Seit mehr als zwei Jahren wird der Sudan von einem brutalen Krieg beherrscht. Im Interview spricht die sudanesische Friedens- und Genderaktivistin Rabab Baldo über die Situation im Land, Ideen für nachhaltigen Frieden und den ungebrochenen Mut der Frauen im Land.
Die Vereinten Nationen (UN) bezeichnen die Situation im Sudan als weltweit größte humanitäre Katastrophe. Im April 2023 eskalierte in dem Land ein Machtkampf zwischen der Armee, den Sudanese Armed Forces (SAF), von De-facto-Machthaber Fattah al-Burhan und der paramilitärischen Miliz seines früheren Stellvertreters Mohamed Hamdan Daglo alias Hemedti, den Rapid Support Forces (RSF). Beide Parteien führen seither Krieg auf Kosten der Zivilist*innen.
12 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht. Fast die Hälfte der rund 50 Millionen Einwohner*innen ist von Hunger bedroht und 30 Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Nach aktuellen Schätzungen wurden bereits 150.000 Zivilist*innen ermordet und mehr als 500.000 Menschen starben an Hunger. Vor einer Woche nahm die RSF die Großstadt El Fascher in Darfur ein und begeht seither schwerste Menschenrechtsverbrechen. Satellitenbilder deuten auf anhaltende Massentötungen hin, die mehrheitlich ethnisch motiviert sind.
Wir konnten per Videocall mit der sudanesischen Friedens- und Genderaktivistin Rabab Baldo sprechen, die sich seit Jahrzehnten in Friedensprozessen engagiert. Die Mediatorin ist kurz nach Kriegsbeginn aus der sudanesischen Hauptstadt Khartoum geflüchtet. Seither hält sie sich in Ägypten auf und engagiert sich in sudanesischen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Netzwerken für Frieden und Frauenrechte. Baldos Haus in Khartoum, in dem sie ihren Lebensabend verbringen wollte, wurde von der RSF zerstört und sie weiß nicht, ob sie jemals zurückkehren kann, da sie eine lautstarke Kritikerin der am Kriegsparteien ist.
„Ja. Die Lage ist katastrophal und das Leid ist unermesslich. Menschen verhungern oder werden von den Kriegsparteien getötet. In vielen Gebieten ist es kaum mehr möglich, Tote zu begraben, sodass sie auf den Straßen liegen bleiben und teilweise von Hunden gefressen werden. Und das stellt eine Gefahr für Mensch und die Umwelt dar.
Millionen Menschen haben ihr Zuhause verloren und mussten fliehen, viele Familien wurden mehrfach vertrieben. Zugleich wird die Bewegungsfreiheit im Sudan durch Kontrollpunkte stark eingeschränkt, und beim Versuch in Sicherheit zu gelangen, werden Flüchtende durchsucht, ausgeraubt oder angegriffen.
Unterernährung ist weit verbreitet, das Gesundheitssystem kollabiert, Krankheiten wie Dengue-Fieber breiten sich aus und Schwangere sterben, weil sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Zudem haben Kinder und Jugendliche seit Jahren keine Bildung genossen – was dem Land seine Zukunft raubt.
Alarmierend ist auch die wachsende Zahl vermisster Personen, die Versklavung von Frauen und die Zunahme von Zwangsheirat und Kinderehen. In einigen Gebieten heiraten mehrere Soldaten ein und dasselbe Mädchen. Viele Familien verheiraten ihre Töchter nun in jungem Alter, in der Hoffnung, sie so vor Vergewaltigungen zu schützen. Doch solche Ehen bieten keine Sicherheit, sondern haben meist Gewalt und Missbrauch zur Folge.
Der Konflikt hat sich mittlerweile auf Regionen ausgeweitet, die einst als relativ sicher galten. Abgesehen von der Gewalt sind die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen so schlecht, dass kein Ort im Sudan wirklich sicher ist. Und die Umwelt- und Klimakrise verschärft die Tragödie. So haben die jüngsten Überschwemmungen unzählige Häuser und Lebensgrundlagen zerstört. Schon vor dem Krieg war das Leben im Sudan hart – jetzt ist es unerträglich.“
„Im Kern ist das ein Konflikt zweier korrupter männlicher Egos und ihrer bewaffneten Gruppen, die um Macht, Reichtum und Kontrolle kämpfen – und dies auf Kosten von Frauen, Kindern, Menschen mit Behinderungen und anderen verletzlichen Gruppen. Bevor Burhan und Hemedti ihre Waffen gegeneinander richteten, begingen die beiden Generäle als Verbündete Gräueltaten bei den Kriegen in Darfur und im Jemen sowie beim Massaker von Khartum.
Die beiden teilen dieselbe Denkweise und haben kein aufrichtiges Interesse daran, Frieden und Sicherheit wiederherzustellen oder das Leid des sudanesischen Volkes zu beenden. Beide kämpfen um nationale Anerkennung, versuchen, ihren Krieg zu rechtfertigen und mit falschen Narrativen die Öffentlichkeit für sich zu mobilisieren. Der eine General behauptet, die Souveränität des Landes zu verteidigen, während der andere darauf besteht, dass er für die Wiederherstellung der Demokratie und einer zivilen Regierung kämpft. In Wirklichkeit ist es seit Beginn ihres Konflikts die Zivilbevölkerung im Sudan, die die Hauptlast ihrer Machtgier und Gewalt tragen.“
„Geopolitische und geoökonomische Interessen verschärfen den Krieg im Sudan erheblich. Das Leid, mit dem wir konfrontiert sind, ist nicht nur das Ergebnis unserer rücksichtslosen Anführer. Mehrere globale Mächte sind in den Konflikt verwickelt, getrieben von ihrem Wunsch, die natürlichen Ressourcen des Sudan und seine strategische Lage am Roten Meer und am Golf von Aden auszunutzen.
Die beiden Generäle hätten diesen Konflikt ohne externe Unterstützung nicht aufrechterhalten und ausweiten können – insbesondere nicht ohne Länder, die die Konfliktparteien unterstützen (wir alle wissen, von wem hier die Rede ist). Die Kriegsparteien verkaufen die wertvollen Ressourcen des Sudan – darunter Gold, Gummiarabikum und Baumwolle – und verwenden die Gewinne, um den Krieg zu finanzieren und damit das Leid der sudanesischen Bevölkerung zu verlängern.“
„Menschen werden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit massakriert – nicht nur in El Fascher, sondern auch in Bara im Bundesstaat Nord-Kordofan und anderen Teilen des Sudan. Die RSF geht systematisch gegen nicht-arabische Bevölkerungsgruppen vor. Dasselbe Muster haben wir bereits im Darfur-Krieg 2004 gesehen. Es reicht nicht aus, dies als Menschenrechtsverletzung zu bezeichnen. Es ist ein Völkermord.
Hunger, Gewalt, Versklavung und Vertreibung werden von beiden Seiten im Krieg strategisch eingesetzt, um Gebiete zu besetzen. Insbesondere die Körper von Frauen werden als Waffen benutzt. Vergewaltigung wird als Kriegstaktik eingesetzt, um bestimmte ethnische Gruppen zu demütigen sowie um deren Bevölkerungsanzahl, deren Raum und Ressourcen zu reduzieren. Ich bin mir sicher, dass die Soldaten befehligt wurden, Frauen, Männer und Kinder so zu misshandeln, dass ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung beeinträchtigt wird. Geschlechtsspezifische Gewalt ist eines der Werkzeuge für Völkermord.“
„Wir konnten beobachten, wie die SAF und die RSF wiederholt die Kontrolle über verschiedene Gebiete gewonnen und wieder verloren haben. Im Austausch für Sudans fruchtbares Land und seine reichen Ressourcen erhält die RSF Unterstützung von ihren Partnern – und rekrutiert Söldner aus Kolumbien, Russland und verschiedenen afrikanischen Staaten. Im Sudan kämpfen Menschen, die keine Verbindung zum Land haben und kein Verständnis dafür, worum es in diesem Krieg geht. Diese Soldaten konnten aufgrund ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage angeworben werden und werden dafür bezahlt, uns zu töten. Diese massive Rekrutierung macht es für die SAF äußerst schwierig, die RSF zu bekämpfen.
Die Armee hat mitgeteilt, dass ihr Rückzug aus El Fascher Taktik sei, um weitere Verluste zu vermeiden. Doch diese Entscheidung wurde auf Kosten der Bevölkerung vor Ort getroffen. Ich bin weder Militärangehörige noch Strategin, aber mit Blick auf Menschenrechte und die UN-Resolution ,Frauen, Frieden und Sicherheit‘ ist es bestürzend, dass Zivilist*innen zurückgelassen wurden. Diese Entscheidung setzt vulnerable Gruppen und ganze Gemeinschaften den Gräueltaten schutzlos aus.“
„Das ist eine sehr schwierige Frage, aber die Gewalt muss enden – im ganzen Land. Wir erleben einen Stellvertreterkrieg, und inzwischen haben die beiden Generäle die Macht verloren, ihn zu beenden. Regionale Dynamiken und globale Interessen prägen das Geschehen im Sudan heute mehr als je zuvor.
Der einzige nachhaltige Weg, um das Töten zu beenden, besteht darin, Lieferketten zu unterbrechen, die den Krieg finanzieren. Solange diese netzwerkbasierten Ressourcenströme offen bleiben und ausländische Akteure den Konflikt weiter anheizen, wird es im Sudan keinen Frieden geben.
Es gab mehrere internationale Bemühungen um humanitäre Interventionen sowie Vermittlungsversuche, den Krieg zu beenden. Doch diesen Initiativen fehlte eine gemeinsame Vision. Auch die sudanesische Zivilbevölkerung ist so gespalten, dass es schwierig ist, die Menschen zusammenzubringen.
Ein effektiver Friedensprozess muss gut koordiniert, inklusiv und von sudanesischen Stimmen – insbesondere von Frauen – angeführt werden. Beim jüngsten Vermittlungsprozess unter der Führung von Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Staaten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, werden Fehler wiederholt, die schon bisherige Friedensbemühungen scheitern ließen: Die Zivilbevölkerung wird an den Rand gedrängt und Frauen von der Teilnahme ausgeschlossen.
„Lassen Sie mich zunächst meine Dankbarkeit für die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zum Ausdruck bringen. Zu Beginn des Krieges war die Aufmerksamkeit groß, und in gewisser Weise ist sie es noch. Die Bevölkerung erfährt Solidarität und Unterstützung von Bürger*innen aus vielen Ländern, von feministischen Netzwerken, internationalen Organisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen und unabhängigen Medienplattformen. Doch leider wurde dieses Mitgefühl nicht in sinnvolle politische Maßnahmen übersetzt.
Der Krieg im Sudan ist kein vergessener Krieg, sondern ein ignorierter Krieg. Seit Jahren rufen wir, die Frauen des Sudan, die Welt auf, zu handeln und Druck auf die Kriegsparteien auszuüben. Aber niemand scheint wirklich bereit zuzuhören, zumindest nicht auf offizieller Seite.
Wir haben auf jeder Plattform, zu der wir eingeladen wurden, gesprochen und Räume geschaffen, um Aufmerksamkeit auf unser Leid zu lenken. Wir haben Briefe und Erklärungen verfasst, an hochrangigen Treffen teilgenommen und um Schutz gebeten. Wir haben Länder besucht, die Einfluss auf die Konfliktparteien haben, und friedliche Demonstrationen organisiert. Doch das Schweigen dauert an.
Wir sind traumatisiert, erschöpft und verlieren die Hoffnung, insbesondere angesichts der Ausweitung des Krieges. Jeden Tag schaut die Welt weg, während Menschen ihr Leben verlieren, und Frauen, Mädchen und Jugendliche vergewaltigt werden. Also ja, die internationale Gemeinschaft hat uns im Hinblick auf die Mitwirkung an Lösungen im Stich gelassen. Frauen werden aus vielen Waffenstillstandsverhandlungen ausgeschlossen, und das ausgerechnet bei Diskussionen, die über unseren Schutz und die Zukunft des Landes entscheiden.“
„Afrika hat auf der globalen Ebene nie denselben Stellenwert gehabt wie die Ukraine oder Gaza. Die Reaktion der Welt wird nicht von Empathie bestimmt. Jedes Land berechnet, was seiner eigenen Wirtschaft oder Sicherheit nützt – und der Sudan hat keine Priorität. Das ist nicht nur Vernachlässigung, sondern eine bewusste Entscheidung. Geopolitische Spannungen im Globalen Norden prägen die Art und Weise, wie der Globale Süden behandelt wird, und der Sudan zahlt den Preis dafür, in einer von Machtpolitik gespaltenen Welt.
Zudem herrscht in Bezug auf den Sudan eine gewisse Ermüdung. Die Menschen sehen ein Land, das sich seit jeher im Krieg befindet. Einige Nationen sind der Meinung, dass sie genug in Frieden und Sicherheit investiert haben, und da nur langsame Fortschritte zu verzeichnen sind, haben sie sich abgewendet.
Aber die Wahrheit ist: Wenn der Globale Norden beschließt zu handeln, hat er die Macht, Kriege zu beenden – und das könnte er auch für den Sudan tun, wenn er wirklich wollte. Sudanesische Leben sind nicht weniger wert. Unser Leiden sollte nicht normalisiert werden. Wo bleiben die Grundsätze des humanitären Völkerrechts, wenn Weltmächte ihre Interessen gegen die Sicherheit und Würde der Menschen im Sudan abwägen? Wer ist verantwortlich, wenn nationale und internationale Systeme versagen? Wer setzt sich für uns ein, wenn sich die Welt abwendet?“
„Die Welt ist in Bezug auf die im Sudan kämpfenden Akteure gespalten. Nicht nur die Golfstaaten, sondern auch europäische Nationen profitieren von diesem Krieg. Unser Gold und andere Ressourcen werden geschmuggelt und billig verkauft, während im Ausland hergestellte Autos und Waffen den Konflikt anheizen. Auch wenn diese Güter von privaten Unternehmen kommen, haben sie Auswirkungen auf unsere Sicherheit und unser Recht, in Frieden zu leben.
Ich fordere Deutschland auf, nicht nur die Kriegsparteien im Sudan zu sanktionieren, sondern auch die Staaten und Unternehmen, die beide Seiten unterstützen. Und ich wünsche mir, dass sichergestellt wird, dass Deutschlands Handel und Investitionen unser Leid nicht noch verschlimmern.
Deutschland ist seit langem ein Freund des sudanesischen Volkes, u.a. durch die GIZ, den DAAD und andere Entwicklungsprogramme. Wie viele Sudanes*innen habe auch ich während meines Postgraduiertenstudiums in Dortmund von dieser Unterstützung profitiert – eine Erfahrung, die mein Denken und meine Arbeit für Frieden und Entwicklung im Sudan geprägt hat. Dafür sind wir zutiefst dankbar.
Die Partnerschaft Deutschlands mit dem Sudan basierte einst auf Solidarität und Verantwortungsbewusstsein. Das sollte so bleiben, indem man sich auf echte Entwicklung und fairen Handel konzentriert, nicht auf Hilfe oder Ausbeutung.“
„Ich bin nicht naiv und weiß, dass die Welt nach wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und entwicklungspolitischen Interessen funktioniert. Ich verstehe, dass der Sudan Teil dieses globalen Systems ist. Deshalb fordere ich transparente und faire Handelspartnerschaften, die unsere Würde als sudanesisches Volk respektieren.
Meine Botschaft ist: Wir wollen Handel statt Hilfe. Helfen Sie uns, unsere Ressourcen zu nutzen, um diesen Krieg zu beenden und unser Land wieder aufzubauen. Hören Sie auf, die Kriegsparteien zu unterstützen, und nutzen Sie Ihren diplomatischen und wirtschaftlichen Einfluss, um dem Wahnsinn ein Ende zu setzen. Wir wollen nicht aus unserer Heimat fliehen und fortan als Geflüchtete leben. Wir wollen echte Partnerschaften, die unser Gold in Frieden verwandeln, nicht in Blut.“
„Wenn ich mit der internationalen Gemeinschaft spreche, höre ich oft: ,Beide Kriegsparteien im Sudan sind illegitim.‘ Aber bedeutet das, dass die Welt uns den Rücken zukehren sollte? Bedeutet das, dass die 45 Millionen Menschen im Land weiter leiden müssen?
Legitimität kann nicht durch Waffen erreicht werden, sondern muss vom Volk ausgehen – durch freie und faire Wahlen. Aber wie können wir über Wahlen sprechen, wenn wir nicht einmal wissen, wie viele Sudanes*innen getötet oder vertrieben wurden? Das Fundament unserer Demokratie wurde zerstört.
Doch wir bleiben stark und behaupten unser Vorhaben, den Krieg zu beenden. Mit ,wir‘ meine ich das sudanesische Volk: die Frauen, die Jugendlichen, die Aktivist*innen, die sich weigern aufzugeben. Wir sind die wahre Stimme des Sudan. Arbeiten Sie mit uns zusammen und stehen Sie uns bei, bis wir eine Regierung bilden können, die den Willen und die Würde unseres Volkes vertritt.“
„Wenn dieser Krieg weitergeht, zerbricht unser Land in mehr als nur zwei Teile. Schmerzlich ist, dass die Saat für diese Zersplitterung längst gesät wurde. Dieser Krieg hat unser soziales Gefüge zerrüttet, Hass geschürt und Wunden aufgerissen, die bereits einmal zu Völkermord geführt haben. Beide Kriegsparteien instrumentalisieren regionale Loyalitäten, was dazu führt, dass sich Menschen mehr mit ihrem Stamm als mit ihrer Nation identifizieren. Das ist eine tickende Zeitbombe.
Als Person, die sich stets für Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt hat – im Sudan und darüber hinaus – kann ich nicht tatenlos zusehen, wie mein Land zerfällt. Deshalb nutze ich jede Gelegenheit, um die Sichtweise der Menschen im Land zu ändern, den sozialen Zusammenhalt wiederherzustellen und die sudanesische Bevölkerung daran zu erinnern, dass wir zusammengehören.“
„Wir begegnen dieser Spaltung mit kleinen, aber wirkungsvollen Gesten der Einheit. Frauenorganisationen, Jugend- und zivilgesellschaftliche Netzwerke bieten moralische Unterstützung und schaffen Räume für Dialog – sie erinnern die Menschen daran, dass wir einst friedlich zusammenlebten.
Wir nutzen sudanesische Traditionen und örtliche Konfliktlösungsstrategien, um Vertrauen aufzubauen. Im Sudan lieben wir Tee – also haben wir ,Tea for Peace‘ ins Leben gerufen. Dahinter steckt eine einfache, aber heilende Idee: Menschen kommen zusammen, trinken gemeinsam Tee und erinnern sich an die Wärme und das Lachen, das sie einst miteinander geteilt haben. Dieses Projekt vereint Traumabewältigung mit Raum für informellen Austausch.
Zudem haben wir Gemeinschaftsküchen und Notfallräume eingerichtet, die Menschen in Fürsorge und Solidarität zusammenbringen. Diese Emergency Response Rooms wurden sogar mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Und Frauen haben lokale Waffenstillstände ausgehandelt, damit die Menschen Märkte und Krankenhäuser erreichen oder ihre Angehörigen begraben können. Diese Initiativen werden trotz der Gefahrenlage aufrechterhalten. Wir weigern uns, die Hoffnung aufzugeben – geschweige denn einander.“
Rabab Baldo ist eine sudanesische Gender- und Friedensaktivistin. Die studierte Entwicklungs- und Raumplanerin und Mediatorin setzt sich seit den 90er-Jahren für Friedenslösungen und Geschlechtergerechtigkeit ein, und ist u. a. Mitglied von FEMWISE – the Network of African Women in Conflict Prevention and Mediation sowie des globalen Netzwerks Feminists Connecting for Peace. Sie ist seit mehr als 20 Jahren für verschiedene UN-Organisationen tätig, arbeitete als Senior Gender & Inclusivity Advisor und internationale Beraterin für UN Women, für das UNDP, für das Office of the Intergovernmental Authority on Development (IGAD) und weitere internationale NGOs und Think-Tanks. 2024 reiste sie mit einer sudanesischen Frauendelegation zu Waffenstillstandsgesprächen nach Genf, die von den USA angestoßen wurden und bei denen humanitäre Zugangswege für Millionen Menschen in dem vom Krieg erschütterten Land erreicht wurden. Für ihr Engagement wurde sie mit dem Preis 2025 der Schweizer Somazzi-Stiftung ausgezeichnet.
„Während der Revolution, als junge Frauen und Männer auf der Straße alles für die Freiheit riskierten, stand niemand an unserer Seite. Die Weltgemeinschaft kam erst, nachdem Geschichte geschrieben wurde und wir Diktator Bashir gestürzt hatten. Diejenigen, die kamen, waren nur dort, um zu beobachten.
Nach der Revolution wollten wir den Sudan durch eine fragile Partnerschaft aus Zivilbevölkerung und Militär stabilisieren. Diese Koalition gingen wir ein in der Hoffnung, dass dies zu Wahlen und dauerhaftem Frieden führen würde. Doch wir machten einen schmerzhaften Fehler: Wir vertrauten dem Militär und unterschätzten dessen Machtgier.
Dieses Vertrauen kam uns teuer zu stehen. Das Massaker von Khartum zerstörte unsere Träume; wir verloren viele tapfere junge Menschen, und unsere Revolution verwandelte sich in einen Albtraum. Als die internationale Gemeinschaft endlich reagierte, war es bereits zu spät.
Als Burhan und Hemedti ihre Waffen gegeneinander richteten, schaute die Welt erneut zu. Es wurden Erklärungen abgegeben, doch folgten keine echten Maßnahmen. Ich saß in hochrangigen Treffen und hörte, wie Vertreter*innen mächtiger Länder ihr Mitgefühl für das sudanesische Volk ausdrückten, aber das ist zu wenig. Statt Zögern hätten wir Mut und Schutz für jene gebraucht, die für Demokratie und Freiheit eintraten.
Natürlich haben wir von vielen Partner*innen Solidarität erfahren, aber wenn es um unsere Sicherheit ging, wurden wir allzu oft zurückgelassen. Globale Unterstützung für die Bildung einer zivilen Regierung kam nur schleppend. Die Aufhebung des Machtungleichgewichts zwischen Zivilist*innen und dem Militär wurde nicht mit Priorität behandelt und die internationale Gemeinschaft ließ uns ziemlich allein damit.“
„Was wir derzeit beobachten, ist nicht willkürliche Gewalt, sondern eine bewusste Form der Rache an Frauen, die es gewagt haben, Veränderungen anzustoßen. Während der Revolution standen Frauen furchtlos an vorderster Front, organisierten Proteste, forderten Freiheit und zeigten der Welt, dass sudanesische Frauen nicht länger schweigen. Diese Selbstermächtigung verunsicherte jene, die ihre Macht auf Kontrolle und Angst aufgebaut haben.
Vergewaltigung wird als Waffe eingesetzt, um Frauen zu bestrafen und daran zu hindern, als Triebkräfte des Wandels zu wirken. Vergewaltigung soll demütigen, Würde brechen und Selbstvertrauen zerstören, damit Frauen sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Viele Überlebende sexualisierter Gewalt fürchten sich davor, ihren Vergewaltigern zu begegnen. Diese sexualisierte Gewalt schadet nicht nur Einzelpersonen, sie zerreißt Gemeinschaften und schwächt das Gewebe, aus dem der Widerstand gestrickt ist.
Doch trotz all des Grauens bleiben die Sudanesinnen standhaft. Sie wurden verwundet, aber nicht gebrochen, und kämpfen weiter für Frieden und Gerechtigkeit.“
„Das ist ein entscheidendes Thema, da unser Land seit geraumer Zeit im Kriegszustand ist. Im Sudan gibt es das Wort ,Barkucha‘, was so viel bedeutet wie ,Lasst uns die Augen vor dem Schmerz verschließen und weitermachen‘. Aber nach Jahrzehnten des Konflikts und mehr als zwanzig vergleichsweise ineffektiven Friedensabkommen haben wir gelernt, dass wir einen von Gerechtigkeit geprägten Frieden brauchen.
Überlebende vergangener Konflikte sehen, wie ihre Peiniger frei herumlaufen und sogar mit hohen Ämtern und Macht belohnt wurden. Das zerstört tief Vertrauen, Würde und Hoffnung – und macht Hass zu einem historischen Erbe. Unser Volk ist dieser Art von Frieden überdrüssig. Dieses Mal müssen wir dafür sorgen, dass den Vergewaltigten, Vertriebenen und Getöteten Gerechtigkeit widerfährt, nur dann kann echter und dauerhafter Frieden entstehen.“
„Die Unterzeichnung eines Abkommens allein wird den Krieg nicht beenden. Gemeinhin wird oft angenommen, dass es reicht, wenn sich die Menschen an der Spitze auf Frieden einigen und diese Befriedung dann nach unten durchsickert. Aber die Menschen an der Spitze werden diese Friedensbemühungen niemals nach unten leiten. Schließlich ist die Option, den Konflikt wieder anzufachen ihre Trumpfkarte, falls sie mit dem neuen System nicht zufrieden sind.
Deshalb wünsche ich mir dieses Mal einen Bottom-up-Ansatz für den Friedensprozess, bei dem unser zerrissenes soziales Gefüge wieder aufgebaut wird. Wir brauchen Versöhnung in unseren Gemeinschaften und Heilung für die Traumata unseres Volkes. Der Schmerz sitzt tief und wird nicht durch eine Vereinbarung aufgelöst. Wahrhaftiger Frieden entsteht, wenn wir den Menschen helfen, das Vertrauen in sich selbst, ineinander und in die Zukunft unseres Landes wiederherzustellen. Ohne einen solchen Prozess wird jedes Friedensabkommen nur wenige Jahre Bestand haben, bevor es von Neuem zerbricht.“
„Dabei geht es nicht nur um Gerechtigkeit, sondern ums Überleben. Frauen erfahren den tiefsten Schmerz eines Krieges, aber sie verfügen auch über die Weisheit, ihn zu verhindern und die Wunden einer Gemeinschaft zu heilen.
Frauen nehmen Bedrohungen frühzeitig wahr. Ich erinnere mich an eine Frau aus einem abgelegenen Dorf, die mich vor einer Weile anrief und sagte: ,Die Leute kaufen Salz, Tee und Zucker, es wird Krieg geben.‘ Einige Tage später begann er.
Frauen sehen die Zeichen, weil sie nah am Puls ihrer Gemeinschaften leben. Sie sind das soziale Bindeglied, das Familien und Stämme zusammenhält, sie sind Brückenbauerinnen und leise Vermittlerinnen. Wenn Frauen Friedensbemühungen in Gemeinschaften anführen, sind diese Vereinbarungen oft von Dauer, weil sie auf Vertrauen, Empathie und einem Bewusstsein für das tägliche Leben basieren. Wenn wir dauerhaften Frieden wollen, müssen wir Frauen den Raum und die Macht geben, ihn zu gestalten.“
„Die unaufhaltsame Kraft der Frauen schenkt mir Hoffnung. Selbst in den dunkelsten Momenten erheben sich die Sudanesinnen mit Mut und Liebe für ihr Land. Unsere jungen Frauen sind sich ihrer Verantwortung bewusst, das Narrativ zu verändern, und dabei sind sie furchtlos.
Ich bin erfüllt von Stolz auf meine sudanesischen Schwestern. Sie riskieren ihr Leben für Frieden und Menschenwürde und gehen auf die Straße, egal wie gefährlich es ist. Ihre Stärke gibt mir den Mut, weiterzumachen.
Trotz all des Schmerzes und der Spaltung verbindet uns die Liebe zum Sudan. Wir sind es unseren Kindern und Enkeln schuldig, weiter für eine Zukunft zu kämpfen, in der endlich Frieden und Gerechtigkeit herrschen, und wir werden nicht zulassen, dass die Schurken uns auseinanderreißen.“
„Dieses Engagement begann sehr früh, nicht aus freier Entscheidung, sondern als Reaktion auf Ungerechtigkeit. Ich wuchs mit Ungleichheit, Gewalt und der Unterdrückung von Frauen auf und wollte nicht schweigen. Mit der Zeit wurde mir klar, dass Frieden und Geschlechtergerechtigkeit eng miteinander verbunden sind – das eine kann ohne das andere nicht existieren.
Mein Aktivismus erwuchs aus kleinen Taten: Ich unterstützte Frauen in meiner Gemeinde, organisierte Dialoge und setzte mich für diejenigen ein, die nicht gehört wurden. Jede dieser Erfahrungen zeigte mir, dass Veränderung dann beginnt, wenn wir uns weigern, bestehende Verhältnisse zu akzeptieren. Wenn man einmal angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören – weil man die Kraft und die Wirkung kollektiven Handelns sieht, insbesondere wenn Frauen die Führung übernehmen.“
„Als ich den Soldaten konfrontierte, sagte er: ,Wie willst du bitte Frieden schaffen? Geh nachhause und arbeite für deine Familie.‘ Ich antwortete: ,Wir Frauen haben euch überhaupt erst auf diese Welt gebracht. Alle männlichen Anführer, alle Männer, alle Soldaten wären ohne die weibliche Kraft der Geburt nicht hier, also erzähl mir nicht, dass Frauen nicht mächtig sind.‘ Daraufhin schien der Soldat sich zu schämen, auch weil er merkte, dass weder ich noch die jungen Frauen um mich herum Angst vor ihm hatten. Er erkannte die Macht vereinter Frauen, die Männer so gerne untergraben.
Männer sind verunsichert, wenn wir uns öffentlich engagieren und einmischen – und versuchen, uns einzuschränken. Sie wissen, dass Frauen die Stärke besitzen, das Narrativ zu verändern. Sie fürchten unsere Macht und bringen uns deshalb dazu, miteinander zu konkurrieren. Sie versuchen, unsere Bewegungen zu spalten und Misstrauen unter Frauen zu erzeugen, damit wir keine gemeinsame Kraft entfalten können.
Männer spielen dieses Spiel andauernd, aber wir dürfen nicht darauf hereinfallen. Die Probleme, die uns verbinden, sind dringlicher als die Themen, die uns trennen. Ich ermutige junge Frauen immer, diese Dynamik zu verstehen. Sie sollen sich nicht erniedrigen und einschränken lassen. Denn ohne an sich selbst zu glauben und ohne die Leidenschaft, Ungerechtigkeiten anzugehen, kann man nicht mutig sein.“
„Mut bedeutet für mich, nicht nur zu reden, sondern auch zu handeln. Mut bedeutet, die Machtdynamiken um uns herum zu analysieren, aufzustehen und unsere Stimme dafür zu nutzen, Ungerechtigkeiten anzusprechen und ihnen entgegenzuwirken. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Stimme erheben, denn jede*r von uns trägt die Verantwortung, nicht nur unser eigenes Leiden zu beenden, sondern auch das unserer Mitmenschen. Wir haben die gemeinsame Pflicht, unsere Länder zu schützen und zu retten – und dauerhaften Frieden auf regionaler, nationaler und globaler Ebene sicherzustellen.
Wir haben keine Zeit, Angst zu haben, uns in unser Schneckenhaus zurückzuziehen und dort zu weinen. Es ist Zeit, dass wir uns erheben, denn jede*r von uns hat die Verantwortung, Kriege zu beenden. Die Welt wird immer gefährlicher, und wir wissen, dass die potenziell sicheren Räume nicht nur kleiner werden, sondern von zivilgesellschaftlicher und politischer Seite immer stärker kontrolliert werden. All das sollte uns jedoch nicht vom Engagement für Frieden und Gerechtigkeit abhalten.
Für euch im globalen Norden gilt es, eure mutige Arbeit fortzusetzen, um unseren Stimmen Gehör zu verschaffen und unsere Probleme innerhalb eurer Regierungen anzusprechen, damit Entwicklungspartnerschaften zu einer Win-win-Situation für alle werden.“