Foto einer Frau, die Sonnenbrille trägt und die Hand an die Lippen hält, nachdenklich wirkt. Im Hintergrund sieht man Bilder von Menschen, die von der Hamas am 7. Oktober getötet und verschleppt wurden.
Foto: IMAGO / ZUMA Press Wire

Angekommen, um zu bleiben? Wie der 7. Oktober mein Selbstverständnis als Frau, Mutter und Jüdin nachhaltig veränderte

Der 7.10.2023 war und ist eine Zäsur für Israel, den Nahen Osten und jüdisches Leben. Unsere Autorin Linda Rachel Erni ist Frau, Mutter und Jüdin und fühlt sich von vielen nichtjüdischen Feminist*innen im Stich gelassen. Bis heute befinden sich weibliche Geiseln in den Händen der Hamas und Antisemitismus ist allgegenwärtig – Rückhalt aus dem feministischen Umfeld fehlt. Wohin mit all der Wut und Enttäuschung?

Mit 40 sei man als Frau angekommen. Das höre und lese ich immer öfter, seitdem mein 40. Geburtstag näher rückt. Und selbst wenn man diese Erkenntnis als Küchenpsychologie abstempeln müsste, fühle ich mich angesprochen. Mein Wertekanon, mein Selbstwertgefühl und die Entscheidungen, die mein Mann und ich für die Erziehung unserer Tochter treffen, fühlen sich ehrlich, intuitiv und richtig an. Als Mutter und Frau bin ich daher so „angekommen“ wie nie zuvor. Auch wenn ich weiß, dass das Leben eine einzige Reise aus lernen und wachsen ist. Ein großer Teil meiner Identität jedoch, der mehr Arbeit beim Entfalten und Finden brauchte als die anderen, wurde am 7. Oktober 2023 um Meilen zurückgeworfen: ich, die Jüdin.

Das Massaker der Hamas war nicht nur eine Zäsur für Israels Existenzrecht und das Recht der Palästinenser*innen auf einen eigenen Staat. Die Stellvertreterkriege in den Sozialen Medien, innerhalb der feministischen Blase und in jeder Großstadt rund um den Globus teilen jüdisches Leben in der Diaspora in ein „davor“ und „danach“. Als Nachfahrin deutscher Juden, denen kurz vor dem sicheren Tod die Flucht ins Exil gelang, musste ich lange Zeit an (m)einem Selbstverständnis als jüdische Deutsche arbeiten. Meine Urgroßeltern kehrten nach der Shoa aus purem Heimweh in ihre deutsche Heimat zurück. Mit welchem Recht hätte ich mich daher in Deutschland nicht zugehörig fühlen dürfen? Trotz des Antisemitismus von rechts und, leider, von links; trotz des Israelhasses und trotz eines Erstarken der AfD und der Wahlergebnisse, die während der Europawahl am 9. Juni 2024 wieder einmal bewiesen haben, wie fragil unsere Demokratie ist.

Angekommen, um zu bleiben

Ich hatte das große Glück, als Jüdin praktisch immer von Menschen umgeben zu sein, die mich in meinem innerlichen Ankommen bestärkten. Denn, und hiermit können sich wahrscheinlich die meisten Angehörigen einer marginalisierten Gruppe identifizieren: In Deutschland geboren zu sein, heißt für Jüdinnen und Juden nicht, sich hier zu Hause zu fühlen. Wenn man dieses Gefühl des Sich-zuhause-fühlens in Deutschland erleben möchte, muss man es erlernen. Über Ausgrenzung, Diskriminierung und sämtliches emotionales Gepäck hinweg, das in jüdischer Literatur und jüdischen Publikationen oft als „gepackte Koffer“ bezeichnet wird.

„Ein Leben im Hier und Jetzt ist nur wenigen Menschen vorbehalten. Jüdisches Leben in Deutschland ist immer auch ein Leben wie ein Bedingungssatz: Wenn …, dann …“

Ein Leben im Hier und Jetzt ist nur wenigen Menschen vorbehalten. Jüdisches Leben in Deutschland ist immer auch ein Leben wie ein Bedingungssatz: Wenn …, dann …: „Wenn die Nazis wieder an die Macht kommen, dann …“ ist ein Gedankenspiel, mit dem auch ich groß geworden bin. Als emanzipierte Frau und Jüdin habe ich mich jedoch immer bewusst von dieser Lebensart distanziert und Menschen bemitleidet, die es nicht geschafft haben, anzukommen. Wie kann man ein Leben aus dem Koffer und im Konjunktiv führen? Was wäre, wenn? Wo würden wir hingehen? Ich wollte nicht unter Fragen leben, sondern mit Antworten. Und für mich lautete die wichtigste Antwort: Ich bin angekommen, um zu bleiben.

Den Koffer als Option zu sehen, fühlt sich wie Selbstbetrug an

Nach Angaben der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus haben sich antisemitische Vorfälle alleine in NRW im Jahr 2023 mehr als verdoppelt. 65 Prozent der insgesamt 664 antisemitischen Vorfälle seien seit dem 7. Oktober 2023 erfasst worden. Und das sind nur die Attacken, die gemeldet wurden. Aber eigentlich brauche ich keine Statistik, um diesen „Trend“ bestätigen zu können. Die Hamas hat am 7. Oktober ein seit der Shoa beispielloses Massaker begangen, das insofern einzigartig ist, als es zahlreiche von der Terrororganisation veröffentlichte Videos und Fotos gibt – Material, das bewusst gezeigt wurde. Psychologische Kriegsführung und sexualisierte Gewalt, die israelisches und jüdisches Leben außerhalb Israels in die Knie zwingen sollten. Und das hat die Hamas erreicht: auch, was ihre Hass-Kampagne betrifft. Jüdinnen und Juden haben ihre seit jeher griffbereiten Koffer wieder im Auge und überlegen, wo es hingehen soll. Und ich? Ich muss akzeptieren, dass auch mein mentaler Koffer eine Option sein muss. Es fühlt sich wie Selbstbetrug an.

Wieso können wir uns als Gesellschaft nicht darauf einigen, dass mehrere Wahrheiten gleichzeitig nebeneinander existieren können? Israels rechtsnationale Regierung ist ein Hindernis für den Frieden zwischen Israel und den Palästinenser*innen. Die Hamas ist eine Terrororganisation, die jüdisches Leben (und übrigens auch LGBTQIA+ und alles, was „westlich“ ist) auslöschen möchte. Palästinenser*innen verdienen einen eigenen Staat, in Koexistenz zu Israel. Der Krieg muss enden, alle Geiseln müssen befreit werden.

Stattdessen müssen wir alle live verfolgen, wie der 7. Oktober zum Ventil für lange gehegten und gepflegten Israel- und Judenhass wurde. Jüdische Studierende werden tyrannisiert und ausgegrenzt, jüdische Geschäfte – auch in Deutschland – schließen, es wird immer schwieriger für Jüdinnen und Juden, sich offen erkennbar zu zeigen. Und das nicht nur in Gegenwart von gewaltbereiten Rechtsextremen und Islamist*innen. Kultur, Mode, Musik, Wissenschaft, Soziale Medien – die Safer Spaces für Menschen wie mich schrumpfen auf ein Minimum und führen dazu, dass wir uns innerlich ghettoisieren (müssen).

Me Too, Unless You’re A Jew, Believe All (Israeli) Women

Der Kriegsschauplatz auf Instagram und TikTok kommt natürlich nicht ohne plakative Aussagen aus. Als Gegenreaktion auf die ohrenbetäubende Stille der Feminist*innen und die auch mich fassungslos machende Leugnung der von der Hamas ausgeübten Gewalt gegen israelische Frauen, wurden jüdische Aktivist*innen immer lauter. Während ich mich anfangs zurückhielt, was das Teilen dieser Accounts angeht, bin ich heute wesentlich forscher. Aus Wut und Enttäuschung über den fehlenden Rückhalt von der Gemeinschaft des intersektionalen Feminismus. Das betrifft auch viele Frauen, die ich innerhalb der letzten 15 Jahre in Berlin kennenlernte. Frauen, von denen ich immer glaubte, dass sie für die körperliche Unversehrtheit aller Frauen kämpfen würden und die Ziele einer islamistischen Terrororganisation erkennen, wenn sie ihnen vor die Nase gehalten werden.

Dabei sollte der Kampf gegen antidemokratische Werte, wie sie die AfD und ihre rechtsradikalen Bruderparteien in Europa vertreten, und gegen frauenfeindlichen Extremismus Frauen miteinander verbünden – nicht entzweien. Solidarität mit Frauen und Kindern in Gaza kann neben uneingeschränkter Solidarität mit weiblichen israelischen Geiseln existieren. Nein, sie muss. Ich möchte hier keine moralischen Abstriche mehr machen. In unserer nach wie vor von Männern dominierten Welt brauchen wir Frauen Allys – auch jüdische Frauen. Und diese vermisse ich mehr denn je.

Wenn die Empathie unter Müttern fehlt, ist es an der Zeit, die Koffer zu packen

In gewisser Weise hatte ich mich damit abgefunden und meinen Rückhalt in einer Gemeinschaft gefunden, in der ich mich weder als Aktivistin noch als Jüdin identifizieren muss: den Müttern. Unter Müttern fühle ich mich trotz der Oktobermüdigkeit verstanden und gleichgesinnt. Unsere Kinder nehmen so viel Raum ein, dass wir kaum Zeit haben, über andere Dinge wie finanzielle Unsicherheit und Antisemitismus nachzudenken. Unter uns gibt es keine Koffer. Ich kann ich sein, mit all meinen Facetten, Sorgen und Hoffnungen. Dass es auch hier Ausnahmen gibt, möchte ich anhand einer kurzen Anekdote erzählen, die mich seitdem beschäftigt:

Meine Tochter schaukelt und ich frage sie, ob sie den Mond bereits sehen kann. Das ist unser Spiel. Raketenstart, Düsenantrieb, den Mond suchen. Ihr Lachen ist hell und erfüllt mein Herz wie kein anderer Ton dieser Welt. Als sie nach den Sternen und der Milchstraße greifen möchte, dabei ihre kleinen Hände von der Halterung der Babyschaukel löst, möchte ich mit ihr reisen. Einfach, um in diesem Moment, in dieser Zeit, nicht zu sein, wo ich bin. Mein Körper ist ein einziger Muskelkater. Trauer, Angst und Mitgefühl als Dauerzustand. Und mittendrin dieses Kind, dem ich die Welt zu Füßen legen möchte und nicht mehr weiß, wo und wie das überhaupt möglich ist. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich entwurzelt. Neben uns steht eine Mutter aus unserer Nachbarschaft, ihre Tochter spielt im Sandkasten. Wir haben uns schon viele Male unterhalten und über das Mutterdasein ausgetauscht. Sie weiß auch, dass ich Jüdin bin. „Hallo, wie geht’s euch?“, möchte sie wissen. Ich seufze, denke, dass ich mich nicht verstellen muss, und antworte: „Eigentlich ganz gut. Aber, du weißt ja, die ganze Situation ist schon sehr belastend. Ich mache mir ehrlicherweise Sorgen um die Zukunft meiner Tochter.“ Regungslos steht sie da, schaut mich nicht an, und entgegnet mit Dingen wie „Springerpresse, ungenaue Zahlen, Antimuslimismus und Kolonialismus“.

Da ich mich schnell aus dem Gespräch dissoziiert hatte, kann ich ihr Gesagtes nicht realitätsgetreu wiedergeben. Was bei mir bleibt, ist die Erkenntnis, dass kein Raum wirklich sicher ist, wenn ich meine gesamte Identität preisgebe. Wenn ich mich nicht nur als Frau und Mutter, sondern auch als Jüdin verletzlich und angreifbar zeige. Und da ist er wieder, der Koffer.

„Nimmst du mich mit, wenn die Nazis gewinnen?“

Mein Mann ist Schweizer. Und die Schweiz ist unter Jüdinnen und Juden ein wahres Trigger-Thema – nicht (nur) aufgrund des Nazi-Raubgolds, sondern vor allem wegen der Tatsache, dass sie am 13. August 1942 die Grenzen für Verfolgte schloss. „Jackpot!“, dachte ich mir, an den musst du dich halten. „Nimmst du mich mit, wenn die Nazis an die Macht kommen?“, fragte ich ihn lachend bei unserem zweiten Date. Er lächelte irritiert zurück und sagte: „Äh, na klar!“. Das war einige Jahre vor dem Erstarken der AfD, vor ihren Wahlerfolgen im gesamten deutschen Osten, vor dem 7. Oktober und dem aufflammenden Antisemitismus. Mein Koffer lag weiterhin verstaubt an einem fernen Ort in meiner Seele – nicht gepackt und fest verschlossen.

Heute sind wir verheiratet, haben ein gemeinsames Kind – und er ist jetzt Ehemann und Vater von jüdischen Frauen. „Übrigens“, sagte er vor Kurzem beim Kochen, „ich nehme euch wirklich mit!“. Und das ist gut zu wissen – auch wenn das Hier und Jetzt noch halbwegs erträglich ist.

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