Foto: Eric Nopanen | Unsplash

Ich habe gar keine Lust, mich ständig selbstzuverwirklichen, kapiert das endlich!

Motivations-Sprüch, Lebensratgeber, Life-Coaches: unsere Community-Autorin kann es nicht mehr hören und fragt sich: Vergessen wir nicht etwas sehr wichtiges, wenn wir Zufriedenheit immer mit totaler Selbstverwirklichung verknüpfen?

Einfach loslassen?

Ich habe sie so satt, die ganzen Zeitmanagementberatungen und Gute-Laune-Kalendersprüche, die Lifestyleblogs und Aussteigergeschichten. Immer zu lesen, wie ich sein könnte, wenn ich endlich loslassen würde – mich, die Zeit, meine Ansprüche, das, was ich bin. Damit ich mich zu dem entwickeln kann, was ich wirklich und wahrhaftig sein möchte. Ich habe gelesen, zugehört, verglichen, angewendet. Und jetzt? Jetzt stehe ich kopfschüttelnd über dem ganzen Haufen guter Ansätze und möchte ein zündelndes Streichholz daran halten – weil es eben nicht immer funktioniert.

Es gibt sie nicht, die eine Lösung für jeden einzelnen Menschen. Also lass brennen! Nieder mit den Gedankenfetzen, die lauernd in meinem Hinterstübchen hocken und mir mit gollumgleicher Stimme zuflüstern: „Mein Schatz, es ist 20 Uhr. Hör auf mit arbeiten. Jetzt bist du dran. Quality Time. Me-Time.“

RUHE!“, denn jetzt bin ich wirklich dran. Ich habe einen Job. Nun gut, eigentlich sind es zwei. Wie man es nimmt. Der eine füllt mein Portemonnaie und den Großteil meiner Zeit aus. Ich mache ihn wirklich gern, auch wenn er nicht meine Lebensaufgabe ist. Der zweite Job füllt mein Herz. Ihn mache ich viel zu selten. Das weiß und bedauere ich. Doch ein übervolles Herz beruhigt eben auch nicht einen knurrenden Magen, oder wächst sich zu einem wärmenden Mantel im Winter oder gar zu einem Dach über den Kopf heraus. Es macht glücklich, wenn der ganze Rest stimmt.

Auf der ständigen Jagd nach Zufriedenheit

Und dann kommt wieder so ein Spruch um die Ecke und überfällt mein gerade ruhendes Gedankenuniversum: „Erst wenn du zufrieden bist, beginnst du wirklich zu leben.“ Ein Zitat aus einem verstörenden Film, den ich vor wenigen
Tagen gesehen habe: das Lazarus-Project. Ein Mann bekommt ein neues Leben
geschenkt, das er nicht wollte. So die Kurzfassung des Hollywoodfilms.

Doch wann ist man tatsächlich zufrieden? Und kollidiert eben genau das nicht mit den eigenen Träumen und Zielen, ohne die wir still stehen würden? Was passiert, wenn wir anhalten, uns umblicken und das Leben annehmen, welches wir gerade führen? Wir jammern und sorgen uns, sind rastlos, ruhelos und immer auf dem Sprung an das andere Ufer, wo das Gras angeblich grüner ist. Dabei kommen wir nie an und rennen blind an den kleinen Momenten vorbei, die uns das Leben schenkt.

Jedes Jahr um die Weihnachtszeit nehme ich mir vor, mehr Inne zu halten. Die Tage ruhiger anzugehen. Weihnachtsmärkte in verschiedenen Städten zu besuchen, weil mein Hauptjob mir dazu die Möglichkeit gibt. Doch jedes Jahr bleibt es bei der Vorstellung, weil meine Zeit es nicht zulässt. Weil Jahresendspurt ist. Schlimmer noch, ich ärgere mich im Nachhinein regelrecht darüber. Und dann ärgere ich mich, weil ich mich ärgere. Verrückt! Ich überlege anzuhalten, auszusteigen und einfach mein eigenes Ding zu machen.
Meinen Herzensjob: Autorin. Doch machen wir uns nichts vor, jeder Künstler
träumt davon, allein von seinen Werken leben zu können. In der Realität sieht
das ein wenig anders aus. Solange du kein großes Ding gelandet hast, lebst du
als Künstler von der Hand in den Mund. Dann sehe ich mich auf dem
Weihnachtsmarkt stehen, die Lichter und den Moment bewundernd, mit einem Euro in der Hand und einem sehnsüchtigen Blick auf den Glühweinstand. Und mit dem Geruch von Poffertjes auf Eierlikör (lecker!!!) in der Nase begreife ich, dass die blinkende Münze in meiner Hand und mein übervolles Autorenherz nicht meine Gaumenwünsche erfüllen mögen. Reset. Zurück auf Anfang.

Was ist eigentlich Zufriedenheit?

Ich habe einen Job. Nun gut, eigentlich sind es zwei. Ohne den einen, könnte der andere nicht existieren. Beide reichen sich die Hand. Und manchmal drückt der eine kraftvoller zu als der andere. Das ist mein Leben. Ich habe ein Dach über den Kopf, Essen im Kühlschrank, Kleidung am Leib. Ich habe fließendes Wasser und Strom. Das macht mich materiell betrachtet zu einem reichen Menschen. Ich habe eine große Familie, viele Freunde und ungefähr fünfzig Wollmäuse, die mit meinem Freund, unserem Hund und mir in einer schönen Altbauwohnung leben. Ich bin wirklich reich. Für das eine arbeite ich, für das andere lebe ich. Wie Millionen anderer Menschen auch. Ich könnte zufrieden sein. Oder?

Und schon wieder ertappe ich mich dabei, wie ich meinen Zielen hinterherjage. Träume, die ich mir noch erfüllen möchte. Zeit, die ich benötige. Die Luft wird immer knapper und mit ihr verflüchtigt sich auch das Gefühl der Zufriedenheit. „Halt an!“, drängt es in mir. Alles zu seiner Zeit.

Ich bin ungeduldig. Wann ist denn diese Zeit? Wird sie jemals kommen? Was, wenn ich alt aber weise irgendwann auf mein Leben zurück blicke und mich frage, weshalb ich mich nicht getraut habe? Warum ich die vielen Dinge, die ich träumte, nicht umgesetzt habe? Was, wenn ich bereue? Das Leben ist endlich.

Zufriedenheit kommt für mich mit einen leisen Tapsen

„Komm endlich an”, lockt eine Stimme in mir, „es ist gut so, wie es ist.” Ich lausche der Stimme weiter. Ich sitze in meinem gelben Ohrensessel, im geräumigen Wohnzimmer unserer Wohnung, im Hintergrund brummelt die Waschmaschine und ich höre leises Tapsen auf unserem Holzdielenboden. Mein Hund steckt seine Nase zur Tür herein. Ein wenig verschlafen, ein bisschen neugierig. Er guckt mich an und wedelt zaghaft mit seiner Rute. Ich muss grinsen. Er auch. Seine Rute wedelt heftiger. Dann kommt er zu mir, stupst meine Hand und setzt sich abwartend vor meinen Sessel. Ich kraule seinen Kopf und Nacken. Er schließt genussvoll die Augen.

„Kleiner Freund“, denke ich „du hast soviel von dem in dir, wonach ich suche. Ruhe. Zufriedenheit. Gelassenheit. Für dich gibt es kein morgen, nur das Jetzt. Meine Hand in deinem Fell. Seelenruhe und Glück. Du brauchst kein Lebensziel, denn das hast du mit uns schon gefunden. Deine Familie, dein Rudel.“

Und in mir klopft ein kleines Gefühl der Dankbarkeit. Für meinen Hauptjob, der nicht nur mein Portemonnaie füllt, sondern auch den Napf meines Hundes. Der es mir möglich macht, Poffertjes auf Eierlikör zu genießen und dazu einen echten Glühwein aus einer Porzellantasse zu trinken, während ich warm eingehüllt in meinem neuen Daunenparka mit meinen Freunden den Abend auf dem Weihnachtsmarkt verbringe. Freunde, die ich auch über die Arbeit kennengelernt habe. Menschen, die ich sehr gern habe. Auch dafür bin ich dankbar. Denn mein Job füllt nicht nur den Geldbeutel. Von allen Seiten betrachtet, nimmt er nicht nur Zeit, sondern gibt auch Erfahrungen, verbindet mich mit anderen Menschen, gibt mir die Möglichkeit, mein Leben zu gestalten und lässt mich wachsen. Es ist ein guter Job. Nur für das Stimmen der Waagschale bin ich selbst verantwortlich – oder eben für den Blickwinkel. Dafür benötige ich keine Ratgeber oder Motivationsgurus, keine Kalendersprüche oder Zitate berühmter Persönlichkeiten. Dafür reicht ein Blick aus treuen Hundeaugen, eine Begegnung mit einem lieben Menschen, ein kitzelnder Sonnenstrahl am Montagmorgen, Poffertjes, Küsse, ein kleines Dankeschön, ein Lächeln … und vielleicht eben nur diesen einen, aber dafür ganz besonderen Weihnachtsmarktbesuch.

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