Eine Mutter sollte für ihr Kind da sein, vor allem wenn es gerade einmal vier Jahre alt ist. Doch was ist, wenn sie stattdessen 600 Kilometer entfernt wohnt? Wie sich eine Fernbeziehung mit dem eigenen Kind anfühlt.
Allein Erziehend
Vor einer halben Stunde bist du wieder gefahren. Ich bin in dem großen Bürogebäude
verschwunden, in dem ich arbeite, du hast dich mit deinem Vater ins Auto gesetzt und bist losgefahren, nach München. Wir sehen uns in fünf Tagen wieder, solange werde ich in Berlin arbeiten und wohnen – das ist meine Version von Normalität. Vor acht Monaten bin ich für eine Ausbildung nach Berlin gezogen. Seit acht Monaten sehe ich meinen vierjährigen Sohn nur noch am Wochenende.
Am Anfang habe ich viel Wut verspürt. Wahrscheinlich, weil ich mich als Opfer gesehen habe, sehen wollte. Das macht es nämlich viel leichter, sich zu beklagen. Mein Ex-Freund wollte nicht, dass unser Sohn mit mir nach Berlin zieht. Wir beide haben das sogenannte Aufenthaltsbestimmungsrecht, ohne einen Rechtsstreit hätte ich meinen Sohn nicht mit mir mitnehmen können. Auf meinen Ex wütend zu sein war viel einfacher als mir vorzuhalten, dass ich es ja war, die gegangen ist. Jetzt wohne ich in einer Wohnung, die für mich alleine eigentlich viel zu groß ist, mit einer Spielecke, die mich in guten Momenten aufheitert, in schlechteren hingegen an einen Altar erinnert, wie ihn manche Eltern für ihre verstorbenen Kindern errichten. Plötzlich flattern Unterhaltsforderungen ins
Haus. Und die ganze Zeit denke ich mir: Das ist so ungerecht, ich wollte doch hier mit ihm leben, ich will das alles so doch gar nicht. Es hat ein wenig gedauert, aus der Opferrolle rauszuklettern. Doch oft genug ist man für andere der Täter, die, die das eigene Kind zurückgelassen, alleine gelassen hat. Ich bin immer noch ziemlich sicher: Mein Lebensmodell würde bei einem Mann ganz anders aufgenommen werden.
Um 19 Uhr habe ich Feierabend. Ich setze mich in mein Auto, sechs Stunden Fahrt habe ich vor mir. Du bist schon bei meinem Freund, ihr spielt gerade Playmobil. Wenn ich Glück habe, bekomme ich noch sechs Stunden Schlaf, bevor du morgens um halb sieben wieder aufstehen willst. Ich bin erschöpft.
Trauer
„Ich will, dass du und Papa wieder zusammen wohnt!“, „Warum musst du in Berlin
wohnen?“, „Warum muss ich jetzt schon wieder nach München fahren?“ Das sind die Momente, in denen sich alles in mir zusammenzieht und ich mir denke: So soll das doch nicht sein. Zu den Problemen, die Kinder haben, wenn ihre Eltern sich trennen, kommt bei dir nur wenig zeitversetzt das Problem hinzu, dass du einen Wochen-Papa und eine Wochenend-Mama hast. Unter der Woche geht dein Leben so weiter wie vorher: Du gehst in den Kindergarten, spielst danach mit Freunden, liest abends noch etwas mit deinem Papa, gehst ins Bett. In all der Normalität versuche ich, meinen Platz zu finden. Abends skypen wir oft. Es gibt gute Abende, an denen wir beide vor dem Laptop sitzen,
zeichnen und ich dir Bücher vorlese. Dann versuchst du, durch den Bildschirm zu
kriechen und regst dich auf, warum so was denn noch nicht geht. Es gibt
schlechte Abende, wenn du nicht mit mir reden magst und einfach den Laptop
zuklappst. Die schlimmste Woche war für mich, als du erst drei Tage keine Lust
hattest, mit mir zu skypen und dann, als du dich doch dazu überreden lassen
konntest, erst unmotiviert vor dem Computer saßt und dann gerufen hast „Papa, ich mag nicht mehr skypen.“ Wenn ich dann am Wochenende in München bin, haben wir nicht einmal 48 Stunden zusammen. Ich will jede Minute mit dir auskosten – und kann mich doch oft nicht ganz darauf einlassen. Weil es zu wenig und zu viel zugleich ist.
Deswegen tut es auch weh, wenn wir uns streiten müssen. Weil ich doch nicht die wenige Zeit, die wir zusammen haben, mit Streiten verbringen will. Letztens hast du ein
Zehnerpack Briefmarken in dein Malbuch geklebt. Als du geweint hast, weil ich
mit dir geschimpft habe, hätte ich mich ohrfeigen können. Aber ich kann dir
nicht alle negativen Emotionen ersparen, nur weil wir uns jetzt weniger sehen,
ich kann dich jetzt nicht in Watte packen, nur weil ich mich unserer wenigen
Zeit zusammen nicht unbeliebt machen will. Es geht nicht um Beliebtsein. „Dann komm ich dich eben nie wieder in Berlin besuchen!“, wirfst du mir in solchen Momenten regelmäßig an den Kopf. Ich weiß, dass du deinem Vater genau dasselbe um die Ohren haust. Das beruhigt mich irgendwie, traurig ist es trotzdem. Noch trauriger ist nur, dass man sich irgendwann auch daran gewöhnt.
Du hast vier Kilo zugenommen. Bist zwei Kleidergrößen gewachsen. Hast schon zwei Mal neue Schuhe bekommen, weil dir die alten zu klein geworden sind. Du hattest mal lange Locken, mal sahen deine Haare aus wie bei einem Hooligan. Du sagst, du willst jetzt keine Tiere mehr essen, weil du das gemein findest. Oder zumindest nur noch ab und zu. Alles, seitdem ich weg bin.
Angst
Ich kokettiere häufiger mal damit, dass ich doch eine Rabenmutter sei, scherzhaft. Angeblich tut man das ja, um anderen vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen und zu sagen: Eigentlich bin ich das gar nicht. Hoffentlich bin ich sogar das
Gegenteil. So wie Schlanke sagen, sie seien dick, um von anderen zu hören, dass
sie es gar nicht sind. Und doch, die Angst ist da. Angst, dass wir uns
entfremden, dass ich dir nicht mehr so wichtig bin wie vorher. Angst, zu viel
zu verpassen. Die Zeit rennt. Was ist, wenn ich in deinen wichtigsten Jahren
fehle? Gibt es das überhaupt, „wichtigste Jahre“? Was ist, wenn ich
nicht genügend für dich da sein kann? Du hast ohne mich Fahrradfahren (ohne
Stützräder!) gelernt, du weinst jetzt nicht mehr, wenn man dich mit ins
Schwimmbad nimmt. Die großen Jungs im Kindergarten finden dich nicht mehr
uncool, sondern spielen zusammen mit dir.
Und ich bin bei all dem nicht dabei. Ich frage mich, was ich dir mit meiner Entscheidung
antue. Du bist ein Spielball der Entscheidungen von deinem Vater und mir, du
kannst dich noch nicht wehren. Und gleichzeitig will ich nicht überdramatisieren. Wer weiß, vielleicht hast du dich schon längst an all das gewöhnt, an das Pendeln, das Skypen, die begrenzte Zeit. Ich wüsste gerne, was in deinem Kopf vorgeht.
Berlin ist für dich eine kleine Welt. Sie besteht aus dem Späti um die Ecke, wo wir immer Capri Sonne und saure Apfelringe kaufen, aus meiner Arbeit, wo man so toll Paternoster fahren kann und ist der Ort, wo man sich nicht auf Rolltreppen setzen sollte, weil da ziemlich sicher mal irgendwann irgendjemand raufgekotzt hat. Für dich ist Berlin auch dein Zuhause, weil ich da bin. Für mich ist es das nicht, weil du nicht da bist.
Freude
„Du musst auch die Zeit in Berlin genießen!“, sagen mir Freunde immer wieder. „Es
bringt dir doch nichts, dann Trübsal zu blasen!“ Und ja, das stimmt
natürlich. Aber vom niedergeschlagenen Vermissen zur Bereitschaft, sich im Hier
und Jetzt auf etwas einzulassen, ist es ein weiter Weg. Anfangs hat es gar
nicht funktioniert. Und wenn doch, hatte ich fast ein schlechtes Gewissen,
trotz all der Probleme noch genießen zu können. Irgendwie pathetisch. Als Mutter,
gerade in einer Mama-Papa-Kind-Familie, kann man ja ziemlich schnell verlernen,
dass man mehr ist als nur ein Teil eines Ganzen. Sondern selbst auch noch ein
Ganzes ist. Zumindest dafür war diese Zeit jetzt schon gut. Und auch das, was
selbstverständlich geworden war, ist jetzt wieder etwas Besonderes. Ich freue
mich über den Alltag mit dir, mit dir in den Supermarkt zu gehen, zu Hause zu
kochen, abends einen Film zu schauen. Nichts anderes möchte ich.
Letztendlich habe ich das Gefühl, dass ich mich gar nicht beschweren darf, immerhin habe ich es mir so ausgesucht. Ich bin umgezogen, ich habe diese Ausbildung angefangen. Und doch fühle ich mich oft als Opfer meiner
selbst, weil ich denke, dass ich keine andere Wahl hatte. Eine 26-Jährige mit
einem Bachelor in Philosophie, davor einen Studiengang abgebrochen, davor ein
eher mäßiges Abi. Und dann auch noch ein Kind. Was hätte aus mir schon werden
können? Aber die Wahrheit ist: Ich wollte es einfach. Ich wollte diesen neuen
Job und ich will ihn auch immer noch. Und so oft ich zu Hause deprimiert auf
dem Sofa lag und mir gewünscht habe, ich wäre eine bessere Mutter und wäre
jetzt bei dir: An keinem Tag hätte ich das alles hier hinschmeißen wollen. Ich
habe viel über „Regretting Motherhood“ gelesen und mich gefragt, ob
ich wohl auch dazu gehöre. Weil ich mich so verhalte, wie ich mich verhalte.
Aber ich bereue das alles nicht, dich nicht, den Job nicht. Das mag verdammt
egoistisch sein. Ohne ein aber dahinter. Noch egoistischer wäre es wohl nur noch,
das zu leugnen und mich in ein besseres Licht stellen zu wollen. Die Mutter,
die ihrem Sohn etwas bieten will und deswegen ihre Karriere vorantreibt. Was
für ein Schwachsinn. Mit meiner Anwesenheit würde ich dir viel mehr bieten. In
vier Monaten ziehe ich wieder zurück nach München, dort geht meine Ausbildung
weiter. Ich will die Zeit nicht rückgängig machen. Ich will einfach nur wieder
eine andere Form von Normalität.
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