Ole Liebl beobachtet gesellschaftspolitische Entwicklungen aus feministischer Perspektive. In seinen Analysen verbindet er theoretisches Wissen mit praktischer Beobachtung. Mit ihm haben wir darüber gesprochen, warum die AfD online gerade bei jungen Zielgruppen so erfolgreich ist, warum Antifeminismus wieder an Boden gewinnt und wie wir gemeinsam antifeministischen Tendenzen entgegentreten können.
Antifeminismus ist längst kein Randphänomen mehr. Und doch fehlt oft ein klares, intersektionales Verständnis dafür, wie er wirkt, welche Gruppen er anspricht und an welchen gesellschaftlichen Bruchstellen er ansetzt. Denn der aktuelle Zuspruch kommt nicht nur aus offen rechten Milieus, sondern hängt auch mit Männlichkeitsbildern in einer zunehmend individualisierten, kapitalistisch geprägten Gesellschaft zusammen, in der antifeministische Angebote vermeintlich einfache Orientierung bieten.
Über diese Entwicklung und darüber, was sie über unsere politische Gegenwart verrät und was wir ihr entgegensetzen können, haben wir mit Ole Liebl gesprochen. Als queerer Feminist, Autor und Content-Creator analysiert er gesellschaftspolitische Entwicklungen und bringt komplexe Zusammenhänge in verständliche Worte, ohne an Schärfe zu verlieren.
Seine Arbeit zeigt eindrücklich, wie eng politische Stimmungen mit digitalen Räumen verwoben sind und warum feministische Bewegungen heute nicht nur gegen offen misogyne Strukturen, sondern gegen ein vielschichtiges Geflecht rechter, queerfeindlicher und rassistischer Dynamiken bestehen müssen. Ein Interview über den langen Atem rechter Bewegungen und die Grenzen und Möglichkeiten von Internetaktivismus.
„Mein Interesse an Feminismus und Queerfeminismus kam, und das teile ich wahrscheinlich mit vielen Frauen und Queers, durch persönliche Erfahrungen. Wenn man in der Pubertät und vielleicht sogar schon davor bemerkt, dass das eigene Begehren oder die eigene Geschlechtsidentität von denen der anderen abweicht, dann setzt man sich zwangsläufig mit Themen auseinander, die im Kern feministisch sind. Meine Jugend fand in den 2000ern statt, nicht in den 1950ern. Es ist natürlich viel passiert und das ist auch gut so. Es gibt zwar noch Homophobie und Queerfeindlichkeit, aber wesentlich weniger, auch in ländlichen Gegenden in Rheinland-Pfalz, wo ich aufgewachsen bin.
Zur Content Creation kam ich indirekt. Ich wollte eigentlich mein Sachbuch über Freundschaft Plus verlegen, wurde aber von einigen Verlagen abgelehnt. Zu sehr Nischenthema, I guess. Zwei Freundinnen rieten mir, TikToks zu machen, weil ich ohnehin viel recherchiert hatte. Also habe ich angefangen, meine Recherchen in Kurzvideos umzusetzen – das kam gut an und verselbstständigte sich.“
„Ich würde mich nicht unbedingt als Aktivist bezeichnen, weil ich nicht nur aktivistischen Content mache, sondern auch theoretische Einordnungen und kritische Begleitung von akademischen Diskursen. Das fällt für mich eher in den Bereich Wissenschaftskommunikation. Zudem hat Aktivismusfür mich auch weniger mit Bildung und Aufklärung zu tun, sondern vielmehr mit politischer Organisation. Kurzvideos können vielleicht dazu motivieren, sich zu engagieren, aber sie können diese Form der Organisation nicht ersetzen.
Zurzeit widme ich mich verstärkt Sexualtheorien, die von verschiedenen trans Autor*innen wie McKenzie Wark, Andrea Long Chu, Hugo Tepest, Robert Bauer, Jonas Hamm, Talia Mae Bettcher oder Julia Serano fragmentarisch entwickelt werden. Ansonsten bin ich kein Freund von Ikonen, vor allem nicht im Feminismus. Heiligenverehrung hat sich mir bisher nur ästhetisch erschlossen, intellektuell gesehen läuft man immer irgendwann Gefahr, verbohrt zu werden. Für mich zeichnet sich feministische Politik gerade durch ihre (im besten Falle) stets inklusive Bewegung aus.“
„Das ist eine große Frage. Feministische Bewegungen haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Erfolge erzielt. Diese gilt es zu würdigen, aber es gibt noch immer viele Baustellen – etwa beim Thema Abtreibung, wo Deutschland immer noch eines der restriktiveren Gesetze in Europa hat. Auch die medizinische Versorgung von trans Menschen bleibt unterirdisch. Und in den USA sieht man, wie schnell bereits errungene Rechte wieder zurückgenommen werden können. Feministische Errungenschaften sind keine Selbstverständlichkeit, sondern müssen immer wieder neu erkämpft werden.
Ich finde es deshalb ermutigend, dass Frauen und Queers trotz aller Widerstände laut bleiben. Angesichts gut organisierter und ebenso gut finanzierter antifeministischer Gegenbewegungen ist ein kämpferischer Feminismus wichtiger denn je. Für mich gehört zu jeder politischen Bewegung aber auch, dass man streitbar bleibt. Die verschiedenen Strömungen im Feminismus sehe ich als Perspektiverweiterung – auch wenn es dabei zu Konflikten kommt, ist das wichtig für die Weiterentwicklung. Man muss immer wieder abwägen, wie viel Unterschiedlichkeit man zulassen kann und ab wann Gräben unüberbrückbar werden. Eine pauschale Antwort darauf gibt es nicht.“
„Sexismus bezeichnet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung – das ist feministisch gesehen eine spezifische Form von patriarchaler Machtausübung gegenüber Frauen und Queers. Antifeminismus hingegen ist weiter gefasst: Er richtet sich grundsätzlich gegen feministische Theorien, Praktiken und politische Bemühungen, die Rechte für diskriminierte Minderheiten einfordern. Während Sexismus sich oft im Verhalten äußert, ist Antifeminismus eher eine umfassendere Weltanschauung, die bestehende Machtverhältnisse verteidigt und feministische Bestrebungen ablehnt.“
„Wer sich explizit als antifeministisch positioniert oder seine Veröffentlichungen der Widerlegung des Feminismus widmet, zeigt eine starke Ablehnung gegenüber einer Theorie, die sich im Kern für den Schutz von Minderheiten einsetzt. Dahinter steht meist ein genereller Unwille, sich mit Machtkritik auseinanderzusetzen – was bleibt, ist eine reine Dominanzgeste. Insofern ist Antifeminismus für mich mit Sexismus und häufig auch mit Rassismus verbunden, da es letztlich darum geht, die Interessen der Mehrheitsgesellschaft gegen Minderheiten durchzusetzen.“
„Der wachsende Zuspruch für rechte Parteien und antifeministische Einstellungen in der jungen Generation wird stark von jungen Männern getragen. Bei der letzten Bundestagswahl zeigte sich erstmals, dass alle Parteien links der Mitte mehrheitlich von Frauen gewählt wurden – besonders die Linkspartei –, während Parteien rechts der Mitte, insbesondere die AfD, mehrheitlich von Männern gewählt wurden. Diese Entwicklung ist relativ neu und wurde auch durch eine Untersuchung der Financial Times Anfang 2024 bestätigt, die diesen Trend für die Gen Z international nachzeichnet: Junge Männer wählen zunehmend rechts, junge Frauen eher links.
Die Gründe dafür liegen unter anderem in einem großen politischen und medialen Vorfeld, das gezielt junge Männer anspricht – insbesondere mit emotionalisierten Themen wie Glorifizierung von Reichtum, Männlichkeit und Nationalismus, was dann mit einer Ablehnung von Sozialhilfeprogrammen, Feminismus und Migration einhergeht. Hinzu kommt die massive finanzielle Unterstützung durch Milliardäre wie Peter Thiel oder Elon Musk, die entsprechende Bewegungen fördern. Plattformen wie die Joe Rogan Experience, der weltweit größte und von Spotify für viele Millionen US-Dollar gekaufte Podcast, verstärken diese Entwicklung: 89 Prozent der Gäste sind Männer, einige vertreten offen rechtsradikale Positionen. Die männlich geprägte Podcast- und YouTube-Szene trägt maßgeblich zur Radikalisierung junger Männer bei. Parteien wie die AfD produzieren gezielt Inhalte für diese Zielgruppe, etwa mit Videos, die Männlichkeit mit rechtem Gedankengut verknüpfen. Und von linker Seite aus wurde es nicht geschafft, eine entsprechend starke Gegenöffentlichkeit aufzubauen.”
„Viele junge Männer fühlen weiterhin einen gesellschaftlichen Druck, ein Fels in der Brandung zu sein, Karriere zu machen und Familienernährer zu sein, obwohl gleichzeitig eine feministische Kritik an eben dieser Fixierung auf eine geschlechtliche Rollenverteilung einfach nicht abreißt. Es herrscht außerdem große wirtschaftliche Unsicherheit und ein geringes Vertrauen in demokratische Institutionen – beides wird von rechten Parteien populistisch gnadenlos ausgebeutet. Die Unsicherheit junger Männer in dieser prekären Situation ist es, die für antifeministische Botschaften empfänglich macht. Frauen, die auf dem Arbeitsmarkt als Konkurrentinnen auftreten, werden dann als Bedrohung wahrgenommen. Und die Förderung von Frauen oder feministischen Initiativen werden von Männern als ungerecht eingeschätzt. Der Staat wird als Akteur erlebt, der einseitig zugunsten anderer eingreift. Diese Stimmungen werden gezielt genutzt, um antifeministische Einstellungen zu verstärken.“
„Ja, aber nicht so, wie ich es gerade beschrieben habe. Um Frauen dauerhaft weniger Lohn zu bezahlen und ihre kostenlose Hausarbeit als selbstverständlich anzusehen, was sich beides kapitalistisch lohnt, braucht es eine patriarchale Ideologie. Sie hält Frauen klein und redet Männern ein, dass sie nur dann glücklich werden, wenn sie Vollzeit arbeiten und mit ihrer Arbeit maximalen Erfolg erzielen. Der moderne Kapitalismus scheint ein Optimum in einem leicht abgemilderten Sexismus gefunden zu haben: Die Frauen, neben ihrer unbezahlten Care-Arbeit, sollen immerhin Teilzeit arbeiten, und müssen dafür entsprechend ausgebildet werden, während die Männer weiterhin in Vollzeit tätig sind. Deshalb sehe ich in der gegenwärtigen Welt wenig Sinn darin, Kapitalismus und Patriarchat voneinander zu trennen.“
„Wenn man eines sagen kann, dann, dass rechte Bewegungen einen langen Atem haben. Das sieht man bei Evangelikalen, fundamentalistischen Katholiken, Erzkonservativen und anderen rechten Denkern: Sie denken nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten. Sie überlegen, was sie in ein paar Generationen weitergeben wollen, planen langfristig und setzen ihre Strategien konsequent um. Von dieser Organisationsfähigkeit könnten sich progressive Kräfte durchaus etwas abschauen.
Ich bin zwar optimistisch, wenn ich sehe, wie viel Power in Frauen und Queers steckt. Aber die Zeiten großer Massenbewegungen in Deutschland sind wohl vorbei. Wenn man nach Südamerika blickt, sieht man Hunderttausende Frauen, die gegen Femizide demonstrieren – das ist zwar ein anderes Phänomen, weil dort organisierte Kriminalität eine große Rolle spielt, aber der Vergleich zeigt, wie zurückhaltend die Bevölkerung hierzulande ist.
Lenin soll einmal gesagt haben: ,Mit den Deutschen ist keine Revolution zu machen – wenn sie den Bahnsteig stürmen wollen, ziehen sie erst ein Ticket.’ Das trifft es ganz gut. Es gibt noch viel zu tun, was feministische Mobilisierung betrifft – und zwar nicht nur im Internet. Ich selbst mache viel Aufklärungsarbeit online, aber letztlich sind das nur Infoposts auf Instagram, die man schnell liked und dann wieder vergisst. Um echter Gegenmacht zu begegnen, braucht es mehr.“
„Organisation. Menschen müssen Gruppen gründen, sich Parteien, Vereinen oder Lesekreisen anschließen; einfach zusammenkommen und aktiv werden. Politik entsteht immer noch auf der Straße. Das ist mühsam, dauert lange und ist anstrengend, aber wer nur im Internet aufklärt oder Bücher schreibt, so wie ich, bildet eben nur einen kleinen Teil der Bewegung.“
„Ich will das nicht kleinreden. Internetaktivismus ist wichtig und ich mache ihn ja selbst gerne. Online werden viele Debatten angestoßen und Menschen kommen mit Themen in Kontakt, die sie sonst nicht erreichen würden. Deshalb setze ich mich ja auch in Formate wie das von Jasmin Kosubek, die ein eher rechts/konservatives/libertäres Publikum anspricht. Aber egal, wo man auftritt: Am Ende reicht Internetaktivismus allein nicht aus.“
„Man muss unterscheiden zwischen der offiziellen Parteiarbeit und dem, was im Umfeld der Partei passiert. Die AfD hat gezielt Influencer geschult und Leitlinien für die Content-Produktion herausgegeben, damit Unterstützer wissen, wie sie Inhalte für die Partei erstellen können. Soweit ich weiß, gibt es sogar konkrete Anleitungen und möglicherweise Workshops, aber das müsste ich noch einmal genau nachschauen.
Was die AfD besonders erfolgreich macht, ist ihre durchdachte TikTok-Strategie, maßgeblich vorangetrieben von Erik Ahrens, der auch für viele Maximilian Krah-Videos verantwortlich war. Die Partei hat früh erkannt, dass sie in klassischen Medien wenig Präsenz bekommt – das hat sich inzwischen zwar geändert, aber damals war das ein entscheidender Punkt. Daraufhin hat die AfD fast alle klassischen Pressesprecher entlassen und stattdessen ein großes Social-Media-Team aufgebaut. Das Ergebnis sehen wir jetzt: enorme Reichweite und Sichtbarkeit auf Plattformen wie TikTok.“
„Andere Parteien haben Social Media lange stiefmütterlich behandelt. Die Grünen haben ihren TikTok-Kanal erst Anfang letzten Jahres gestartet, der Spiegel sogar erst im Sommer. Viele Medien und Parteien zögern noch immer und verweisen auf fehlende Ressourcen, dabei braucht es oft nur wenig technisches Equipment und etwas Mut, sich auf neue Formate einzulassen. Stattdessen herrscht Unsicherheit im Umgang mit dem Medium. Das ist nachvollziehbar, aber dann sollte man sich Expertise holen, statt das Feld kampflos der AfD zu überlassen.
Die AfD hat investiert, eine klare Strategie verfolgt und sie konsequent umgesetzt – das muss man anerkennen, so problematisch das Ergebnis auch ist. Solange es keine echte Gegenöffentlichkeit auf TikTok gibt, bleibt die Sichtbarkeit der AfD ungebrochen. Da habe ich wenig Verständnis für die Untätigkeit der anderen Parteien, auch wenn insbesondere die Linke massiv aufgeholt hat. Wer online nicht präsent ist, kann auch keine Reichweite aufbauen. Da hat die AfD alles richtig gemacht, so schlimm ich das auch finde.“
„Absolut. Da haben die Linken, wie gesagt, deutlich aufgeholt. Sie haben für die Bundestagswahl eine hervorragende Social-Media-Strategie entwickelt, wussten genau, welche Inhalte auf welchen Kanälen funktionieren, und haben eine komplette Kehrtwende hingelegt. Influencer, die für sie Content produziert haben, wurden umfassend gebrieft, Themen wurden koordiniert und vernetzt. Das ist genau das, was man sich von Parteien wünscht: eine strukturierte Gegenöffentlichkeit aufbauen – und dafür braucht es unabhängige Akteur*innen wie Influencer und Content-Creator.
Es geht dabei nicht nur darum, einfach irgendetwas im Internet zu posten. Online-Inhalte müssen gezielt und strategisch organisiert werden, um progressive Gegenöffentlichkeiten zum konservativen oder rechten Mainstream zu schaffen. Und ich sage bewusst ,rechter Mainstream’, denn faktisch wählt die Hälfte der Bevölkerung CDU oder AfD – das ist schon beängstigend.“
„Ich habe für eine Podcast-Folge 30 ,Anti-Woke-Bücher’ gelesen, die alle in den letzten vier Jahren im deutschsprachigen Raum erschienen sind. Da ist mir eine regelrechte diskursive Dampfwalze entgegengekommen. Besonders auffällig war, welche Themen am häufigsten aufgegriffen werden: Gegenderte Sprache und Transgeschlechtlichkeit sind die zentralen Sündenböcke – sie müssen als Projektionsfläche herhalten.
Warum eigenen sie sich so gut dazu? Geschlechtliche Sprache (,die Verkäuferin’, der Müllmann’) begegnet uns im Alltag ständig. Sie ist Teil unserer Routine und wir sind damit aufgewachsen, Sprache auf eine bestimmte Weise zu verwenden. Wenn das plötzlich infrage gestellt wird, greift das eine tief verankerte Gewohnheit an – etwas, das viele als ,so habe ich das immer gelernt’ empfinden. Für viele ist das eine Störung ihrer Alltagsroutine, die sie herausfordert, und mit der sie sich auseinandersetzen müssen.
Wird das Thema dann zusätzlich politisch aufgeladen – und das geschieht von beiden Seiten –, entsteht eine starke Polarisierung. Es geht längst nicht mehr nur um persönliche Präferenzen. Jede Entscheidung für oder gegen das Gendern wird sofort als Bekenntnis zu einem Lager wahrgenommen. Die Gesellschaft beobachtet, bewertet und ordnet zu. Damit wird aus einer Alltagshandlung ein politisches Statement, das die Lagerbildung weiter verstärkt.
Gendern ist zudem ein besonders sichtbares Thema, weil es keine tiefgreifenden Veränderungen im Alltag erfordert: Es reicht, bestimmte Wörter zu verwenden oder eben nicht. Das macht es leicht, sich zu positionieren – sowohl für Befürworter*innen als auch für Gegner*innen. Es ist ein,bolliges Signal’: Man muss sein Leben nicht ändern, sondern nur sagen, ob man dafür oder dagegen ist. Genau das macht es so einfach, diese Themen politisch aufzuladen und für Polarisierung zu nutzen.“
„Genau. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn man statt ,ich war beim Arzt’ sagt ,ich war bei einer Ärztin’ oder von,Lehrer*innen’ spricht. Das sind Alltagssituationen, die direkt am Küchentisch stattfinden – und genau dort entzündet sich schnell eine Debatte. All das macht das Thema so attraktiv für rechte Mobilisierung: Es stellt nicht nur politische Überzeugungen, sondern auch vermeintlich intuitive Wahrheiten und die gesellschaftliche Grundordnung infrage. Queerfeminismus und Transgeschlechtlichkeit zeigen, dass es Vielfalt und Differenz gibt – das steht im direkten Gegensatz zum rechten Wunsch nach Einheit und Homogenität und wird deshalb als Bedrohung empfunden.“
„Und wenn man das zusammenfasst, wird deutlich, dass Geschlecht und die Auseinandersetzungen um Geschlechterpolitik ein sehr starker Identitätsmarker sind. Identität entsteht genau an dieser Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Idealen, Werten, Normen und Hierarchien auf der einen Seite und dem individuellen Empfinden auf der anderen – wie jemand ist, fühlt, begehrt und sich verhalten möchte. All das bündelt sich im Thema Geschlecht. Deshalb lässt sich Geschlecht so stark identitär aufladen, und genau das machen rechte Bewegungen sehr gezielt und mit großem Erfolg.“
„Wenn ich etwas weiter ausholen darf: Wir leben inzwischen in einer Gesellschaft, die auf 30 oder 40 Jahre Neoliberalismus zurückblickt, in der die Vereinzelung der Menschen immer weiter vorangetrieben wurde – jüngst verstärkt noch durch Corona. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, in der sich viele Menschen einsam und unglücklich fühlen. Das ist ein Punkt, den man nicht unterschätzen darf. Wir müssen uns fragen, worum es im Leben eigentlich geht. Natürlich können Wohlstand und Familie Glück und Freude bringen, aber das ist nicht alles. Das eigentliche Ziel ist doch, ein glückliches und sinnerfülltes Leben zu führen. Das ist aber kaum möglich, wenn man ausgebrannt, vereinzelt und depressiv ist. Was uns wirklich Halt gibt, sind enge Beziehungen zu Menschen, denen wir vertrauen, die wir lieben, die uns unterstützen, wenn es uns schlecht geht, und mit denen wir Spaß haben können.
Das klingt banal, aber genau diese Form von Gemeinschaft wird heute massiv eingeschränkt durch die Anforderungen der modernen Arbeits- und Lebenswelt. Die Familie ist dabei oft nur noch das Schmiermittel im Getriebe: Man erfüllt seine Pflichten, kommt nach Hause, verbringt ein bisschen Zeit mit dem oder der Partner*in, legt die Füße hoch, schaut noch zwei Stunden TikTok und geht am nächsten Tag wieder arbeiten. Man hält sich gegenseitig ein bisschen emotional über Wasser, versucht, die Kinder irgendwie großzuziehen, damit sie vielleicht einen besseren Job bekommen – was aber längst nicht für alle funktioniert. Viele Menschen kämpfen permanent mit Schwierigkeiten.
Sich darauf zu besinnen, dass wir soziale Wesen sind, die Gemeinschaft brauchen, könnte das widerständige Potenzial freisetzen, das wir dringend brauchen. Wir haben ja schon festgestellt, dass der heteropatriarchale Kapitalismus viele Menschen unglücklich macht und damit auch den Boden für rechte Ideologien bereitet.“
„Das sind Fragen nach Normen und Werten und nach der konkreten Veränderung des eigenen Lebens im Sinne von Widerstand. Der Versuch, ein widerständiges Leben in Gemeinschaften zu führen und kapitalistische sowie patriarchale Erwartungen bewusst abzulehnen, setzt subversive Potenziale frei. Es ist eine Form des persönlichen Neinsagens, eine Unterwanderung der vorherrschenden Ordnung. Das ist wichtig und gut. Aber bis daraus eine Politik wird, die wirklich strukturelle, institutionelle oder rechtliche Veränderungen bewirkt und mehr Menschen ermutigt, diesen Weg mitzugehen, braucht es allerdings mehr als individuelle Subversion. Dafür braucht es, ich möchte es immer wieder wiederholen, Organisation und die Ansprache vieler Menschen.“
„Ganz spontan? Dass die AfD keine Stimmen mehr bekommt und Abtreibung endlich straffrei wird. Das wäre mein Wunsch.“