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Michel Abdollahi im Porträt | © Max Baier und Adrian Henning
© Max Baier und Adrian Henning
23.09.2025 • 12:45
Autorin Anne-Kathrin Heier | © Heike Bogenberger Anne-Kathrin Heier
8 Minuten
Demokratie leben

Michel Abdollahi: „Mut ist die bewusste Entscheidung, nicht zu schweigen, wenn Hass die Oberhand gewinnt“

Das neue Buch von Michel Abdollahi mit dem Titel „Es ist unser Land“ ist keine beschwichtigende Bestandsaufnahme, sondern ein Manifest für Haltung, Widerstand und Mut im Jahr 2025. Es zeigt, warum wir die Gefahren von rechts nicht länger verharmlosen dürfen, warum wir uns politisch engagieren müssen, wenn wir die Möglichkeit dazu haben – und weshalb Schweigen im Angesicht von Hass und Hetze keine Option mehr ist.

Unser Land befindet sich an einem Scheideweg: Zwischen demokratischer Vielfalt und der Gefahr eines unaufhaltsamen Rechtsdrucks, zwischen Dialog und Verhärtung, zwischen aktiver Verantwortung und passiver Zuschauerrolle. In seinem neuen Buch „Es ist unser Land“ ruft der Autor Michel Abdollahi zu einem radikalen Perspektivwechsel auf – weg vom bequemen Abwarten, hin zu einer aktiven Verteidigung und Gestaltung unserer Demokratie. Dabei schöpft er aus persönlichen Erfahrungen, politischen Beobachtungen und tiefen Begegnungen mit den Abgründen unserer Gesellschaft. 

Michel, dein neues Buch heißt: „Es ist unser Land“. Ich lese den Titel als nachdrücklichen Verweis auf unser aller Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit. 

„Dieser Titel ist kein Zufall, sondern eine direkte Aufforderung an uns alle, aus der Zuschauerrolle in die des Akteurs zu wechseln. Er bricht mit der passiven Haltung des ,Die Anderen sollen es richten' und fordert auf: Dieses Land gehört uns, und das bedeutet, dass wir alle die Verpflichtung haben, es zu gestalten und zu verteidigen. Die Lesart ist nicht nur richtig, sie ist die einzig notwendige.“

Du erinnerst dich ganz zu Beginn deines Buches an dieses Bild, das in deinem Kinderzimmer hing – „Schritt für Schritt kommt man sich näher.“ Kannst du das bitte hier noch mal beschreiben, wie du es im Buch beschrieben hast? Für was steht dieses Bild aktuell? 

„Das Bild im Kinderzimmer – zwei Hände, eine aus Fleisch und Blut, die andere ein Skelett, die sich zuprosten – war natürlich eine Anti-Sucht-Werbung (warum auch immer die mein Vater in das Zimmer seines neugeborenen Sohnes gehängt hatte, wir trinken beide bis heute recht gerne). Wer der Sucht verfällt, wird am Ende zum Skelett. Ich habe dieses Bild bewusst gewählt, denn es ist eine erschreckend präzise Metapher für unsere aktuelle Situation. Heute steht dieses Bild für die schleichende Aushöhlung unserer Demokratie.

Die Hand aus Fleisch und Blut ist die Demokratie, lebendig, vielfältig, mit all ihren Fehlern und Schwächen. Das Skelett ist der Rechtsruck, repräsentiert durch Parteien wie die AfD. Es ist das kalte, unbarmherzige Gerippe einer Gesellschaft, die ihre Empathie, ihre Menschlichkeit, ihre Fähigkeit zur Kompromissfindung verloren hat. Das Bild zeigt, dass man sich dieser Ideologie nicht zuprosten darf. Wer sich auf sie einlässt, wird am Ende das Lebendige verlieren. Es ist ein Akt der Selbstzerstörung. Und die aktuelle Bedeutung? Es ist eine dringende Warnung, dass wir uns entscheiden müssen, ob wir unsere Gesellschaft zur Hölle einer Knochenhand-Gesellschaft werden lassen oder uns für das Leben entscheiden.“

Ich recherchierte 2019 in Dresden, war bei den Pegida-Demonstrationen auf dem Marktplatz und versuchte, ins Gespräch zu kommen, es war nicht möglich. Und dann kamen diese Chöre: „Ersaufen, ersaufen“ – mit Blick auf die Geflüchteten im Mittelmeer. Du selbst hast auch immer wieder versucht, ins Gespräch zu kommen. Was hat das mit dir gemacht?

„Die Konfrontation mit Chören wie ,Ersaufen, ersaufen‘ ist eine Zäsur, die jeden, der das erlebt hat, innerlich zerreißt. Meine Gespräche mit den Menschen, die solche Parolen riefen, haben meine Haltung nicht verändert, aber sie haben sie geschärft. Ich habe gelernt, dass Hass nicht immer aus Überzeugung entsteht, sondern oft aus einer tiefen Enttäuschung, Angst und dem Gefühl des Vergessenseins. Diese Erkenntnis hat mich nicht weicher gemacht, sondern präziser in meinem Urteil. Sie hat mir gezeigt, dass wir nicht nur die Symptome bekämpfen dürfen, sondern die Ursachen verstehen müssen, ohne sie zu entschuldigen.“

Die Organisatorin des Festivals für Demokratie ,Jamel rockt den Förster' – Birgit Lohmeyer – sagte in einem Interview mit Edition F‘: ‚Was die rechtsextreme Szene ganz wunderbar kann, ist dieses Kümmerer-Image zu pflegen. Das heißt, sie greifen Nöte der Bevölkerung auf, gehen in diese Lücke rein und machen Angebote.‘ Wie können wir dem begegnen? 

„Die Strategie der rechtsextremen Szene, sich als ,Kümmerer' zu präsentieren, ist zynisch, aber wirksam. Sie besetzen eine Lücke, die von den etablierten demokratischen Kräften oft vernachlässigt wird. Um dem zu begegnen, müssen wir die Lufthoheit über die Sorgen der Menschen zurückerobern. Das bedeutet, wir müssen vor Ort sein, zuhören und konkrete, greifbare Lösungen anbieten. Es geht darum, nicht nur in Talkshows über Demokratie zu reden, sondern sie durch echtes Engagement und sichtbare Kümmernis zu leben.“

Viele Menschen, die sich für die Demokratie einsetzen, reagieren oft fast allergisch auf den Begriff ‚Rechtsruck‘ und sprechen stattdessen von einem schon lange spürbaren Rechtsdruck. 

„Die Diskussion um ,Rechtsruck' versus ,Rechtsdruck' ist entscheidend. Die Verwendung des Begriffs ,Rechtsruck' suggeriert einen plötzlichen, korrigierbaren Ausschlag. Das Wort ,Rechtsdruck' hingegen beschreibt präzise einen kontinuierlichen, schleichenden Prozess, der unsere Gesellschaft unaufhaltsam in eine bestimmte Richtung drängt. Wir verharmlosen diese Entwicklung kollektiv in unseren ,Bubbles', weil wir die Realität außerhalb unserer Komfortzonen oft ignorieren.“

Du hast dich schon vor zehn Jahren auf die Straße gestellt mit einem Schild „Ich bin Muslim. Was wollen Sie wissen?“ – Welche Form des Austauschs ist jetzt notwendig – und überhaupt möglich? 

„Das Schild ,Ich bin Muslim. Was wollen Sie wissen?' war ein Versuch, die erste Barriere zu überwinden: das Schweigen. Und natürlich Satire. Alles, was du über den Islam wissen willst, kannst du nachlesen oder jemanden fragen, Muslime gibt es hierzulande viele. Wir brauchen nicht nur tiefere Gespräche, wir müssen überhaupt erst wieder den Blickkontakt herstellen. Denn wer sich nicht mehr in die Augen schaut, wird auch nicht miteinander reden. Die politische Bildung spielt hier eine fundamentale Rolle. Sie ist der Grundstein für eine mündige, widerstandsfähige Demokratie – sie ist der Muskel der Demokratie.“

Kommen wir hier unserer Verantwortung nach?

„Nein, das tun wir nicht in ausreichendem Maße. Bildung wird zu oft als reiner Wissenserwerb verstanden, nicht als Werkzeug zur Reflexion und zur Entwicklung einer demokratischen Haltung. Wir unterfinanzieren und unterschätzen ihre Bedeutung, und das ist ein fataler Fehler, der uns alle früher oder später einholen wird.“

Dabei gäbe es viele Möglichkeiten – in Talkshows, bei Social Media, in Podcasts, den Tageszeitungen... 

„Was in Talkshows, bei Social Media und selbst in manchen Tageszeitungen geschieht, ist eine kollektive Unterforderung der Gesellschaft zugunsten schneller Klicks. Komplexe Themen werden auf simple Meinungen reduziert, was zu einer gefährlichen Verarmung der öffentlichen Debatte führt. Die Auswirkungen sind fatal: Es entsteht eine Meinungsbildung, die auf Emotionen statt auf Fakten basiert. Um da rauszukommen, müssen wir als Medienschaffende und Konsument*innen die Komplexität wieder zulassen. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen differenzierte Diskussionen möglich sind.“

Gibt es in unserer Gesellschaft nicht eigentlich mehr, was uns verbindet, als das, was uns trennt und spaltet?

„Ich muss hier leider etwas in die Parade fahren, weil genau das meiner Meinung nach eines der großen Probleme ist. Und ich sage: Wenn es um den Hass in unserer Gesellschaft geht, dann ist das Gerede von ,Liebe' und dem ,Mythos der Spaltung' so hilfreich wie ein Poesiealbum im Krieg. 

Diese Sätze mögen gut gemeint sein, aber sie sind politisch völlig wirkungslos. Sie sind eine verbale Kuscheldecke für Leute, die sich vor der harten Realität verstecken wollen. Mit so einem Weichspüler-Vokabular bekämpfen wir nicht die AfD und den Rechtsruck. Wir bekämpfen damit gar nichts. Wir beruhigen nur unser eigenes Gewissen. 
Der Mythos der gespaltenen Gesellschaft ist kein Mythos. Er ist eine spürbare, blutige Wunde. Er zeigt sich in den Taten, in den Worten, im Verlust der Empathie. Wer das als Mythos abtut, ignoriert, was Millionen von Menschen täglich erleben. Es ist eine intellektuelle Verweigerungshaltung, die nur in den Talkshows und den Filterblasen derer funktioniert, die den Hass nie am eigenen Leib erfahren haben. 

In der Politik geht es um Macht. Es geht um die Deutungshoheit, um Verteilungskämpfe, um handfeste Ideologien, die Menschenleben kosten. Hass ist eine politische Währung, und wer ihm nur ,Liebe' entgegensetzt, hat den Kampf schon verloren, bevor er überhaupt angefangen hat. Wir brauchen nicht mehr Liebe, wir brauchen mehr Widerstand. Wir brauchen keine Kuschelecken, sondern eine klare Haltung. Wir müssen kämpfen, und zwar mit den Waffen der Vernunft und der Entschlossenheit.“

Das Motto des diesjährigen FFF DAY, den du moderieren wirst, ist „Be bold“. Was muss Mut heute und hier im Jahr 2025 bedeuten?

Be bold bedeutet heute nicht mehr nur, mutig zu sein. Mut im Jahr 2025 bedeutet, mutig gegen die eigene Bequemlichkeit anzukämpfen. Es bedeutet, eine Haltung zu vertreten, die unbequem ist, die Gegenwind erzeugt und die uns zwingt, unsere Komfortzone zu verlassen. Mut bedeutet, das Gespräch mit dem Andersdenkenden zu suchen, anstatt ihn zu ignorieren. Mut ist die bewusste Entscheidung, nicht zu schweigen, wenn Hass die Oberhand gewinnt.“

In welchem Land leben wir in fünf Jahren? Was ist deine Vision und was deine Prognose?

„Meine Prognose für unser Land in fünf Jahren ist ernüchternd: Wenn wir uns nicht radikal ändern, werden wir in einer noch zersplitterteren, emotionalisierteren und politisch instabileren Gesellschaft leben. Die Polarisierung wird sich verfestigen.

Meine Vision hingegen ist eine ganz andere: eine Gesellschaft, die sich auf ihre demokratischen Werte besinnt. Die erkennt, dass der Kampf um dieses Land ein gemeinsamer ist. Meine Wette ist, dass wir uns besinnen werden. Aber diese Wette gewinnen wir nur, wenn wir uns alle daran erinnern, dass es unser Land ist, um das es geht.“

Michel Abdollahi moderiert den FFF DAY 2025

Wir freuen uns sehr, dass der Journalist und Autor Michel Abdollahi den FFF DAY 2025 moderieren wird. Michel Abdollahi ist eine der prominentesten Medienstimmen in Deutschland. Seit 2014 ist er als Reporter und Moderator für den NDR tätig. Für seine Dokumentation „Im Nazidorf“ erhielt er 2016 den Deutschen Fernsehpreis. Zudem engagiert er sich in zahlreichen Kampagnen für Demokratie und Zivilcourage. Bei Hoffmann und Campe ist 2020 sein Bestseller „Deutschland schafft mich“ erschienen.

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Michel Abdollahi auf dem Cover seinem neuen Buches "Es ist unser Land" | © Hoffmann & Campe
© Hoffmann & Campe
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