Christin Noack ist Stadtplanerin in Berlin. In den letzten zehn Jahren hat sie viele Facetten der Stadt kennengelernt. Aber erst seit sie selbst Mutter ist, hat sich ihr Blick auf die Stadt stark verändert. Und die Wut in ihr wächst, wenn sie sieht, wie dysfunktional Städte für bestimmte Personengruppen sind. Durch eine gleichberechtigte Stadtplanung werden öffentliche Räume für alle geschaffen und die Bedürfnisse aller sozialer Gruppen und Geschlechter berücksichtigt. Aber die Umgestaltung der Stadt führt eben auch zu Konflikten. Zum Beispiel, wenn das geliebte Auto plötzlich weniger Platz hat.
Traditionell ist die Arbeit an der Stadt in ihrer Beauftragung, Planung und Ausführung schon immer männlich dominiert. Darüber sprachen wir mit Christin Noack: Mit ihrem Wissen und in ihrer Rolle möchte sie dazu beitragen, dass Menschen die Möglichkeit erkennen, die Stadt selbst mitzugestalten und Ausgrenzung sowie Ungleichbehandlung nicht einfach so hinzunehmen.
Christin Noack: „Ich würde sogar sagen, dass relativ oft darüber gesprochen wird, gerade auch unter Frauen: ,Gestern Abend ist mir wieder so ein Typ hinterhergerannt'. Oder: ,Ich musste mir einen Hinterhof suchen, damit ich noch schnell stillen kann‘. Oder: ,Es war stockdunkel auf dem Nachhauseweg‘. Wir erzählen solche Situationen oft mit einem leichten Witz. Dabei vergessen wir, dass die Stadt von uns und für uns gebaut wurde – und dass wir Einfluss nehmen können.
Auch in Berlin sind es vor allem Männer gewesen, die an der Stadtentwicklung beteiligt waren und heute dafür bekannt sind. Somit sind es auch männliche Bedürfnisse, die im Vordergrund stehen. Aber dieses Ungleichgewicht wird eben selten in Frage gestellt. Obwohl Partizipation in Stadtentwicklungsprojekten wichtig ist, fehlt oft das Wissen darüber, wie man sich beteiligen und welche Auswirkungen das haben kann.
Die aktuelle CDU-Regierung in Berlin hat den Radverkehrsausbau gebremst und sogar Maßnahmen wie Tempo-30-Zonen rückgängig gemacht. Trotzdem halten viele am Status Quo fest. Dieses Phänomen ist im Stadtplanungsjargon bekannt als ,NIMBY', das heißt: Veränderung – ja unbedingt! But not in my Backyard. Also: Bitte nicht vor meiner Haustür!“
„Zum einen haben Frauen und Männer ein anderes Mobilitätsverhalten aufgrund ihres sich deutlich unterscheidenden Arbeitsalltags. Es sind noch immer größtenteils Frauen, die Care-Arbeit leisten. Sie legen die Wege anders zurück: nicht wie eine Punktlinie von zu Hause zur Arbeit, sondern sie stehen am Morgen auf, versorgen die Kinder, bringen sie zur Kita oder zur Schule, gehen zur Arbeit, erledigen im Anschluss den Einkauf, gehen zurück zur Kita, danach mit dem Kind zum Spielplatz oder mit einem Schulkind zum Sport. Und wenn es nicht Kinder sind, dann sind es andere Pflegebereiche, zum Beispiel die Eltern, die man in eine Praxis begleitet.
Frauen bewegen sich also viel netzförmiger. Generell sind es auch mehr Frauen, die den ÖPNV, das Fahrrad und die Fußmobilität nutzen. In den Statistiken sind die Wege rund um die Care-Arbeit als ,Sonstige' oder ,Freizeitwege' aufgeführt. Dabei geht ohne diese Wege gar nichts.“
„In den Statistiken sind die Wege rund um die Care-Arbeit als ,Sonstige' oder ,Freizeitwege' aufgeführt. Dabei geht ohne diese Wege gar nichts.“
Christin Noack
„Und autogerechte Städte heißt, dass sie vorwiegend geplant und gedacht sind für den klassischen Weg von zu Hause zur Arbeit – und das ist meistens der Weg eines Mannes.
Das dem zugrundeliegende Problem ist, dass die Planung oft von einer Norm ausgeht: Barrieren müssen Sicherheit bieten, der Weg zur Arbeit sollte direkt sein, und Autos müssen möglichst schnell durchkommen. Natürlich gibt es Ampeln oder Zebrastreifen, aber die Planung berücksichtigt meist nur den ,durchschnittlichen‘ Menschen, der schnell, jung, allein und ungehindert unterwegs ist, ohne Kinderwagen, Rollstuhl oder Rollator.
Ein zentrales Thema ist auch die Gestaltung von kurzen, freundlichen und schönen Wegen, die zum Verweilen einladen. Sie finden in der Stadtplanung und in der Architektur viel zu wenig Beachtung.“
„In Berlin gibt es definitiv positive Entwicklungen. In den letzten Jahren entstand zum Beispiel die Beteiligungsplattform Mein.Berlin.de. Auf dieser Plattform können sich alle Bürger*innen an sämtlichen städtischen Projekten beteiligen, die vom Land Berlin bearbeitet werden. Anders als bei klassischen Abendveranstaltungen bietet diese Plattform die Möglichkeit zur kontinuierlichen Mitgestaltung. Man kann zu jeder Tages- und Nachtzeit kommentieren und sich im besten Fall auch in verschiedenen Sprachen äußern. Trotzdem erreicht diese Plattform leider noch nicht alle Gruppen.
In unserem Büro arbeiten wir im Bereich der Städtebauförderung. Hier werden bestimmte Gebiete mit Fördermitteln ausgestattet, um lokale Missstände zu beheben. Wir bearbeiten diese Gebiete über viele Jahre und richten feste Strukturen ein, darunter auch Anwohner*innengremien, die vor Ort aktiv sind und als Netzwerk agieren. Dadurch entstehen direkte Verbindungen zum Quartier, was besonders in großen Städten wichtig ist, um die Anonymität zu überwinden. Diese Arbeit ermöglicht es, die Bürger*innen wirklich zu erreichen.“
„Wir sollten die individuelle Erfahrung viel ernster nehmen.“
Christin Noack
„Eine riesengroße Rolle spielt die frühzeitige Bildung über Demokratie und Stadtentwicklung, schon im Kindesalter. Wie funktioniert Demokratie, parlamentarische Demokratie und was hat das mit Stadtentwicklung zu tun? Was ist euer Recht auf Stadt? Wir wohnen alle in kleinen Wohnungen, weil wir viel Raum draußen haben. Was machen wir aus diesem Raum?
Wir sollten auch die individuelle Erfahrung viel ernster nehmen. Denn so individuell, wie wir denken, ist das ja meist gar nicht. Meist geht es eben nicht nur dieser einen Person so, sondern ganz vielen. Deshalb ist es wichtig, Bildung und Information in Schulen und Kitas zu verankern. Selbst Kindergartenkinder können schon so viel mitreden und wertvollen Input geben.“
„Im Prinzip haben wir wichtige Richtlinien schon beschlossen in der sogenannten Leipzig-Charta*, in der die ,Stadt der kurzen Wege'* und die Partizipation der Stadtgesellschaft bereits festgeschrieben sind. Es gibt mittlerweile berühmte Stadtplaner*innen wie Jan Gehl, der sich zum Beispiel stark gemacht hat für eine Fahrradinfrastruktur.
„Wir müssen wieder dahin kommen, Dinge in Frage zu stellen, lauter zu werden und uns mehr darüber zu empören, wie es ist. Damit es anders werden kann.“
Christin Noack
Was dabei aber sehr frustrierend ist, ist die Dauer der Umsetzung und Realisierung dieser guten Ansätze. Unser Verwaltungsapparat in Deutschland und das Zusammenspiel mit der Politik sind auch hochkomplex – es bringt uns viele Vorteile, aber nimmt die Agilität. Und genau hier sitzt oft meine Enttäuschung. Das ist eine Berufskrankheit: Wenn ich durch mein Viertel in Neukölln laufe, erlebe ich viele gefährliche Situationen. An jeder Ecke gibt es zu hohe Bordsteinkanten, viele Kreuzungen sind unübersichtlich, Gehwege sind im schlechten Zustand oder Radwege gar nicht erst vorhanden.
Und ja, ich glaube, wir müssen irgendwie wieder dahin kommen, Dinge in Frage zu stellen und lauter zu werden und uns mehr darüber zu empören, wie es ist, damit es anders werden kann. Erst dann geht es schneller in der Umsetzung. Das fachliche Wissen reicht oft nicht aus um die Entscheidungs- und Realisierungsprozesse zu beschleunigen. Vielleicht hat es aber auch einfach noch immer nicht die notwendige politische Priorität.“
„Ich denke schon, dass Politiker*innen sich der Problematik bewusst sind, aber auch in der Gunst ihrer Wähler*innen gefangen. Das Auto ist je nach politischer Zugehörigkeit zum Symbol-Thema geworden. Generell neigen Menschen dazu, schlecht mit Veränderungen umzugehen, sie haben Angst davor. In der Politik kann es kurzfristig von Vorteil sein, die Dinge so beizubehalten, wie sie sind, obwohl sie sich ohnehin ständig wandeln. Das ist eigentlich absurd.”
„Es gibt keine Person, die darunter leiden würde, wenn man mehr und schneller alle mitdenkt.“
Christin Noack
„Genau das ist es, ja. Es wäre für alle besser, schöner, gesünder, nachhaltiger, freundlicher, stressfreier – ein stärkeres Miteinander. Es gibt, glaube ich, keine Person, die darunter leiden würde, wenn man mehr und schneller alle mitdenkt.“
„Ja, die Räume müssen so geplant und gebaut sein, dass man sich trifft. Dass man kommuniziert. Es ist eigentlich das Dorf in der Stadt, das uns verloren gegangen ist – der Marktplatz, wo man sich austauscht. Der Spielplatz ist auch so ein Ort, aber es gibt insgesamt zu wenige solcher Orte. Und gleichzeitig gibt es auch zu wenige Rückzugsorte für vulnerable, sensiblere Gruppen. Ruheorte. Auch alte Menschen brauchen viel mehr ruhigere Orte.“
„Das ist meine größte Frage. Wir arbeiten in unserer Verwaltungsstruktur mit ganz vielen Absicherungen: Alles muss geprüft und finanziert sein, was für jeden kleinen Schritt viele Wege erfordert. Unser sehr durchdachtes Verwaltungssystem und die politischen Strukturen hemmen somit unseren Erfolg. Zudem stellt sich die Verwaltung mit jedem Regierungswechsel alle vier Jahre neu auf, was stetige Anpassungen mit sich bringt, zuletzt beim Thema Radwege. Obwohl es viele Möglichkeiten gibt, Missstände zu melden, etwa über die Seite der Berliner Ordnungsämter, führen das Wissen darüber und die umständliche Verwaltung oft dazu, dass selbst kleine Maßnahmen nicht zügig umgesetzt werden.“
„In Wien hat die Stadtbaurätin Eva Kail schon in den 90ern feministische Stadtentwicklung vorangetrieben, und wurde erst noch belächelt mit Fragen wie ,Aha, brauchen wir jetzt rosa Gehwege?'. Sie entwickelte Leitlinien, die nicht nur Gender Mainstreaming* einführten, sondern auch konkrete Anforderungen für Spielplätze wie Einsehbarkeit und Zugänglichkeit für Kinder mit Behinderungen inkludieren.
Im Vergleich zu Berlin ist Wien führend in der Entwicklung neuer Wohnquartiere, wie das Projekt Seestadt Aspern zeigt. Dort gibt es nicht nur günstigen Wohnraum, sondern auch gemeinschaftliche Treffpunkte und Cafés, sogar ein Schwimmbad. Das ist in Deutschland aufgrund planungsrechtlicher und organisatorischer Hürden schwierig. Wien integriert Einrichtungen wie Jugendclubs direkt in die Quartiersentwicklung. Von Wien kann man sich viel abschauen, weil hier die Umsetzung des Gender Planning eben verankert ist und die Notwendigkeit klar erkannt wird.“
„Absolut. Das Büro, in dem ich Mitgesellschafterin bin, gibt es seit den 90er Jahren. Es bestand zunächst nur aus Männern. Und natürlich war ich beeindruckt von deren Kompetenz, suchte aber zugleich stark nach weiblichen Vorbildern, die es damals kaum gab. Mittlerweile beobachte ich mehr Frauen in der Stadtplanung, allerdings selten in den oberen Führungspositionen.
Bis vor etwa zehn Jahren, als Berlin nicht so rasant wuchs und Einstellungsstopps in den Verwaltungen herrschten, gab es kaum junge Perspektiven von Frauen in der Planung. Erst in den letzten Jahren wurden wieder vermehrt Menschen in der Verwaltung und Stadtplanung eingestellt, was diese enorme Diskrepanz aufzeigt. Zehn Jahre sind für Stadtentwicklungsprozesse nicht viel Zeit.“
„Ja, das sieht man auch am Beispiel der 15-Minuten-Stadt, eigentlich ein Konzept vom Anfang des 20. Jahrhunderts. In den 1920er Jahren wurde es von einer Frau, einer Stadtplanerin, erfunden und dann von einem Mann übernommen, dessen Name in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Die Perspektiven und die Errungenschaften der Frauen von damals sind unterrepräsentiert. Leslie Kern beschreibt in ihrem Buch ,Feminist City', wie Frauen sogar historisch oft für Missstände in der Stadtentwicklung verantwortlich gemacht werden. Das aktuellste Beispiel sind die Latte Macchiato trinkenden Mamas in Berlin Prenzlauer Berg, die für Gentrifizierung verantwortlich gemacht werden, obwohl vielleicht an dieser Stelle die Stadt so vorhanden ist, wie sie eigentlich sein müsste.“
„Um gemeinsam gerechtere, nachhaltigere und solidarischere Städte zu schaffen, müssen die Barrieren, die Frauen unterdrücken (sollen), überwunden, muss städtischer Raum beansprucht werden.“
Leslie Kern in „Feminist City“
„In der Zeit der Industrialisierung konnten Frauen arbeiten gehen und zogen deshalb in die Stadt, wodurch sie weniger Zeit für den Haushalt hatten. Dies führte oft dazu, dass der Haushalt als ,schludrig galt', denn die Frauen hatten weniger Zeit dafür und gleichzeitig war er durch die Kinder, die mehr Zeit in der Stadt verbrachten, sichtbarer.
In Gegenden mit Prostitution herrscht oft ein düsteres Image, man mied diese Gegenden. Hier galten die Frauen als gefährlich für die Männer. Während es doch überall sonst ebenso düster war und jede Frau und jedes Mädchen von Angst in der Dämmerung begleitet wird.
In den USA gab es eine Kampagne gegen Adipositas, die speziell Frauen und Kinder als Zielpublikum hatte, unter der Annahme, dass sie wegen ihres städtischen Lebensstils übergewichtig wurden. – Die Geschichte zeigt, wie sehr Frauenkörper im städtischen Kontext thematisiert wurden.“
„Die Stadt, in der ich gerne leben würde, ist für jede Person zugänglich, frei, offen, freundlich und nach außen gewandt. Warum lebt man in der Stadt? Wegen all dieser Möglichkeiten, des Angebots, wegen des Lernens von anderen Menschen und wegen des Austauschs. Eine Stadt, in der ich leben möchte, ist sicher für jede*n Einzelne*n.
Ich war im vergangenen Jahr auf einem Kongress für Stadtentwicklung und wirklich alle Stadtplaner*innen sind sich einig, dass es genauso sein muss. Aber dieser Frust bezüglich der mangelnden Umsetzung – der ist allgegenwärtig. Das Gefühl, irgendwie verloren zu sein, dominiert. Umso wichtiger ist es, für die Missstände und die Möglichkeit der Mitwirkung ein Bewusstsein zu schaffen. Je mehr Menschen davon wissen, desto schneller geht es, glaube ich.“