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18.12.2025 • 08:56
Autorin Anne-Kathrin Heier | © Heike Bogenberger Anne-Kathrin Heier
7 Minuten
Männliche Gewalt

Stille Nacht? – Häusliche Gewalt an den Feiertagen

Weihnachten gilt gemeinhin als „Fest der Liebe“. Doch gerade an den Feiertagen nimmt die Gewalt insbesondere gegen Frauen und Kinder noch mehr zu und eskaliert oft im Verborgenen. Warum es so schwierig ist, der Gewalt durch den Partner oder Ex-Partner zu entkommen – und was das Umfeld tun kann. 

Weihnachten. Ob man es feiert oder nicht – vorbei kommt man an diesem Fest kaum. Lichterketten, Last Christmas, Herrnhuter Sterne in rot und gelb an den Balkonen, Glühweinstände und Lebkuchen in allen Formen und Größen. Und jeder Aktivität wird der Weihnachts-Zusatz vorangestellt. Leute spielen Weihnachtsfußball, gehen in den Weihnachtszirkus, trinken Weihnachtsbrause, an jeder Ecke ein Weihnachtsmarkt und jede Menge Weihnachtsfilme in der Mediathek. 

Vor kurzem sitze ich zusammen mit einigen Familienmitgliedern vor einem Weihnachtsfilm-Klassiker. Der Protagonist ist gezeichnet als breitschultriger, gutaussehender sehr großer Mann, der einerseits leicht melancholisch ist und auf der anderen Seite ein „liebenswertes“ Problem mit seiner Impulskontrolle hat. Die in sein Wittwerleben tretende Schönheit verliebt sich natürlich in ihn, und er sich in sie. Dann diese Szene: Eine weihnachtlich geschmückte Bar, überall selbst gebastelte Sterne, sanfte Musik, doch als der Ex der Frau auftaucht, vergisst sich der Protagonist und schlägt ihm ins Gesicht. 

Dieser Faustschlag kommt ganz plötzlich in diesem ansonsten vor Kitsch triefenden Weihnachtsfilm, niemals hätte ich ihn hier vermutet. Es ist brutal und erschreckend gleichermaßen, doch ich blicke in die Runde der Zusehenden, und niemand scheint sich an der unvermittelten Gewalt zu stören. Vielmehr scheint es ganz normal, dass sich dieser Mann nicht mehr im Griff hat. Dass er vollkommen ausrastet. Es scheint ok zu sein, dass er sich danach entschuldigt. Schließlich bekommt das Publikum ja sein Happy End, denn Happy Ends passen einfach gut zur Weihnachtzeit. Zur Weihnachtsfamilie. Zur Weihnachtsharmonie. 

Aber die Frage bleibt: Warum fällt niemandem diese Gewalt im Alltäglichen auf? Ist sie Teil unserer aller Realität? 

Häusliche Gewalt auf neuem Höchststand

Gewalt gegen Frauen durch ihre Partner oder Ex-Partner ist ein immenses strukturelles Problem, die Anzahl der Taten steigen Jahr für Jahr. Aus den kürzlich erschienenen Bundeslagebildern des BKA geht hervor:

  • 2024 wurden in Deutschland 265.942 Menschen Opfer Häuslicher Gewalt – ein erneuter Anstieg um 3,8 Prozent und damit ein neuer Höchststand.
  • 2024 waren 80 Prozent der von Partnerschaftsgewalt Betroffenen weiblich.
  • Durchschnittlich alle drei Minuten erlebt eine Frau häusliche Gewalt durch einen Mann.
  • Jeden Tag versuchte ein Mann, eine Frau zu töten, das heißt: jeden Tag ein versuchter Femizid.
  • 132 Frauen wurden in Deutschland 2024 durch ihren (Ex-)Partner getötet – 132 Femizide.
  • Zur Anzeige gebrachte frauenfeindliche Straftaten nahmen um 73 Prozent zu.
  • Digitale Gewalt in und außerhalb von Partnerschaften nahm deutlich zu. Am stärksten betroffen sind Frauen und Mädchen.                

Wenige Tage später – Weihnachten rückt immer näher – suche ich online in den Kleinanzeigen nach einem Geschenk für eines meiner Familienmitglieder. Dabei stolpere ich über ein Wohnungsgesuch:  

Ich, 42, und mein achtjähriger Sohn suchen dringend eine Wohnung. Die Lage ist für uns zunehmend gefährlich geworden. Bitte helfen Sie uns. 

Nun suche ich gezielt nach ähnlichen Inseraten und finde viele davon. Bei einer Anzeige steht auf dem zugehörigen Bild „Notfall“. Darunter lese ich diesen Anzeigentext:



Hallo, ich suche dringend eine Wohnung für mich und meine beiden 2 Kinder. Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnung. Wegen häuslicher Gewalt. Er hat aktuell ein Annäherungsverbot, aber ich kann nicht in der Wohnung bleiben, da sie zu teuer ist. Bis 1200 € warm. Ich könnte sofort einziehen.

Unter der Überschrift „Dringend 3-4-Zimmer-Wohnung gesucht“, finde ich die Zeilen einer Mutter, die für ihre Tochter und ihre Enkelkinder eine Wohnung sucht: 

Meine Tochter hat 4 Kinder, die in Schule und Kindergarten gehen, nur der kleinste ist noch zuhause. Die Familie muss dringend da raus, die Kinder haben panische Angst vor dem Vater, der sich weigert zu gehen. Das Jugendamt war leider auch keine Hilfe, also versuche ich es auf diesem Wege, etwas für meine Tochter und meine Enkel zu finden.
 

Kein Entkommen

Der Wohnungsmarkt allein in Berlin ist eine Katastrophe. In anderen Städten sieht es ähnlich aus. Menschen, die über alle erdenklichen Privilegien verfügen, kommen hier schon an ihre Grenzen. Wie ist das für eine von Gewalt durch ihren Partner betroffene Frau und ihre Kinder? 

Eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau steht ohnehin und meist schon viele Jahre lang unter ständigem Druck in einem von Angst durchsetzten Raum. Sie braucht all ihre Energie dafür – und noch mehr, wenn es um den Schutz der Kinder geht. Eine Wohnung zu finden, kostet enorme zusätzliche Energie – erst recht dann, wenn bezahlbarer Wohnraum nicht einfach verfügbar ist, sondern nur über persönliche Beziehungen erreichbar. Die Flucht ins Frauenhaus kann für die Frau der erste Schritt in Obdachlosigkeit und Armut sein. Auch das hindert viele Frauen oft daran – neben zahlreichen anderen guten Gründen – sich aus der Gewalt zu befreien. Denn Gewalt geht in vielen Fällen mit Isolation und finanzieller Abhängigkeit einher; ein Entkommen erscheint für viele nahezu unmöglich. Die Frau hält die Situation aus, oft über Jahre hinweg. Bis es nicht mehr weiter geht. Vielen Femiziden geht der ausgesprochene Wunsch der Frau voraus, sich zu trennen. 

Die Gewalt ist überall, jederzeit

Ich stehe auf, laufe zum Fenster, mein Blick wandert über die Häuserfronten, die zum Teil weihnachtlich geschmückt sind. Hier, inmitten der Großstadt, umgeben von Einfamilienhäusern, Mehrfamilienhäusern, Hochhäusern und Geschäftsstraßen ist die Idee zum Video für den Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen entstanden. Denn noch immer verirren sich alte Mythen in die Köpfe – in der Gesellschaft ist gemeinhin der Gedanke verankert, dass die zum größten Teil männliche Gewalt gegen Frauen (ca. 80 Prozent der Opfer sind Frauen und Mädchen) „nur“ bestimmte Bevölkerungsgruppen trifft. Dabei ist sie überall. Und wir alle tragen sie mit. 

Stefanie Knaab vom Verein „Gewaltfrei in die Zukunft e.V.“ fragt sich im Interview mit EDITION F, warum nicht längst mehr Männer auf die Straße gehen: Häusliche Gewalt werde immer als Frauenthema deklariert. Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen, das heißt: „Wir alle kennen Betroffene, wir alle kennen aber auch Täter. Und wir müssen offen über dieses Thema sprechen, um es zu entstigmatisieren.“

In diesen Tagen wünschen sich Menschen an jeder Ecke und in jeder Kassenschlange „Friedliche Feiertage“. 
Ja: Frieden. Wir alle wissen, dass der gerade über Weihnachten in so vielen Familien ausbleibt. Das tagelange Aufeinandersitzen, geschlossene Geschäfte, alles spielt sich in den eigenen vier Wänden ab. Diese dicken, dicken Wände, in denen die Gefahr für Frauen durch Männer größer ist als überall sonst. Die Wohnungsgesuche, die kurz vor Weihnachten veröffentlicht wurden, hallen in meinem Ohr nach: Wegen häuslicher Gewalt, er hat aktuell ein Annäherungsverbot, aber ich kann nicht in der Wohnung bleiben… 

Die Gesellschaft trägt immer eine große Verantwortung. An jedem Tag im Jahr. Aber ganz besonders über die Feiertage. Es ist wichtig, dass wir hinhören. Es ist wichtig, dass wir die Polizei lieber einmal zu viel alarmieren als einmal zu wenig. Es ist wichtig, dass wir aufmerksam sind, dass wir Fragen stellen, dass wir auch mal klingeln und zeigen: Hier ist jemand, der*die hinhört.

Durchschnittlich alle drei Minuten wird eine Frau in Deutschland Opfer von häuslicher Gewalt. Gewalt gegen Frauen ist kein Randthema. Sie betrifft dich. Sie betrifft mich. Sie betrifft uns alle. Sie ist überall, zu jeder Zeit.

Es ist das Ende des Jahres 2025 und ich zitiere den Beginn aus dem wichtigen Buch „Gegen Frauenhass“ von Christina Clemm:

„Würden wir am Ende eines Jahres eine Schweigeminute für jede in Deutschland von ihrem Partner ermordete Frau halten, schwiegen wir über zwei Stunden. Gedächten wir aller Frauen, die einen Tötungsversuch überlebt haben, wären es sechs Stunden. Und würden wir für jede frauenverachtende Tat, jede erlittene Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung, Herabwürdigung, sexualisierte Nötigung und Belästigung den Mund halten, könnten wir das Reden langfristig einstellen. Aber Schweigen hilft nicht.“

Hier findest du Hilfe

Frauenhauskoordinierung: Hier kannst du nach Frauenhäusern und Fachberatungsstellen in ganz Deutschland suchen. Die Informationen werden dir in elf Sprachen zur Verfügung gestellt. 

Das Hilfetelefon – Beratung und Hilfe für Frauen: Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung werden Betroffene aller Nationalitäten unterstützt, mit und ohne Behinderung – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. Auch Angehörige, Freund*innen sowie Fachkräfte können anonym und kostenfrei beraten werden. 

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