Katarina Barley/SPD
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Katarina Barley: „Feministin zu sein ist jetzt nötiger denn je“

„Bildet Banden!“, ist der Appell von Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, für mehr Solidarität unter Frauen. Im Interview erzählt sie von ihrem Kampf für mehr Gleichberechtigung in Brüssel.

Katarina Barley erklärt, warum rechte, antifeministische Bewegungen so gefährlich sind und fordert wichtige Gesetzesänderungen. Und sie teilt, warum Scheitern zum Erfolg gehört, wie Kamala Harris den Feminismus stärken könnte und welche Rolle Elternschaft in der Politik spielen sollte.

Sie sind mit 26 Jahren in die SPD eingetreten und ihre Karriere begann, indem sie als Kandidatin zu einer Landratswahl angetreten sind, bei dem schon feststand, dass die SPD keine Chance haben würde. Diese Geschichte erzählen Sie insbesondere auch jungen Frauen – warum?

„Weil ich damals nicht angetreten bin, obwohl ich sie nicht gewinnen konnte, sondern weil ich sie nicht gewinnen konnte. Ich dachte, ich bin für Politik in der 1. Reihe nicht gemacht. Ich habe gerne vorbereitet, geplant, mitdiskutiert, hinter den Kulissen gewirkt. Aber in der 1. Reihe vor 200 Leuten zu reden, das war nicht so mein Ding. Dachte ich. Und ich glaube, dass es ganz vielen Frauen so geht wie mir damals. Viele Frauen leisten super Arbeit, wissen und können oft mehr als diejenigen, die sich in die 1. Reihe vordrängeln. Und das ist mein Punkt. Für mich war diese Wahl ein Ausprobieren, die Möglichkeit, mich zu testen. Man muss es einfach mal probieren, es einfach mal machen. Das versuche ich, jungen Frauen mitzugeben.“

Dieses „einfach mal machen“ prägt ihre Laufbahn. Sie haben große Ämter übernommen, Generalsekretärin beispielsweise. Oder zusätzlich zum Familienministerium noch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Das klingt fast unmöglich. Können Sie anderen Menschen ein bisschen von ihrer Zuversicht abgeben?

„Ich habe eine große Portion Urvertrauen, das hilft. Und manchmal darf man sich auch den Gedanken leisten: Wer würde den Job denn sonst machen? Was qualifiziert den oder die eigentlich? Gerade Frauen denken häufig: ,Ich bin nicht 100 Prozent sicher, dass ich es perfekt vom ersten Tag an machen kann, also lass ich es lieber.’ Und dann sieht man nachher, wer auf den Posten kommt und denkt: ,Okay, so gut hätte ich´s aber auch hingekriegt.’ Das ist vielen Frauen schon passiert. Wir müssen den eigenen Perfektionismus runterschrauben. Und was mir später sehr geholfen hat, war mein Mann, ein professioneller Sportcoach, der immer sagt: ,An Niederlagen wächst man anders, als wenn immer alles glatt geht.’ Die meisten Frauen versuchen, Niederlagen um jeden Preis zu vermeiden. Mich eingeschlossen. Dabei lernt man aus Niederlagen das, was man aus einem Gewinn nicht lernt. Wenn frau also davon überzeugt ist, den Job gut machen zu können und willens, dafür hart zu arbeiten, dann: Auf geht´s!“

Auf einer Skala von 1 bis 10: Was weit sind wir mit dem Feminismus heute?

„Wenn wir bedenken, wo wir hinwollen, sind wir bei einer 6 bis 7. Es geht mir nicht nur um das objektiv Erreichte, sondern es geht mir auch um die Mentalität, die dahinter liegt. Ein Beispiel: Wir Frauen schaffen es inzwischen in Vorstandsetagen. Aber es ist nicht selbstverständlich, und wir werden dort immer noch anders als Männer und viel kritischer beäugt. Das gehört für mich mit dazu.“

Könnte Kamala Harris aus der 6 bis 7 eine 8 machen?

„Sie könnte. Spannend ist, ob ihr jetzt das gleiche passiert wie Hillary Clinton. Da haben viele gesagt, irgendwas an ihr gefällt mir nicht. Das ist das, was vielen Frauen passiert. Man hat die Qualifikation, man hat die Umgangsformen, man hat die Sprachkenntnisse, man hat alles. Aber irgendwas stimmt angeblich nicht. Da ist man doch zu dies, zu das oder zu wenig dies und zu wenig das. Ich hoffe, Kamala Harris kommt da souverän durch. Ich finde es beeindruckend, wie sie es angeht und auch Frauenthemen in den Vordergrund stellt. Das kann gegen einen Mann wie Trump helfen.“

Sie haben Parallelen, sind beide Juristinnen und Feministinnen.

„Juristin zu sein schadet nie für einen politischen Job. Und Feministin zu sein, ist im Moment nötiger denn je, denn wir sehen ja diesen aggressiven Antifeminismus, der sich weltweit ausbreitet. Ich muss eine Sache dringend erwähnen, weil mir das unendlich wichtig ist und niemand das weiß: Es gibt eine weltweite rechte, religiös motivierte Bewegung, die sehr stark antifeministisch unterwegs ist und auch gegen Minderheiten aufstachelt. Die heißen ,World Congress of Families‘ in den USA, ,CitizensGo‘ in Spanien, ,Ordo Iuris‘ in Polen usw. Sie sind finanziell sehr gut aufgestellt, weil reiche, religiöse Fanatiker von Oligarchen in Russland bis zu den Evangelikalen in den USA dahinterstehen. Und sie wollen, dass nicht mehr der Staat die Regeln vorgibt, sondern die Familie und die Kirche. Es geht wirklich um eine gesamtgesellschaftliche Umstrukturierung. Vor allem in den USA sieht man schon die Auswirkungen, aber auch zum Beispiel im polnischen Abtreibungsgesetz. Das ,Gendergaga‘-Narrativ kommt auch von dieser Bewegung.“

Als Frauenministerin haben Sie schon Diskussionen über Lohnunterschiede geführt, den Gender Pay Gap gibt es 2024 immer noch. Woran hakt es?

„Daran, dass die Berufe, die typischerweise oder überwiegend von Frauen ausgeübt werden, anders gewertet werden als die, die eher von Männern bekleidet werden. Das ist der wichtigste Punkt. Jobs in der Dienstleistungsbranche oder in der Pflege beispielsweise. Manche dieser Berufe sind historisch betrachtet früher von Nonnen übernommen worden. Die haben das für Gotteslohn getan. Also unbezahlt. Diese Berufe genießen leider kein großes Ansehen. Ein Riesensprung zugunsten der Frauen fand in Deutschland statt, als der Mindestlohn eingeführt wurde. Warum? Weil diejenigen, die für 5,50 Euro damals in Bäckereien Brötchen verkauft haben, Frauen waren.“

Sie haben auf die Historie verwiesen. Ihre Großmutter war Lehrerin, und Ihr Großvater konnte ihr noch verbieten zu arbeiten, das war juristisch damals möglich. Sie sind Juristin. Welches Gesetz hat ihrer Ansicht nach die Gleichberechtigung am meisten gefördert?

„Mein Großvater konnte es nicht nur, er hat das auch getan. Dabei war er ein lieber, sanfter Mann. Ich habe das nie übereingekriegt. Dahinter stand wohl der Anspruch, seine Familie ernähren zu können. Es ging um das Image nach außen. Einer der wichtigsten juristischen Meilensteine fand im Familienrecht statt. Früher wurde, wer aus der Ehe ausbrach, „schuldig geschieden“ und blieb ohne Ansprüche, bezüglich der Kinder oder finanziell. Die Abschaffung dieses Schuldprinzips hat Frauen befreit. Weil sie nicht mehr in unglücklichen Beziehungen gefangen waren. Oder in Beziehungen, in denen der Mann ihr vorschreiben wollte, was sie zu tun und zu lassen hat. Sie hatten ab dann die Chance, zu gehen, wenn sie unglücklich waren und etwas anderes anfangen wollten mit ihrem Leben. Und stolz bin ich auf die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses. Das klingt nach einem Detail, aber die Quintessenz ist, dass Alleinerziehende, wo der andere Elternteil – in der Regel der Vater – nicht zahlte, den Vorschuss vom Jugendamt bekommt. Damit haben Alleinerziehende wieder Luft zum Atmen.“

Die Regierung diskutiert gerade Steuerklasse 4 für alle Paare. Die Hoffnung dahinter ist, die Frauenerwerbstätigkeit zu fördern. Ist das der erste Schritt zur Abschaffung vom Ehegattensplitting?

„Ich bin schon sehr lange dafür, dass jedenfalls für neu geschlossene Ehen dieses Modell nicht mehr angeboten wird. Weil es erstens auf Kosten der Allgemeinheit ein bestimmtes Modell zu leben privilegiert. Der Generaldirektor mindert seine individuelle Steuerschuld, indem seine Ehefrau weniger verdient. Warum soll das die alleinerziehende Krankenschwester mitbezahlen? Wenig einleuchtend. Und zweitens ist es natürlich so, dass das Ehegattensplitting nicht gerade zu mehr Berufstätigkeit einlädt. Man kann es den Frauen fast nicht verdenken, wenn sie sagen: ,Hey, das lohnt sich gar nicht.‘ Darüber hinaus werden Ansprüche auf Arbeitslosengeld gemessen nach dem Nettoeinkommen, warum eigentlich? Was ist das für eine absurde Regelung? Deshalb finde ich es richtig, dass jetzt Signale gesetzt werden.“

Sie haben zwei Söhne, welches Bild wollen Sie Ihnen vermitteln?

„Dass jeder Mensch völlig unabhängig vom Geschlecht seine Ziele verfolgen sollte. Die eigenen Leidenschaften ausleben und mutig und tatkräftig in die Welt gehen sollte. Das Geschlecht darf dabei einfach keine Rolle spielen, und das muss man in einer Partnerschaft auch hinkriegen.“

Gab es einen bestimmten Moment im Laufe Ihres Lebens, der ihre Sicht auf den Feminismus besonders geprägt hat?

„Das Aufwachsen in einem partnerschaftlich geprägten Elternhaus. Mit meiner Mutter, die immer viel gearbeitet hat, eine Zeit lang auch für pro familia. Mit Themen wie Schwangerschaftsabbrüchen etc. bin ich sozusagen groß geworden. Feminismus war für mich etwas Selbstverständliches. Meine Mutter hat mal einen Brief, der von der Schule an meinen Vater adressiert war, ungeöffnet zurückgeschickt. Sie hat das Adressfeld durchgestrichen und daneben geschrieben ,Das Kind hat auch eine Mutter‘.“

Sehr gut.

„Damit bin ich groß geworden. Aber Sie haben Recht, dass Elternschaft einen Unterschied macht. Als Referentin im Landtag Rheinland-Pfalz habe ich mal eine Gruppe Parlamentarier nach Rom begleitet, die Konsulin dort empfing uns. Ganz aparte Dame. Mit der sprach ich über Gleichberechtigung und sie meinte, Feminismus sein unnötig, sie hätte sich alles selbst erarbeitet und hat es auch geschafft. Da war ich so geistesgegenwärtig, zu fragen: Haben Sie denn Kinder? Nein, hatte sie nicht. Geschenkt. Respekt vor Ihren Leistungen aber sagen Sie anderen Frauen nicht, dass sie alles selbst in der Hand haben. Das gilt nämlich nicht für Mütter.“

Brauchen wir eine Elternquote in der Regierung?

„Ich bin keine Freundin von zu vielen Quoten, weil man die irgendwann alle nicht mehr übereinander bekommt. Aber die grundsätzliche Überlegung ist richtig. Ich sehe das bei Hubertus Heil, der zwei wunderbare Kinder hat, die relativ klein sind. Er bringt seine Perspektive immer wieder in die Diskussion ein. Sehr hilfreich. Es ist gut, heute mehr Männer zu haben, die Verantwortung in der Erziehung übernehmen.“

Mehr Männer in der Care Arbeit wären in jedem Fall gut. Wir haben zu wenig Kitaplätze und zu wenig Erzieher*innen. Das ist nichts Neues, alles alte Probleme. Warum benötigen Veränderungen so viel Zeit?

„Es geht um Wertschätzung, die sich gesellschaftlich und finanziell ausdrücken muss. Und leider ist der Lobbydruck ein anderer. Nicht umsonst hieß es kürzlich: Schade, dass Pflegekräfte oder Erzieherinnen keinen Trecker fahren. Was dann auf einmal ganz schnell geht, wenn man richtig Lärm macht und laut ist auf eine Art und Weise, die inhaltlich nicht zwingender ist als die Argumente von anderen Berufsgruppe.“

Wie sähe die weltpolitische Lage bei einer Parität in sämtlichen Entscheidungs- und Führungsebenen der Politik aus, wäre sie anders?

„Das ist die große Frage. Nur eine Frau an der Spitze zu haben, löst das Problem nicht. Auch Frauen sind sehr unterschiedlich. In Europa stehen an der Spitze der rechtsextremen Bewegung zum Teil Frauen, und die sind mit die gefährlichsten, weil sie die inhaltliche Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit mit einem Lächeln versehen und ihr so die Härte nehmen. Das geschieht sehr bewusst, dass die Brutalität mit einem weichen, manchmal mütterlichen, freundlichen Gesicht daherkommt. Ein großes Problem.
In der Entwicklungszusammenarbeit sieht man aber die Tendenz: Geht das Geld an Projekte, bei denen Frauen die Verantwortung tragen, dann kommt viel mehr raus für die Gesellschaft. Ist statistisch erwiesen. Weil Frauen damit Projekte für die Gemeinschaft fördern und solche, die allen helfen, sich weiterzuentwickeln. Während Männer häufig punktuell etwas machen – und sehr auf sich selbst fokussiert. Insofern täte es der Gesellschaft gut, wenn mehr Frauen an Bord wären.“

Sie haben die rechten Frauen erwähnt. Im neugewählten Europaparlament konnte die AfD die Zahl ihrer Mandate steigern. Erleben Sie als Vizepräsidentin schon eine Veränderung der Stimmung oder der Kommunikation in Brüssel?

„Oh ja, das war schon in der ersten Debatte spürbar. Wir hatten vorher zwei rechtsextreme Fraktionen, jetzt haben wir drei. Und die Dritte, da haben sich die zusammengetan, mit denen sonst wirklich überhaupt niemand mehr etwas zu tun haben wollte. Das sind die extremsten der Extremen, die Rechtsausleger der Rechtsausleger, und von denen hat eine Abgeordnete auf eine Art und Weise Ursula von der Leyen persönlich attackiert. Puh, da ist mir das Blut in den Adern gefroren. Auf solche Dinge müssen wir uns jetzt vermehrt einstellen.“

Wie tough reagieren Sie bei persönlichen Attacken?

„Viktor Orban hat mich mal neben Adolf Hitler in der Budapester Metro groß plakatieren lassen an den Haltestellen. Das war nicht schön, aber ich werde mich nicht einschüchtern lassen.

Über Angela Merkel hat man gesagt, unter ihr konnten die Frauen am Kabinettstisch zum ersten Mal ausreden. Was möchten Sie, dass über Sie gesagt wird?

„Sie hat Solidarität und Fairness gefördert. Mein Lieblingsspruch an die Frauen ist: „Bildet Banden!“ Seid wirklich solidarisch, auch fraktionsübergreifend. Es gibt da Grenzen, natürlich. Und wenn wir in der Öffentlichkeit auf Panels sitzen, sind wir nicht immer einer Meinung, aber wir gehen respektvoll miteinander um und sind fair.“

Spanien hat eine der weiblichsten Regierungen der Welt, und in der queeren Szene gilt Spanien als besonders tolerant. Sehen Sie da einen direkten Zusammenhang?

„Allerdings. Die Entwicklung von Spanien ist total interessant. Ich war 15 Jahre mit einem Spanier verheiratet. Als ich 1990 zum ersten Mal nach Spanien kam, wäre es noch undenkbar gewesen, dass sich jemand outet. Einem Freund von uns ging es so. Und heute ist es überhaupt kein Problem mehr. Das zeigt, dass auch in einem katholischen Land nicht alles gottgegeben bleiben muss. Irland ist ein weiteres gutes Beispiel. Dort gab es die beste Kampagne für Diversität, sie hatte den Slogan „Ask Grandma.“ Es gab ein Referendum, in dem es um Homosexualität und um Schwangerschaftsabbruch ging, und auf Postkarten und Flyern stand „Ask Grandma“. Also frag Oma, was sie davon hält. Und Oma hat gesagt: Ich möchte, dass meine Enkelkinder glücklich sind. Ganz egal, wen sie lieben. Das Referendum wurde gewonnen. Wichtig ist allgemein, dass die katholische Sexualmoral auf dem Rückzug ist, denn damit einher geht auch immer eine stärkere Position von Frauen.“

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