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Schulleiterin Margret Rasfeld im Porträt | © Margret Rasfeld
© Margret Rasfeld
08.10.2025 • 16:00
Autorin Linda-Rachel Sabiers | © Max Zerrahn Linda Rachel Sabiers
19 Minuten
Interview

Margret Rasfeld: „Wir brauchen Schulen, die Kinder stark machen – nicht klein.“ 

Kinder sollen wachsen dürfen – und nicht daran zerbrechen, ständig bewertet, verglichen und gemessen zu werden. Bildung, sagt Margret Rasfeld, darf kein Ort der Angst sein, sondern einer der Selbstwirksamkeit, Empathie und Freude am Lernen. Doch die Realität sieht oft anders aus: „Schule ist der Ort, an dem Ohnmacht systematisch eingeübt wird.“ Die Pädagogin und ehemalige Schulleiterin kritisiert ein System, das Kinder zu Gehorsam erzieht statt zu Gestalter*innen macht – geprägt von Notendruck, Scham und fehlendem Vertrauen.

Mit Konzepten wie dem FREI DAY und dem RealLabor Leipzig – einem Bildungs- und Begegnungsort, an dem Schüler*innen, Lehrkräfte, Eltern und Expert*innen neue Lernkulturen erproben – zeigt Rasfeld, dass Lernen anders geht: selbstbestimmt, sinnhaft, verbunden mit der Welt. Bildung, sagt sie, kann nur dann gerecht und zukunftsfähig sein, wenn sie auf Augenhöhe geschieht – und Kinder wieder erleben dürfen, dass ihre Stimme zählt. Eine Schule, die stark macht, ist möglich. Wir müssen sie nur endlich zulassen

Sie setzen sich seit vielen Jahren für eine transformative Bildung ein, die junge Menschen zu empathischen und verantwortungsvollen Gestalter*innen macht. Was läuft Ihrer Meinung nach grundlegend falsch im aktuellen Schulsystem – und wo müssen wir neu denken

„Kinder werden schon im frühen Alter in Gewinner*innen und Verlierer*innen eingeteilt. Eltern setzen sich selbst massiv unter Druck, Lehrer*innen stehen unter Druck – und die Kinder mittendrin haben kaum Raum, sich in ihrem eigenen Tempo zu entfalten. Schon früh lernen sie: Du gehörst in dieses Kästchen, du in jenes.

Unser Bildungssystem vertraut nicht auf den Menschen, sondern auf Stoff, Noten und messbare Leistung. Dabei gehen genau die Werte verloren, die wir für die Zukunft so dringend brauchen: Empathie, Kreativität, die Fähigkeit, Komplexität zu begreifen und Systeme zu verstehen. Statt Lernen als lebendigen Prozess zu begreifen, wird es in Fächer zerteilt – sechs am einen Tag, drei am nächsten. Was bleibt, ist ein System, das fächerübergreifendes Lernen und das  leben lernen zur Nebensache macht.

Kinder werden zum Objekt gemacht – zum Objekt der Absichten, Erwartungen, Bewertungen und Maßnahmen von Eltern und Lehrer*innen. Das verletzt ihre Würde. Hinzu kommt eine Kultur des Beschämens, oft unbewusst und weitergegeben aus eigener Erfahrung. Studien zeigen, dass fast ein Drittel der schulischen Kommunikation beschämend ist. Und dazu gesellt sich das Machtsystem Schule: Sitzzwang, Notenzwang, Stoffzwang, der Raub der Eigenzeit, Lernen im Gleichschritt – alles Eingriffe, die tief würdefeindlich sind.

Natürlich reagieren Kinder darauf. Manche entwickeln einen regelrechten Bestnotensucht , andere sagen einfach: Scheiß Schule. Wieder andere flüchten in Konsum – als Ersatz für das, was sie im System nicht bekommen. Wenn man es auf den Punkt bringt: Was macht ein Kind eigentlich zur „Schüler*in“? Ein-Stuhlung, Fremdbestimmung, Dauerbewertung, kognitive Überfrachtung – und die Trennung von Herz und Körper. All das sind Faktoren, die zu innerer Erschöpfung führen. Wir erleben heute Kinder, die mit neun Jahren schon Symptome eines Burnouts zeigen.”

Machen Noten unsere Kinder krank?

„Kinder fühlen sich nicht in ihrer ganzen Persönlichkeit gesehen, sondern auf ihre Leistung reduziert. Schlechte Noten erzeugen Scham, Überforderung, Konkurrenz – genau das, was wir überwinden müssen. Wir brauchen die Kraft des Wir, nicht das Denken in Ich bin besser, ich stehe höher auf der Leiter. Deshalb gehören Noten in die Mottenkiste. Und das ist längst keine Utopie. Es gibt heute schon bessere Systeme – neue Prüfungsformate, Feedbackmodelle, Portfolios. Alles ist da. Es muss nur endlich Einzug in die Schulen halten.

Besonders bedrückend finde ich, dass viele Jugendliche die Schule mit dem Abitur verlassen – einem Zeugnis der Reife – und dennoch voller Erfüllergeist und Versagensangst sind. Was wir aber brauchen, ist Zuversicht, Kreativität, die Erfahrung von Wirksamkeit und die Lust, die Welt zu verändern."

In Ihren Schulprojekten steht das Prinzip „Verantwortung übernehmen“ im Zentrum. Was brauchen Kinder und Jugendliche heute, um Resilienz und Selbstwirksamkeit zu entwickeln – besonders in einer Welt, die von Krisen und Komplexität geprägt ist?

„Die Situation der Jugendlichen ist dramatisch – und sie müsste uns wachrütteln. Besonders nach den Erfahrungen der Lockdowns, die viele junge Menschen tief verunsichert haben. Politiker*innen entschuldigen sich zwar und sagen, sie wollten jetzt alles besser machen, aber ehrlich gesagt: Ich merke davon wenig. Die Entschuldigung allein reicht nicht.

Etwa 60 Prozent der jungen Menschen glauben heute nicht mehr daran, dass wir die Welt noch wirklich verändern können. Viele sind durchaus nachhaltig orientiert, aber sie haben in 12, 13 Jahren Schule vor allem eines gelernt: Ohnmacht. Schule ist der Ort, an dem Ohnmacht systematisch eingeübt wird. Ein Elfjähriger hat es einmal so formuliert: „Eigentlich gehst du ja in die Schule, um gehorchen zu lernen. Den ganzen Tag tust du, was andere dir sagen – und so lernst du, zu funktionieren. Aber ist das wirklich der Sinn von Schule?”

Sie sprechen von einer „Ohnmachtsfalle Schule“. Was meinen Sie damit – und was macht diese Erfahrung mit jungen Menschen?

„Ich bekomme viele Briefe von Schüler*innen, in denen sie beschreiben, wie es ihnen geht. Da steckt so viel Schmerz und Frustration drin – das ist die „Ohnmachtsfalle Schule“. Und das Gegenteil von Ohnmacht sind Partizipation, Selbstwirksamkeit und Sinn – genau das sind die stärksten Resilienzfaktoren. Diese müssen wir jetzt konsequent ermöglichen und uns fragen: Welche Lernformate, mit welcher Haltung der Erwachsenen, fördern genau das?

Dafür habe ich in den letzten Jahren einiges auf den Weg gebracht – etwa den FREI DAY, eine Weiterentwicklung des von mir gegründeten Schulfachs „Verantwortung“. Ich freue mich sehr, dass inzwischen viele Schulen dieses Konzept aufgreifen. Der FREI DAY läuft richtig gut – es gibt ihn erst seit fünf Jahren, aber schon jetzt nehmen über 400 Schulen teil, auch in Österreich und der Schweiz. Für viele ist er ein Einstieg in eine neue Lernkultur – eine Brücke in die Zukunft, weil es ja überfordernd wäre, eine ganze Schule auf einmal umzubauen.”

Wie kann Schule denn stattdessen zu einem Ort werden, an dem Kinder Selbstwirksamkeit erfahren – und spüren, dass sie etwas verändern können?

„Die Wurzeln liegen in meiner Schulgründung 1996 in Essen, einer Gemeinschaftsschule in einem sozialen Brennpunkt mit Kindern aus 35 Nationen. Damals hatte die UNESCO gerade den Bericht „Bildung für das 21. Jahrhundert“ veröffentlicht. Neben Wissenserwerb und dem Lernen, zusammenzuleben, hieß es dort: „Lernen, zu handeln.“ Also gaben wir unseren Schüler*innen einen Tag in der Woche, um im Stadtteil aktiv zu werden – mit Projekten rund um Nachhaltigkeit, damals unter dem Begriff Agenda 21. Daraus entstand später das Schulfach Verantwortung: Jede*r Schüler*in sucht sich eine soziale oder ökologische Aufgabe – mit Kindern, mit Alten, im Umweltschutz, bei Stadtprojekten. Das ist gelebte Herzensbildung, pure Selbstwirksamkeit.

Heute findet sich dieses Prinzip im Programm Bildung für nachhaltige Entwicklung wieder. Dort steht klar: Kinder und Jugendliche brauchen strukturell verankerte Freiräume, um Handeln zu lernen – um die Welt zu verändern. Genau das ist das Ziel des FREI DAY. Wir haben die Lernzeit auf vier Stunden pro Woche ausgeweitet, das Curriculum orientiert sich an den Nachhaltigkeitszielen der UN.

„Wenn du als Lehrer*in deine Haltung änderst, wirst du zur Meister*in zweier Welten – du kannst beides, altes Wissen vermitteln und neues Lernen begleiten.“

Die Schüler*innen wählen in Gruppen ein Thema, das sie bewegt – von Solarenergie über Insektensterben bis Mental Health. Sie recherchieren, verstehen, und dann überlegen sie: Was können wir konkret verändern – in unserer Schule, in unserer Stadt, in unserer Umgebung? Sie entwickeln Lösungen, setzen sie um und bekommen so viel Zeit, wie sie brauchen. Wissen erwerben, handeln, gestalten – das sind die drei Säulen des FREI DAY.

Und das funktioniert: Weil die Lernzeit fest verankert ist, können wir jede Woche Expert*innen aus der Gesellschaft einbinden – Eltern, Künstler*innen, Handwerker*innen, NGOs. Diese Öffnung nach außen ist unglaublich wertvoll. Die Kinder freuen sich richtig auf den FREI DAY – oder wie manche Schulen ihn nennen, ihren „Donnerstags- oder Mittwochs-FREI DAY“. Auch die Eltern sind begeistert.”

Viele Lehrkräfte fragen sich, wie sie in diesem neuen Lernen ihren Platz finden. Wie verändert sich ihre Rolle – und was passiert, wenn Vertrauen entsteht?

„Für Lehrer*innen bedeutet das eine neue Rolle: Weg vom Frontalunterricht, hin zu einer Begleitung. Es braucht Vertrauen in die Prozesse – und dafür haben wir Servicepakete, Bibliotheken und Mediatheken aufgebaut, um den Einstieg zu erleichtern. Aber entscheidend ist die Haltung. In 90 Prozent der Fälle ist das der Knackpunkt. Wenn du als Lehrer*in deine Haltung änderst, wirst du zum „Meister zweier Welten“ – du kannst beides, altes Wissen vermitteln und neues Lernen begleiten.

Eine meiner Lieblingsgeschichten kommt aus einer Berliner Grundschule, die als eine der ersten mitgemacht hat. Zwei Klassen begannen, dann stieg die ganze Schule ein. Die Kinder steckten vier benachbarte Schulen an und dann organisierten alle Schulen zusammen eine große Demonstration, zogen eine Stunde lang mit Transparenten durch ihren Stadtteil – die Polizei sperrte eine Seite einer Hauptverkehrsstraße Es war eine unglaubliche Stimmung, Lieder wurden gesungen, Eltern und die Omas4future waren dabei. Und als „Kinder an die Macht“ von Herbert Grönemeyer lief, standen alle am Rand und winkten. Selbst die Lkw-Fahrer gaben Daumen hoch. Da war spürbar: Diese Kinder erleben, dass sie etwas bewirken können. Das ist Bildung, wie sie sein sollte.”

Sie fordern schon lange: Schule muss ein Ort des Lebens sein, nicht nur des Lernens. Was heißt das konkret im Hinblick auf Medienkompetenz, Empathie und Demokratiebildung?

„Wenn wir über Medienkompetenz, Empathie und Demokratiebildung sprechen, müssen wir zuerst Eltern und Lehrer*innen aufklären. Viele wissen gar nicht, wie gezielt Tech-Konzerne Kinder manipulieren. Sie machen sie abhängig, süchtig, um Profit zu erzielen. Das muss man deutlich sagen. Kinder werden systematisch in eine digitale Welt hineingezogen, die sie überfordert – mit Fake News, Gewalt und Pornografie.”

Viele Kinder wachsen heute mit Social Media, Gewaltvideos und Fake News auf. Was braucht es Ihrer Meinung nach, um sie wirklich stark im Umgang mit digitalen Medien zu machen?

„Ich erlebe das oft bei Vorträgen: Wenn ich erzähle, dass Elfjährige im Internet mit einem Klick auf extreme körperliche und sexuelle Gewalt stoßen, schauen mich Lehrkräfte entsetzt an. Viele sagen: „Das kann doch gar nicht sein.“ Und ich frage mich dann, wie viel wir eigentlich verdrängen. Was wir stattdessen bräuchten, wäre Staunen, Ehrfurcht, Fürsorge, die Lust am Caring und an Verantwortung – all das wird systematisch zerstört. Kinder und Jugendliche werden mit Gewaltbildern, Hardcore-Pornografie und Zynismus überflutet, stumpfen ab und werden traurig oder depressiv.

Deshalb braucht es Aufklärung, aber auch Räume, in denen Kinder lernen, selbstbestimmt und kritisch mit Medien umzugehen. Ziel muss sein, sie von Konsument*innen zu Gestaltenden zu machen: nicht nur Inhalte aufnehmen, sondern sie selbst erschaffen. Medien können schließlich auch Gutes. Sie können Ausdruck ermöglichen, Kreativität fördern, Vernetzung und Stimme schenken. Jugendliche können Filme drehen, Projekte dokumentieren, ihre Perspektive zeigen und die Welt erreichen. Es geht darum, vom konsumierenden zum kritischen Menschen zu werden, der Medien nutzt, um Haltung zu zeigen, sich zu vernetzen und informiert zu handeln.

Dafür braucht es Zeit im Schulalltag, echte Zeit. Beim FREI DAY zum Beispiel lernen Kinder das automatisch: Sie recherchieren, hinterfragen Quellen, prüfen Inhalte, lernen im Tun. Learning by doing – das ist Medienbildung, die wirkt.“

Und wie hängen Medienkompetenz, Empathie und Demokratiebildung für Sie zusammen?

„Empathie und Demokratiebildung entstehen genau dort, wo Schüler*innen nicht länger frontal belehrt werden, sondern selbstbestimmt lernen. Wo sie entscheiden dürfen, wann und wie sie sich prüfen, sich gegenseitig helfen und Verantwortung übernehmen. Wenn Kinder im FREI DAY oder im Fach Verantwortung Projekte gestalten, erleben sie Demokratie in Aktion. Schule kann und muss der Ort sein, an dem Demokratie gelernt wird – oder eben nicht.

Denn Schule ist die Stadt im Kleinen. Und an Demokratie kann nur glauben, wer erfahren hat, dass sie hält, was sie verspricht. Doch viele erleben das Gegenteil. Sie fühlen sich ohnmächtig, gefangen in einem System, das sie zu Gehorsam erzieht. Ich habe Zitate von Schüler*innen, die schreiben: „Das Schlimmste ist, dass es noch sieben Jahre so weitergeht. Tag für Tag. Und ich kann nichts tun.“

Ich kenne viele Jugendliche, die etwas verändern wollen und immer wieder gegen Wände laufen. Nach dem dritten Versuch geben sie auf: „Hat eh keinen Sinn.“ Andere trauen sich gar nicht erst, etwas zu sagen, weil sie Angst vor schlechten Noten haben. Diese Angst ist allgegenwärtig – und manchmal leider auch berechtigt.“

Gerade benachteiligte Kinder und Jugendliche tragen die Last einer Gesellschaft, die kurzfristig denkt und langfristige Verantwortung aufschiebt. Welche Rolle spielt Bildungsgerechtigkeit in Ihrer Arbeit – und was fordern Sie hier von der Politik?

„Für mich ist Bildungsgerechtigkeit untrennbar verbunden mit Humanität, Vielfalt und Solidarität. Eine Schule der Zukunft muss eine Gemeinschaftsschule sein – ein Ort, an dem Kinder in ihrer Verschiedenheit gemeinsam lernen und voneinander profitieren.

Fakt ist: Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt, und trotzdem ist hier der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängig wie in kaum einem anderen Land. Das ist beschämend. Ich schäme mich dafür – und genau deshalb kämpfe ich dafür, dass wir diesen Ungeist der Selektion endlich überwinden. Wir reden ständig über Leistung, aber ein System, das Kinder trennt und aussortiert, zerstört genau die Potenziale, die es eigentlich fördern sollte.

„Einer der stärksten Faktoren für Menschenfeindlichkeit ist die Betonung von Ungleichwertigkeit. Und genau das tut unser Schulsystem. Es sagt: „Du bist besser, du bist weniger wert.“ Das ist fatal. Es fördert Konkurrenz statt Mitgefühl und trägt so zur Polarisierung unserer Gesellschaft bei.“

Das müssen wir auch aus einer anderen Perspektive betrachten – nämlich der von Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat in seinen Langzeitstudien über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gezeigt, wie tief diese Muster in unserer Gesellschaft verankert sind. Viele Menschen sagen heute: „Werte sind ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.“ Das ist erschreckend. Aber Heitmeyer fand auch heraus: Die Menschlichkeit ist nicht verloren gegangen. Sie wird nur oft nicht gelebt, weil wir uns voneinander trennen – nach Schultyp, sozialem Status, Herkunft.

Einer der stärksten Faktoren für Menschenfeindlichkeit ist die Betonung von Ungleichwertigkeit. Und genau das tut unser Schulsystem. Es sagt: „Du bist besser, du bist weniger wert.“ Das ist fatal. Es fördert Konkurrenz statt Mitgefühl und trägt so zur Polarisierung unserer Gesellschaft bei. Wir brauchen dringend ein gemeinsames Lernen – mindestens neun Jahre lang. Nur wenn Kinder von Anfang an erfahren, dass Vielfalt normal ist, können sie später eine demokratische, solidarische Gesellschaft gestalten. Wie wollen wir das Zusammenleben in einer Welt lernen, wenn wir uns nicht einmal trauen, unsere eigenen Kinder gemeinsam aufwachsen zu lassen?

Heute zerreißen wir Freundschaften nach der vierten Klasse, weil das System trennt. Eltern geraten schon in der dritten Klasse in Panik: „Auf welche Schule kommt mein Kind?“ Viele wollen um jeden Preis das Gymnasium, üben Druck aus, machen ihren Kindern Angst. Das ist Wahnsinn. Wie schön wäre es, wenn alle Kinder einfach neun Jahre gemeinsam lernen dürften – ohne Sortierung, ohne Stigma. Eine Schule, die neue Lernformate entwickelt, die auf Beziehung, Kreativität und Sinn baut. Eine Schule, in die Kinder gerne gehen. So einfach wäre das eigentlich.“

Sie arbeiten mit Schulen in ganz Deutschland, aber auch international. Was haben Sie aus anderen Bildungssystemen mitgenommen, das uns hier in Deutschland inspirieren könnte?

„Das Wichtigste, was ich gelernt habe, ist: Schulen müssen aufbauen, nicht unterrichten. Es geht nicht um Stoffvermittlung, sondern um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Und ein selektives Schulsystem arbeitet genau diesem Zusammenhalt entgegen.

Was ich in anderen Ländern erlebt habe, zeigt, wie es anders gehen kann. Neun oder zehn Jahre gemeinsames Lernen – das ist der Schlüssel. Auf den Anfang kommt es an. Die besten Lehrer*innen gehören in die Grundschule. Lehrer*in zu sein bedeutet dort viel mehr, als nur ein Fach zu unterrichten. Man bringt sich mit Leidenschaft ein, mit seinen Interessen und Talenten, arbeitet in multiprofessionellen Teams und begleitet Kinder wirklich auf ihrem Weg.

Wenn man sich die internationalen Spitzenreiter anschaut, sieht man ein klares Muster. Estland etwa, der europäische Pisa-Sieger, hat Gemeinschaftsschulen bis zur zehnten Klasse. Kanada gilt weltweit als Vorzeigeland: inklusive Gemeinschaftsschule, individuelle Förderung, Fokus auf jedes einzelne Kind. Dort geht es nicht darum, für ein paar wenige das Beste zu erreichen, sondern für jedes Kind. Und das zeigt sich auch in der Umgebung. Die Schulen sind nicht verrottet, die Klassenzimmer sind freundlich, offen, lebendig – und das, ohne teurer zu sein. In solchen Ländern wird Bildung als Gemeinschaftsaufgabe verstanden.“

Ganz anders als bei uns ...

„Genau, in Deutschland spielen Kinder und Jugendliche kaum eine Rolle. Sie haben keine Lobby. Dabei werden es immer weniger Kinder, während die Zahl der Älteren steigt. Der Soziologe Elmar Al-Mafalani hat dazu ein wichtiges Buch geschrieben: „Kinder – Minderheit ohne Schutz.“ Er sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ Genau darum geht es. Wir müssen Bildung als gemeinschaftliche Aufgabe begreifen. Auch Menschen im Ruhestand, Handwerker*innen, Künstler*innen, Nachbar*innen – alle können sich einbringen.

Die Schule wird zum offenen Haus, ein Ort für alle. Kinder finden dort Menschen, an denen sie sich orientieren können, die Zeit haben und Herz. Diese Form von Bildung ist der Beginn eines echten gesellschaftlichen Wandels – eines, der auch Erwachsene mitnimmt.“

Was würden Sie Eltern, Lehrkräften und politischen Entscheidungsträger*innen mit auf den Weg geben, damit dieser Wandel gelingt?

„Wir brauchen Mut. Einen echten Paradigmenwechsel. Kein bisschen Herumdoktern am Alten, sondern ein neues Verständnis davon, wo die Welt steht. Wir stecken mitten in multiplen Krisen – ökologisch, sozial, auch seelisch. Burnout, Depression, Einsamkeit sind Volkskrankheiten geworden. Die Systeme sind krank, weil sie entfremden. Die Antwort darauf ist Empathie und Verbundenheit.

Darum müssen wir Menschen – Kinder wie Erwachsene – wieder heranführen an gemeinsames, sinnhaftes Lernen. Und das gelingt nur, wenn wir uns selbst öffnen. Diese Transformation geht nicht über den Kopf, sondern über das Herz. Ich habe 70 Briefe von Schüler*innen gesammelt, die einen tief berühren. In ihnen spürt man die Trauer, die Einsamkeit, aber auch die Sehnsucht nach Verbindung.

Wir müssen durch diesen Schmerz hindurch, um etwas Neues zu schaffen. Kinder können uns dabei helfen, besonders die Jüngeren. Wenn sie uns anschauen, Fragen stellen, uns begeistern, dann öffnen sie Herzen. Deshalb müssen Kinder mit an die Tische, an denen über ihre Zukunft entschieden wird.

„Es darf nicht sein, dass Menschen ohne pädagogisches Wissen darüber entscheiden, ob unsere Kinder unter Angst und Druck lernen müssen.“

Kinder müssen mit Minister*innen sprechen. Wir dürfen Bildung nicht länger der Parteipolitik überlassen. Wir brauchen Pädagog*innen, Wissenschaftler*innen und Menschen, die anpacken, um gemeinsam ein neues System aufzubauen – jenseits parteilicher Interessen.

Ein aktuelles Beispiel aus Bayern zeigt, wie weit wir davon entfernt sind. Eine Schülerin, Amelie, hat sich gegen die sogenannten „Exen“ gewehrt – unangekündigte Abfragen, die enormen Stress auslösen. Sie sammelte 50.000 Unterschriften, unterstützt von Professor*innen und Organisationen. Doch Markus Söder sagte öffentlich: „Keinen Millimeter weiche ich davon ab.“ Kurz darauf hat ein anderer Kultusminister in Rheinland-Pfalz unangekündigte Tests verboten. Das zeigt: Veränderung ist möglich – wenn man zuhört.

Aber es darf nicht sein, dass Menschen ohne pädagogisches Wissen darüber entscheiden, ob unsere Kinder unter Angst und Druck lernen müssen. Bildungs-Politik darf nicht Parteipolitik sein. Es geht um unsere Kinder – und um die Zukunft, die wir ihnen zumuten.“

Bildung ist auch ein Ort, an dem gesellschaftliche Machtverhältnisse hinterfragt und verändert werden können. Welche Rolle spielt feministische Bildung in Ihrer Vision – und wie können Schulen gezielt Geschlechtergerechtigkeit fördern und traditionelle Rollenmuster aufbrechen?

„Feministische Bildung bedeutet für mich, Schule grundsätzlich anders zu denken. Weg vom Pflicht- und Gleichschrittsystem, weg von Top-down-Strukturen. Stattdessen braucht es ein partizipatives Miteinander, das auf Vertrauen baut – Bottom-up, nicht oben nach unten. Wir müssen lernen, Linearität loszulassen und Zirkularität zuzulassen: Räume für Möglichkeiten statt starrer Vorgaben, Kreativität statt Bürokratie, Offenheit statt Kontrolle. Dann entstehen Werte, die ich als eher weiblich beschreiben würde: Caring, Beziehung, Kooperation.

Unser Bildungssystem hat zwei mächtige Eltern: die Kirche und das Militär. Von der Kirche stammt die Belehrungskultur – in meiner Grundschule stand die Lehrerin noch auf einem Podest – und vom Militär die Gleichschrittkultur. Kirche und Kaiser, Frontalbeschallung und Gehorsam. Genau das müssen wir überwinden. Wir brauchen ein System, das auf Beziehung, Fürsorge und Verantwortung aufbaut.“

Wenn Sie von einem Bildungssystem sprechen, das stärker auf Beziehung, Vertrauen und Caring setzt – wie kann das in der Praxis aussehen?

„An meiner ehemaligen Schule, der Evangelischen Schule Berlin Zentrum, gab es ein Beispiel, das mir sehr im Gedächtnis geblieben ist. Nachts schlossen sich einige Oberstufenschülerinnen im Schulgebäude ein. Sie hatten alles vorbereitet, der Hausmeister wusste Bescheid. In den Toiletten und auf den Wänden malten sie Frauenporträts – starke Vorbilder, die im Unterricht nie vorkamen. Dazu schrieben sie Sätze wie: „Warum lernen wir nichts über diese Frauen?“ oder „Warum sind sie in unseren Büchern unsichtbar?“

Das war gelebter Feminismus: kreativ, mutig und selbstbestimmt. Die Schülerinnen thematisierten auch den Blick von Jungen auf Mädchen, sprachen über Sprache, Rollenbilder, Sichtbarkeit. Solche Aktionen zeigen, wie wichtig es ist, Räume zu schaffen, in denen Jugendliche Ungleichheiten selbst hinterfragen können.

„Feministische Bildung bedeutet für mich auch, emotionale und spirituelle Kompetenzen ernst zu nehmen. Neben rationalem Wissen brauchen wir die Fähigkeit zu fühlen, Gefühle auszudrücken, Beziehungen zu gestalten und Dankbarkeit zu empfinden.“

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Vorbildkultur. Junge Menschen brauchen inspirierende Persönlichkeiten, an denen sie sich orientieren können. Wir laden regelmäßig „Menschen mit Botschaften“ in unsere Schulversammlung ein – Menschen, die etwas bewegen, die Haltung zeigen, die ihre Stimme erheben. Wenn starke Frauen auf dieser Bühne stehen, verändert das etwas. Es macht Mut.

Feministische Bildung bedeutet für mich auch, emotionale und spirituelle Kompetenzen ernst zu nehmen. Neben rationalem Wissen brauchen wir die Fähigkeit zu fühlen, Gefühle auszudrücken, Beziehungen zu gestalten und Dankbarkeit zu empfinden. Das kann man lernen – in Kreisgesprächen, im Klassenrat, durch Projekte, die Verantwortung und Mitgefühl fördern.

Ein Beispiel dafür ist das Fach Herausforderung. In Klasse 8, 9 oder 10 bekommen die Schüler*innen drei Wochen Zeit, um sich selbst eine Herausforderung zu suchen. Sie planen meist in Gruppen – wandern, reisen mit dem Rad oder zu Fuß durch die Natur – und haben dafür nur 150 Euro. Sie erleben, wie viel sie schaffen können, wie stark sie sind. Das stärkt Selbstvertrauen und Resilienz.

In der 11. Klasse folgt dann ein noch größerer Schritt: Alle gehen für drei Monate in eine andere Kultur. Manche bleiben in Europa, andere reisen nach Afrika oder Asien, arbeiten dort in Projekten mit und leben in neuen Kontexten. Danach verbringen sie eine Woche in einem Kloster, um ihre Erfahrungen zu reflektieren. Diese Zeit verändert sie. Sie lernen interkulturelles Verständnis, Mitgefühl, Demut – Dinge, die man nicht aus Büchern lernen kann.

Und genau darum geht es: Schule muss Räume schaffen, in denen junge Menschen Erfahrungen teilen, sich austauschen und Vertrauen aufbauen können. Wir nennen das im Reallabor „Resilienzräume“. Wenn Jugendliche dort erzählen, was sie im Netz erleben, was sie bewegt, was ihnen Angst macht, ist das zutiefst berührend.

Am Ende geht es immer um dasselbe: Empathie kann man lernen – aber nur, wenn man sie erlebt.“

Infokasten „FREI DAY“

Ein Zukunftstag pro Woche für Zukunftsfragen. Für das Erwerben von Wissen, Handeln und Netzwerken. Global denken – lokal handeln. Was macht den Frei Day so charmant?  Er ist leicht umsetzbar für alle Schulen. Mit vier Stunden pro Woche ist er vorstellbar, fassbar und so in der Breite umsetzbar. Ein Transformationstool. Es können sich Leidenschaftsgruppen bilden, zeitlich nicht eingeengt vom Ende einer Lerneinheit. Der FREI DAY befreit, fordert heraus, macht mutig. Jede und jeder kann sich einbringen. 

Die Idee stieß gleich zum Start auf eine große Resonanz. Auf dem Entrepreneurship Summit im Oktober 2019 traf Margret auf Tobias Feitkenhauer, den heutigen Projektleiter. Er war mindestens genauso begeistert von dem Konzept und arbeitet seither an der Umsetzung und Weiterentwicklung: Es kam die Website, Pilotschulen, die Reihe FREI DAY Digital als Angebot in der Corona-Phase und erste Gespräche mit Ministerien. Die Vision „Schulen werden zu Werk-Stätten, Wirk-Stätten und Tat-Orten für weltverantwortliches Handeln“ stiftet an und reißt seither mit.

Beim FREI DAY können sich alle Schulen anschließen. Jetzt. Er ist wie eine Brücke, ein erster bedeutsamer Erfahrungs-Schritt in die Zukunft des Lernens. Und er hat das Potenzial für eine breite gesellschaftliche Bewegung. Der FREI DAY für ALLE!

Margret Rasfeld ist Speakerin beim FFF DAY 2025 

Am 11. Oktober 2025 findet im bcc Berlin der FFF DAY statt. Gemeinsam mit Emmanuel Krüss, Jotam Felmy und Hanna Hecht spricht Margret Rasfeld auf der Konferenz auf dem Panel „Unsere komplexe Welt braucht mutige, informierte, empathische Kinder: Wer übernimmt die Verantwortung ihrer Bildung?“. 

Gerade Kinder und Jugendliche, die eigentlich unsere Zukunft sind, haben keine Lobby und sind die Symptomträger einer Gesellschaft, die auf kurzfristige Erfolge setzt und nicht langfristig in eine lebenswerte Zukunft investiert. Dabei wäre es gerade angesichts vielfacher Krisen, gefährlicher Social-Media-Dynamiken, den Pandemiejahren, Fachkräfte- und Finanzmangel im Bildungsbereich und steigender Zahlen psychischer Probleme bei jungen Menschen entscheidend, zu beleuchten, was Kinder und Jugendliche brauchen, um in Zukunft sich, ihrem Umfeld und der Umwelt Sorge zu tragen. Nicht umsonst führen immer mehr Länder das Schulfach Empathie ein. Ebenso dringend ist eine verbindliche Verankerung von Medienbildung in allen Schulformen. Nur so können junge Menschen lernen, mit digitalen Informationen souverän, kritisch und verantwortungsbewusst umzugehen – eine Grundvoraussetzung in einer zunehmend digitalisierten Welt. Hier ist die Politik gefordert, Medienkompetenz als zentrale Zukunftskompetenz endlich strukturell zu fördern und nicht dem Zufall zu überlassen.

Du möchtest bei dem Panel dabei sein? HIER findest du Infos zur Konferenz, zum Programm, zu den diesjährigen Speaker*innen und deinem persönlichen Ticket.

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