche Aufgabe: Sie stärkt das Recht von Frauen auf ein Leben frei von Gewalt – und rückt echte Gleichstellung in den Mittelpunkt staatlichen Handelns. Ein Kompass für eine Zukunft, in der Sicherheit und Selbstbestimmung nicht verhandelbar sind.
Die Forderungen des Kinderschutzbundes und des Vereins Frauenhauskoordinierung e.V. sind klar – und überfällig:
Am Ende geht es um eine einfache Wahrheit: Ein Kind, das sich gegen Kontakt ausspricht, hat dafür einen guten Grund. Dieser Grund verdient Respekt. Kinder sollen nicht länger die Verantwortung dafür tragen, dass Erwachsene respektive Institutionen ein Bild von „intakter Familie“ aufrechterhalten können. Ihr Recht auf Schutz, Sicherheit und ein Leben ohne Angst ist kein verhandelbarer Punkt – es ist ein Menschenrecht. Und Deutschland steht in der Pflicht, dieses Recht zu garantieren.