Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie hat vor einigen Tage schon eindrücklich darauf hingewiesen: Bücher bilden Realität ab. Aber wenn wir nur Geschichten von Autor*innen lesen, die uns ähnlich sind, erhalten wir keinen Einblick in die Vielfalt unterschiedlicher Realitäten.
„Kunst kann uns Politik erläutern, Kunst kann unsere Politik humanisieren“
Es werden immer mehr Bücher geschrieben. Es werden immer weniger Bücher gekauft und gelesen. Bedeutet das eine Krise für den Buchmarkt und für die Frankfurter Buchmesse, die am 14. Oktober zu Ende ging? Es bedeutet zumindest ein Umdenken, welchen Wert Literatur auch heute noch für uns hat, denn nach wie vor hat sie die Kraft, Realität abzubilden, zu erläutern und uns begreiflich zu machen. Deswegen ist es an der Zeit, unsere Bücherkäufe diverser zu gestalten, andere Realitäten als die eigenen oder ähnliche zu erfahren, über sie zu lesen. Das heißt nicht, dass ab jetzt nur noch autobiografische Texte gelesen werden sollten. Nein, oft fließen persönliche Erfahrungen, Hintergründe oder Gefühle der Autor*innen auch in ihre Fiktion.
Bei der Eröffnung wies die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie eindrücklich darauf hin, welche Verantwortung Autor*innen tragen, welche Kraft in der Literatur liegt und wie man diese umsetzen kann. „Wir brauchen diverse Stimmen, denen wir zuhören – nicht, weil das politisch korrekt wäre, sondern weil wir nicht denken können, dass es repräsentativ sei, wenn wir nur einem kleinen Teil zu hören.“
Die Schriftstellerin stellte eine Geschichte aus ihrer Kindheit an den Anfang ihrer Rede: Ihre Kindheit sei für sie eigentlich immer mit schönen Erinnerungen besetzt gewesen. Als Kind hatte sie mit ihrer Familie immer sonntags den Gottesdienst in der St. Peter’s Chapel auf dem Universitätsgelände der nigerianischen Stadt Nsukka besucht. Auch nachdem sie in den USA ihr zweites Zuhause gefunden hatte, erzählte sie, habe sie sich daran gerne erinnert. Aber als sie viele Jahre später wieder den Ort ihrer Kindheit besuchen wollte, und mittlerweile ein anderer Priester im Amt war, habe sie eine Veränderung erlebt, die sie für weltweit repräsentativ hält: Überall auf der Welt werde über Frauen bestimmt und geurteilt und auch in Büchern müsse die weibliche Figur gefallen.
Vor der Kirche wurde ihr der Einlass verwehrt. Die Ärmel ihres T–Shirts seien zu kurz, hieß es. Als sie sich weigerte, eine Stola umzulegen, und dennoch die Kirche betrat, sei sie öffentlich als Saboteurin ausgerufen worden, erzählte Adichie weiter. Und damit nicht genug: Für ein Magazin habe sie später einen Artikel über ihre Erfahrung und ihre Empörung darüber geschrieben. Die Rückmeldungen auf diesen Text fasste Adichie mit diesen beiden Worten zusammen: Shut up (Halt den Mund). Wie so oft griff auch hier der Mechanismus: Wer sexistische Erfahrungen gemacht hat und auf sexistische Strukturen aufmerksam macht, bekommt ein Echo des Hasses und wird niedergemacht.
Wir glauben das, was wir selbst erfahren haben
Für Adichie war die geschilderte Erfahrung kein Einzelfall. In ihrer Rede erzählte sie von einer weiteren Situation: „Ich war eine Igbo und ich war Christin. In Amerika wurde ich eine Schwarze.“ Zum ersten Mal machte sie also wegen ihrer Hautfarbe Rassismuserfahrungen. Wieder beschrieb sie das Erlebte, dieses Mal in einem Prosatext. Wieder erfuhr sie Abwehr. Eine Redakteurin sagte ihr, dass die beschriebene Szene komplett unrealistisch wäre. Dass so etwas nie im Leben passieren würde.
Wir glauben das, was wir selbst erfahren haben. Und das ist unser persönliches Framing. Deswegen brauchen wir mehr Diversität in den Büchern, die wir lesen. Deswegen müssen Männer beginnen, Bücher von Frauen zu lesen. Und jede*r einzelne Bücher von Autor*innen anderer Klassen, anderer Religionen, anderer Herkünfte. Denn: Wir kennen nur unsere eigene Realität. Aber das macht sie nicht zur einzigen erfahrbaren. Bücher und ihre Geschichten bieten allerdings die Möglichkeit, eben diese fremden Wirklichkeiten aufzuzeigen und dafür sensibler zu machen. Auch im eigenen Alltag, wie Adichie betonte: „Kunst kann uns Politik erläutern, Kunst kann unsere Politik humanisieren.“ Denn sie macht uns auf Missstände aufmerksam.
Adichie machte dies an einer Anekdote aus einem ihrer Seminare zu Kreativem Schreiben deutlich. Eine ihrer Studentinnen brachte einen lyrischen, sehr abstrakten Text mit, woraufhin eine Diskussion über die Definition von Nützlichkeit der Literatur begann. Ein Thema, auf das sie auch noch Jahre später zurückblickt. Was bedeutet nützlich? Endet es im Konkreten? Hat Literatur nur dann ihren Wert, wenn sie Dinge erklärt, beschreibt und aufzeigt? Der Mensch ist kein durch und durch logisches Wesen. Menschen sind emotional. Und wenn wir Emotionen anderer verstehen, dann hat das sehr viel Wert für uns und gesamtgesellschaftlich. Deswegen sollte die Nützlichkeit von Literatur eben auch alle Ebenen, die uns zu Menschen machen, erfassen. „Wenn wir lesen, dann sollen wir an Eleganz, Schönheit und Liebe, aber auch an Schmerz und Sorgen erinnert werden. All das ist nützlich“, sagte Adichie in ihrer Rede. Literatur lehrt uns so vieles. Wir brauchen sie, um zeitgenössische Themen zu verstehen, uns zu trösten und eben zu lernen. Darin liegt auch in Zukunft die Aufgabe von Autor*innen – und von Leser*innen.
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