Das Ausloten ihrer Grenzen lässt Sarah wachsen und beeinflusst nicht nur ihr Sexleben: Sie fühlt sich im Alltag sicherer, stärker und sie lebt vollkommen im Hier und Jetzt. „Wir sollten aufhören vor dem, wer wir sind und was wir wollen, Angst zu haben.“ Sarah lebt in Halle, arbeitet als Coachin und Trainerin in der Bondage- und BDSM-Szene – und ist eines der Gesichter der JOYclub-Kampagne „Lebe deine Lust.“ Ich sprach mit ihr über die Magie der Seile, die Bedeutung der JOYclub-Community und das Gefühl der Freiheit, wenn man sich von althergebrachten Rollenbildern und gesellschaftlichen Tabus befreit.
Liebe Sarah, du bist eines der Gesichter der JOYclub-Kampagne Lebe deine Lust. Echte Mitglieder der Community treten hier mit ihren Geschichten für ein sexpositives Leben und einen offenen Umgang mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen ein. Erzähle uns deine Geschichte!
„Am allerwichtigsten ist es mir, Menschen zu zeigen und zu inspirieren, die eigenen Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen. Wir sollten verstehen, dass wir unsere Bedürfnisse erst entsprechend kommunizieren müssen, damit man sie uns erfüllt. Ich hoffe, dass sich durch meine gelebte Freiheit und die Arbeit, die ich mache, mehr und mehr Menschen trauen, sich selbst und ihre Bedürfnisse als ganz normal anzusehen. Eigene Tabus und Stigmata von den heteronormativen, althergebrachten Rollenbildern abzubauen. Vor allem möchte ich weiblich gelesenen Personen zeigen, dass sie alles sein können, was sie möchten und eben nicht das sein müssen, was die Gesellschaft ihnen vorgibt. So hat sich auch mein eigener Weg gestaltet.
„Ich glaube fest daran, dass uns das Leben in Zeiten, in denen wir bereit dafür sind und in denen wir neue Impulse aufnehmen können, auch neue Wege zeigt.“
Ich war auf der Suche nach neuem Input, nach neuen Menschen. Ich habe durch Zufall Seilspuren gesehen an einem ehemaligen Partner. Der konnte mir nicht erklären, was das soll, warum er das macht – und so bin ich auf den JOYclub aufmerksam geworden. Freundinnen erzählten mir, dass dort viele kinky Menschen unterwegs sind. Zwei Tage nach meiner Anmeldung schrieb mich jemand an, der kurz darauf auch mein Partner wurde. Und seine erste Frage war tatsächlich: Möchtest du etwas über Seile erfahren? Und ich sagte: Ja, genau deswegen bin ich hier. Dann kam direkt der Lockdown, wir hatten ganz viel Zeit zu fesseln, zu spielen, zu sprechen, uns und unsere Sehnsüchte kennenzulernen. Alles hat perfekt ineinandergegriffen. Ich glaube fest daran, dass uns das Leben in Zeiten, in denen wir bereit dafür sind und in denen wir neue Impulse aufnehmen können, auch neue Wege zeigt. Ob wir uns dafür entscheiden, sie zu gehen, ist noch mal eine andere Sache. Aber für mich wurde das ganz schnell so groß und wichtig. Es hat sich so viel verändert in mir, dass es noch immer ein innerer Drang ist, das weiterzugeben, Menschen davon zu erzählen, sie vielleicht sogar ein bisschen freier und offener zu machen.“
Du sagtest, dass dich diese Seilspuren fasziniert haben. Kannst du das noch ein bisschen genauer beschreiben? Wie hast du verstanden, dass Seile und Bondage dein Leben verändern könnten?
„Ich habe in mir natürlich schon immer Bedürfnisse und Fantasien gespürt. Und auf einmal waren Seile da, dieses Werkzeug. Und ohne genauer darüber Bescheid zu wissen, habe ich gespürt, dass das später eine ungeheure Kraft haben kann. Dann wollte ich also verstehen, habe mich damit auseinandergesetzt und war auch erst mal nur auf theoretisches Wissen aus. Das war alles so neu und irgendwo auch eine gefährliche Sache, man muss viele Dinge bedenken. Es war mir wichtig zu verstehen, was das ist und was das kann und was die Menschen können müssen, die es machen.“
Hattest du das Gefühl, dass man auch sich selbst als Mensch besser kennenlernt, wenn man auf den Spuren seiner Sehnsüchte und Fantasien ist und diese auch ernst nimmt?
„Wunderschöne Frage. Definitiv. Wir sind Wesen mit so vielen verschiedenen Facetten und ich glaube, viele stimmen mir zu, wenn ich sage: Egal, welche Erfahrung wir im Leben machen – es hat immer Auswirkungen auf Fragen wie: Wie werden wir von nun an weitergehen? Wie haben wir uns verändert? Wie würden wir beim nächsten Mal reagieren? Wir alle sind menschliche Wesen, wir wollen geliebt, gesehen und gehört werden und das hat die Kraft, uns zu verändern, wenn es dann tatsächlich passiert.
„Wenn wir wirklich im Kern gesehen werden, kann das dazu führen, dass wir stolzer, mutiger, freier, auch resistenter daraus hervorgehen.“
Wenn wir wirklich im Kern gesehen werden, kann das dazu führen, dass wir stolzer, mutiger, freier, auch resistenter daraus hervorgehen und vielleicht in Zukunft anders reagieren, weil wir entspannter und freier sind, weniger Vorurteile haben, weil wir über viele Dinge Bescheid wissen und vieles ausprobiert haben. Deswegen: Definitiv, ja.“
Ist die Gesellschaft denn deiner Einschätzung nach noch immer sehr tabubehaftet – also nicht wirklich sexuell befreit?
„Ich denke, wir machen Fortschritte, wenn auch eher kleine. Was mir mittlerweile in meiner Arbeit auffällt, ist, dass viele Menschen diese heteronormativen Rollen gerne aufbrechen möchten, aber in ihrem Inneren sind sie eben doch tief verankert. Zugleich denke ich, dass viel dafür getan wird, dass Menschen immer mehr über ihre eigenen Vorlieben sprechen, was ja wirklich nur inspirierend sein kann für alle. Gerade dieser Austausch über uns lässt uns am Ende so sein, wie wir sind. Alles hat einen Grund und kommt irgendwo her. Leute aber dafür zu verteufeln, dass sie andere Bedürfnisse haben oder andere Erfahrungen gemacht haben, das ist leider noch immer sehr präsent – und es ist eine meiner wichtigsten Aufgaben, Menschen zu zeigen, dass sie normal sind und sich selbst nicht verurteilen sollen.“
Diesen Austausch, von dem du sprichst, den gibt es ja bei JOYclub. Wie genau funktioniert es da? Wie findet man sich – wie gerätst du an die Personen, die auch gut für dich sind?
„Für mich ist es sehr wichtig, dass ein Profiltext vorhanden ist, der keine 3000 Rechtschreibfehler hat – das ist einfach so. Der Text sollte möglichst interessant sein, ich möchte etwas über die Person erfahren. Wichtig sind für mich auch gute Bilder. Ich brauche nicht nur ein Bild von einem Schwanz oder einem Oberkörper. Es muss natürlich auch kein professionelles Fotografenbild sein, aber diese Art der Ästhetik sagt soviel aus über Menschen – genauso wie das Anschreiben. Man merkt einfach, wenn jemand copy-pastet und nur den Namen verändert. Es ist immer wichtig, den Menschen hinter dem Profil zu sehen.
„Es ist immer wichtig, den Menschen hinter dem Profil zu sehen.“
Und dann kommt es auf den Moment an: Wie fühle ich mich gerade? Habe ich wirklich Lust und die Zeit, zu antworten? Wenn ich jemanden gut finde und anschreibe, bekomme ich meistens eine Antwort. Es ist ein wilder Ritt. Ich habe bereits zwei Partner bei JOYclub kennengelernt. Und auch die Foren sind interessant. Wenn du dich zum Beispiel für Spanking interessierst und in der entsprechenden Gruppe bist, dann kann man anhand der Art, wie Menschen hier miteinander kommunizieren, auch gut sehen, wie sie ticken und wen man anfragen könnte für einen persönlichen Austausch.“
Man sieht und liest ja sehr viel, was in Bezug auf Bondage dann doch mit Gewaltdarstellung und Aggression zu tun hat. Provokant gefragt: Bilden Filme oder Bücher wie „Fifty Shades of Grey“ die Realität ab?
„Fifty Shades of Grey ist keine Realität. Das ist Entführung, ist etwas gegen den Willen der Frau – auch wenn es ihr am Ende gefällt. Es hat nichts mit Consent, Kommunikation, Absprache zu tun. Wie das Ganze angegangen wurde, ist schrecklich. Das Allerwichtigste ist, dass zwei Menschen sich darauf einlassen, in einem Moment, in dem beide Lust darauf haben und dem zustimmen. Es wurde vorher vereinbart, was alles nicht geht und was alles geht. Und es sollte klargemacht worden sein, wie man im Zweifel kommuniziert, während der Session und danach. Gerade Seile sind so ein starkes Werkzeug der Kommunikation. In meinen Sessions wird beim Fesseln auch nicht gesprochen. Das Seil gibt den Takt vor. Die Reaktion des Gegenübers entscheidet dann, wie es weitergeht. Bondage hat für viele Menschen mit Sex zu tun, für viele Menschen auch überhaupt nicht. Fifty Shades of Grey suggeriert das aber – es ist ausschließlich auf Sex ausgerichtet. Dabei wird Bondage von wirklich vielen Leuten eher wie eine Art Partner-Yoga betrieben. Sie wollen miteinander einen Moment erschaffen, in dem sich die Körperbewegungen gegenseitig bedingen, die jeweiligen Gefühlslagen entscheiden, wie weit man geht, wo es hingeht und wie intensiv es wird.
„Es geht nicht darum zu sagen: ,Ich nehme mir, was mir zusteht.’ Sondern: ,Vielen Dank für dieses Geschenk von deinem Körper, deinem Geist und deinen Emotionen.“
Deshalb ist es unerlässlich, sich vorher mitzuteilen, wie es einem geht, in welche Richtung es heute gehen sollte. Wenn ich reingehe mit der Erwartung: ,Ich möchte heute die Oberkörperfesselung XY üben’, aber mein Partner hat die Erwartung ,Ich möchte heute eine richtig sexuelle Session haben’ und wir reden nicht vorher darüber, dann ist ganz klar, dass beide Erwartungen nur enttäuscht werden können. Es sind so viele kleine feine Nuancen, die wichtig sind, aber am Ende geht es darum, sich zuzuhören, sich gegenseitig zu sehen – und das Ganze ist immer auf Augenhöhe. Diese Wertschätzung und zu sehen, was das für ein Geschenk ist, wenn sich jemand dir so anvertraut. Ich wünsche mir auch, dass verstanden wird, dass es nicht darum geht: ,Ich nehme mir, was mir zusteht.’ Sondern viel mehr darum: ,Vielen Dank für dieses Geschenk von deinem Körper, deinem Geist und deinen Emotionen.’“
So wie du das erzählst, ist das ja fast eine Art wortlose Sprache über Seile, Körper und Zeichen, die man einander gibt.
„Genau, ja. Ich vergleiche das auch gerne mit dem Paartanz. Auch dort wird nicht geredet, eine Person ist in der führenden Rolle, die andere gibt sich hin und möchte folgen. Wenn klar ist, dass sich beide für ihre Rolle entschieden haben und dass die folgende Person der führenden Person auch vertraut und ihr folgen möchte – darin liegt die eigentliche Magie. Das ist Body Language, darin steckt ganz viel Kommunikation. So kann es wirklich zu einem Tanz werden, in dem die Impulse und Reaktionen der Körper entscheiden, in welche Richtung es geht und wie lange es andauert.“
„Es kann zu einem Tanz werden, in dem die Impulse und Reaktionen der Körper entscheiden, in welche Richtung es geht und wie lange es andauert.“
Im JOYclub ist die sexuelle Bildung ein wichtiger Teil der Mission. Du selbst bist auch als Coach unterwegs und gibst Sex-Education-Workshops. Welches Feedback bekommst du von deinen Klientinnen und Teilnehmerinnen?
„Wenn ich den Menschen die 1:1 Bondage Erfahrung gebe, dann besprechen wir 1 bis 2 vorher Stunden, wo es hingehen soll. Und dann besprechen wir danach noch mal, wie es gewesen ist. Sehr oft erlebe ich eine Art Ausbruch von Emotionen, die im Körper angestaut waren. Das können Wut, Trauer oder Hass sein bis hin zu Lachkrämpfen, Endorphine und Adrenalin werden dann ausgeschüttet. Gerade im Alltag tragen wir oft eine Maske, die andere Leute daran hindert, uns wirklich zu sehen. Aus welchen Gründen auch immer – Selbstschutz oder weil sie nie gelernt haben, ihre Bedürfnisse wirklich zu zeigen.
In den Seilen entsteht die Magie, denn man kann nicht anders, als unter diesen starken äußeren Impulsen wirklich da zu sein im Moment. Viele Menschen, die ich begleiten durfte, lernen Gefühle überhaupt zum ersten Mal und lassen die komplette Gefühlspalette zu – und sie merken: Hey, das ist doch gar nicht so schlimm, wenn ich dieses starke Gefühl spüre, das geht auch wieder vorbei. Und die gehen dann wirklich stärker daraus hervor. Gerade in den Solo-Bondage-Kursen sind Teilnehmerinnen so dankbar. Sie begreifen, dass sie in der Lage sind, ihren eigenen Moment, ihr eigenes Leben zu erschaffen.“
Wenn nun eine gute Freundin von dir super interessant findest, was du da machst – aber überhaupt kein Vorwissen hat und nicht genau weiß, wie sie sich dem annähern soll: Was rätst du ihr?
„Erst mal bin ich beruhigt, dass sie mich fragt, weil ich sie sicher und langsam an das Thema heranführen kann. Ich würde ihr erst mal raten, sich mit Menschen aus der Szene zu connecten, die vom Bild her einen guten Eindruck auf sie machen. Es gibt bei JOYclub verschiedene Bildsprachen – Jeder hat einen anderen Sinn für Ästhetik und Schönheit. Sie sollte eine Vertrauensperson finden, mit der sie sich austauschen kann. Viele Leute aus der BDSM-Szene sind superlieb, gerade gegenüber Beginner*innen. Wer mag, kann sich auch erst einmal Livestreams oder Online-Kurse der Sex Education im JOYclub ansehen und so ein erstes Gefühl gewinnen.
Dann ist es wichtig, nichts zu überstürzen. Ich weiß, wenn da das Bedürfnis ist und die Neugier, dann möchte man das unbedingt ausprobieren. Aber wenn dein Bauchgefühl nicht zu 100 Prozent überzeugt ist bei einer Person – mach es nicht! Das ist der wichtigste Tipp, den ich geben kann. Denn wir sind in diesen Situationen viel zu offen, viel zu verletzlich, als dass man es mit irgendjemandem teilen sollte, bloß, weil sich gerade beide für Seile interessieren. So wie im normalen Leben ist eine gute Connection mit der Person, mit der du diese Erfahrung teilen möchtest, essenziell.“