Muss man alles verzeihen können – oder darf man sich auch erlauben, wütend zu bleiben? Dieser Frage widmet sich Mirna Funk in diesem Monat für ihre Kolumne „Sag mal, Mirna…“
Lasst uns nachtragend sein
Auch wenn das keine besonders populäre Meinung ist, finde ich sich oder einem anderen zu verzeihen hochgradig überbewertet. Ich finde verzeihen geradezu bescheuert und verstehe überhaupt nicht, wieso man ständig immer alles verzeihen sollte. Let’s be nachtragend. Let’s be wütend. Let’s not verzeih anything. Let’s feel guilty forever.
Es gibt nämlich Dinge, die muss man nicht verzeihen und die sollte man auch nicht verzeihen: Wenn Eltern ihre Kinder schlagen, wenn dein Ehemann deine beste Freundin bumst, wenn deine beste Freundin deinen Ehemann bumst, wenn sechs Millionen Juden umgebracht werden, wenn der Amazonas in Brand gesetzt wird. Wenn jemand dein Kind entführt, vergewaltigt oder ermordet. Wenn dein*e Partner*in gewalttätig ist. Wenn dir jemand in dein geliebtes Auto fährt. Es gibt wirklich Millionen Gründe stinksauer, zutiefst enttäuscht und für immer angeekelt von jemandem zu sein. Und das ist auch total in Ordnung.
Wut statt Liebe
Ich war noch nie ein großer Fan vom Verzeihen, aber seit ich ein Kind habe, ist das Thema komplett durch bei mir. Jede Mutter und vielleicht jeder Vater wird diese Angst kennen, die einen begleitet, sobald das Baby geboren wurde. Erst wacht man ein Jahr lang alle fünf Minuten auf und checkt, ob das Kind noch atmet, und dann wird man selbst während des Tages von den schrecklichsten Vorstellungen verfolgt. Und man begreift relativ schnell, dass das ja quasi nie wieder aufhören wird. Ich jedenfalls habe einen sich immer wiederholenden Gedanken: Was ist, wenn meiner Tochter etwas Schlimmes passiert, das ein anderer Mensch zu verantworten hat?
Bilder jagen stündlich durch meinen Kopf, die diese schlimmen Sachen zeigen und deren Details ich hier niemandem aufdrängen möchte, weil zu schrecklich. Wenn wirklich einmal eine schlimme Sache passieren sollte, würde ich mich sofort auf die Suche nach dem*der Täter*in machen. Einen Detektiv engagieren, stundenlang vor irgendwelchen Wohnungen hocken, nichts dem Zufall überlassen und unverhältnismäßig stark durchdrehen, sollte ich die Person erwischen. Denn in solch einem Fall ist für mich verzeihen keine Option, sondern nur Wut.
Fehler aushalten
Nicht zu verzeihen, gilt übrigens auch für Fehler, die ich gemacht und damit andere verletzt habe. In den 38 Jahren meines Lebens habe ich eines gelernt: Menschen neigen dazu sich sehr sehr, sehr schnell selbst zu verzeihen. Man könnte es auch fehlende Verantwortung nennen. Wie selten bitte passiert es, dass dein*e Partner*in ehrlich weinend vor dir sitzt, weil er*sie dich betrogen hat oder, was weiß ich, die Solariumfachkraft sich für den frechen Ton entschuldigt? Genau: So gut wie nie eigentlich.
Deswegen plädiere ich auch für eine Kultur des Nicht-Verzeihens und Verantwortung-Übernehmens. Ich finde es auch völlig in Ordnung, wenn man mir gegenüber nachtragend ist. Her mit eurer Wut, knallt mir an den Kopf, wie scheiße ich war. I can take it. Seine eigenen Fehler annehmen und aushalten zu können, ist so viel größer als dieser weichgespülte Verzeihungsquatsch. Wie gut ist es bitte, wahrhaft spüren zu können, was man Furchtbares getan hat und dann zutiefst ehrlich und aufrichtig eine Entschuldigung auszusprechen. Übrigens würde ich nach solch einer Entschuldigung niemals erwarten, dass mir der*die andere jetzt verzeihen muss. Er*sie kann solange sauer und wütend auf mich sein, wie er* sie es möchte. Wieso auch nicht? Welches Recht habe ich denn als Täter*in, dem Opfer vorzuschreiben, wie es mit seinem Schmerz umzugehen hat? Gar keines nämlich! Das einzige Recht, das ich habe, ist mich schuldig zu fühlen und für immer meine Klappe zu halten.
Das mag in den Ohren vieler super hart klingen. Aber das Leben ist auch hart. Mit Menschen zu interagieren, ist hart. Fehler zu machen, ist hart. Und Schmerz zu erleben, ist sowieso das Allerhärteste. Vielleicht würde diese Härte langfristig auch helfen, dass wir uns einander gegenüber weniger beschissen verhalten würden, wenn wir wüssten, dass es so etwas wie Erleichterung nach einem Fehltritt eben niemals geben wird.