Wie findet man als junge Frau, die zwischen der Enge der deutschen Gesellschaft und ihrer kurdischen Wurzeln aufwächst, seinen eigenen Weg? Karosh Taha hat ein Buch darüber geschrieben. Ein Interview.
„Wir müssen gar nicht beschließen über ,starke Frauen’ zu schreiben, sondern schreiben einfach über die Frauen, die uns selbst begegnen.”
Sanaa ist 22, als Kurdin im Nordirak geboren, lebt sie seit ihrer Kindheit mit ihrer Familie im Ruhrgebiet. Ihre Mutter ist depressiv und spricht kaum, genauso wie Sanaas Vater. Sanaa fühlt sich für ihre Eltern, ihre kleine Schwester und ihre Familie verantwortlich, gleichzeitig will sie frei sein. Gemeinsam mit ihr kämpft man als Leser*in um die Luft zu Atmen. Die Autorin Karosh Taha hat mit „Beschreibung einer Krabbenwanderung ” eine wortgewaltigen Erzählung voller intensiver Bilder geschrieben. Sanaa ist eine unkonventionelle Heldin, die eine Geschichte erzählt, die sehr viel über unsere Gesellschaft offenlegt und eine Perspektive einnimmt, die in der deutschen Literatur bisher viel zu oft gefehlt hat: die Perspektive von jungen Menschen, deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind, die selbst in Deutschland aufgewachsen sind und nun oft im Dazwischen leben.
Wir haben mit Karosh Taha, die eigentlich Lehrerin an einer Schule im Ruhrgebiet ist, über ihre Protagonistin, deren Konflikte als junge Frau und neue deutsche Perspektiven gesprochen.
In „Beschreibung einer Krabbenwanderung” begleiten die Leser*innen die 22-jährige Deutsch-Kurdin Sanaa durch ihren Alltag zwischen Realität und Träumen. Wer ist Sanaa? Und was ist ihre Realität?
„Sanaa ist für mich eine kluge, reflektierte, junge Frau, die versucht sowohl die Konflikte innerhalb ihrer Familie als auch die, die ihr außerhalb davon begegnen, so zu lösen, dass sie weder eine andere Person, noch sich selbst dabei verletzt. Nichtsdestotrotz begegnen ihr immer wieder Menschen – insbesondere aus ihrer Familie, und da vor allem die Tante – die ihr ihren Weg erschweren. Der Konflikt zwischen Sanna und ihrer Tante hat viel damit zu tun, welche Vorstellungen die Tante von dem Leben einer Frau hat und welche Sanaa.”
Warum hast du ausgerechnet ihre Geschichte erzählt?
„Ich wollte eigentlich über ihre Mutter schreiben. Ursprünglich hat mich interessiert, was mit Eltern passiert, wenn eine Familie in einem, für sie fremden Land lebt, in dem sich die Kinder auskennen, wissen, welche Regeln es gibt und wie man sich zu verhalten hat, und die Eltern das nicht wissen, weil ihnen zum Beispiel die Sprache fehlt.”
Eine Situation, die du selbst kennst?
„Ja. Als wir, nach langer Zeit in Deutschland, meine Familie im Irak besucht haben, habe ich das erste Mal gesehen, mit welcher Selbstverständlichkeit meine Eltern sich in dieser Gesellschaft bewegen. Meine Geschwister und ich mussten sie plötzlich nicht mehr begleiten, sie waren unabhängige Menschen, in dieser Gesellschaft. In Deutschland herrscht bei dieser älteren Generation aber ganz viel Unsicherheit vor, eben, weil sie die Regeln nicht kennen und ständig Angst haben, irgendetwas falsch zu machen. Und dadurch eigentlich ein Stück weit zu Kindern werden. Das ist eine traurige Dynamik, weil es ja umgekehrt sein sollte: Kinder brauchen Schutz und Sicherheit und die Eltern bieten diese Dinge. In der deutschen Gesellschaft kehrt sich dieses Verhältnis um. Wenn sie aber zuhause sind, sind die Eltern wieder Eltern. Und die Kinder sehen dann beide Seiten und können das nicht richtig miteinander vereinen. Daraus entstehen viele Konflikte. Aus literarischer Sicht ist diese Perspektive für mich allerdings gescheitert. Ich habe die Stimme der Mutter einfach nicht gefunden und mich dann für Sanaas Stimme entschieden.”
„Sanaa hat diese leise Hoffnung, dass ihre Familie irgendwann doch glücklich werden könnte.”
Ein zentrales Gefühl in Sanaas Leben scheint „Enge” zu sein. Immer wieder ringt sie quasi um die Luft zum Atmen, um ihre Freiheit. Warum gibt sie nicht auf
„Durch ihren Freund Adnan sieht Sanaa, dass es mit einer Familie auch einfach schön und unbeschwert sein kann. Und obwohl sie versucht, diese Möglichkeit für sich abzulehnen, weil sie glaubt, dass das in ihrer Familien-Realität gar nicht wahr werden kann, hat sie dennoch diese leise Hoffnung, dass ihre Familie irgendwann doch glücklich werden könnte. Sie versucht auf ihre eigene Art, ihre Schwester und ihre Mutter zu unterstützen. Ich glaube, diese Liebe, zu der Schwester und der Mutter einerseits, andererseits aber auch ihre Liebe zu sich selbst, halten sie davon ab, aufzugeben und sich zu fügen. Sie ist sich bewusst, dass sie sich gewisse Freiheiten erkämpfen muss, weil es sich lohnt. Und wahrscheinlich ähnelt sie auch doch mehr, als man erst einmal sieht, ihrem Vater, der sich ja auch den Regeln seiner Mutter widersetzt hat und nach Europa gegangen ist. Wie er ist sie rast- und ruhelos und möchte an einem Ziel ankommen, auch wenn sie nicht richtig weiß, was dieses Ziel ist.”
Du hast die „starken Frauen” in deinem Buch bereits angesprochen. War es eine bewusste Entscheidung, die Männer eher in den Hintergrund treten zu lassen?
„Ich habe nicht die bewusste Entscheidung getroffen: Ich schreibe ein Buch über ,starke Frauen.’ Das hat sich einfach ergeben. Ich glaube, das ist die weibliche Wirklichkeit. Ich muss mich nicht bewusst dazu entscheiden, denn in meiner Realität gibt es diese Frauen ja auch. Ich will ein Spektrum der Frauenfiguren abbilden, die es in der Realität gibt. Da gibt es etwas ,Schwächere’, die sich alleine nicht durchsetzen können, es aber schaffen, wenn man sie unterstützt. Dann gibt es welche, die mit einer Selbstverständlichkeit Freiheit, Liebe oder Glück für sich einfordern. Und dann gibt es solche, die von der Gesellschaft so vereinnahmt werden, dass sie diese Möglichkeiten gar nicht sehen. Ich glaube, vielen Autorinnen geht es wie mir, wir müssen gar nicht bewusst beschließen über ,starke Frauen’ zu schreiben, sondern schreiben einfach über die Frauen, die uns selbst begegnen.”
„Ich habe die Befürchtung, sobald Frauen in diesem patriarchalen System selbst Macht haben, wollen sie diese auch nicht hergeben oder das System verändern. Auch sie missbrauchen ihre Macht.”
In deinem Buch sind es aber auch die Frauen, die das Patriarchat für Sanaa reproduzieren.
„Diese Frauen sind so sozialisiert worden. Sie haben nie gelernt, dass es noch eine andere Seite gibt. Sie befinden sich in ihrer eigenen sozialen Blase und kommen dort nicht raus. Deshalb haben sie sich das System zu eigen gemacht und nutzen die gleichen Mittel, um die nächste Generation zu kontrollieren. Ich habe die Befürchtung, sobald Frauen in diesem patriarchalen System selbst Macht haben, wollen sie diese auch nicht hergeben oder das System verändern. Auch sie missbrauchen ihre Macht. Zwei meiner Figuren, die Tante und Baqqe, unterdrücken Sanaa als junge Frau genauso in ihrer Entwicklung wie der Vater oder der Onkel.”
Ein Thema, das du in deinem Buch anhand von Sanaas Mutter auch behandelst: Depressionen. Dieses Krankheitsbild wird in unserer Gesellschaft fast ausschließlich in Bezug auf weiße, privilegierte Menschen behandelt und fast nie aus migrantischer Perspektive – obwohl es vielleicht gerade in der Generation der Eltern von Sanaa eine wichtige Rolle spielt.
„Total. Ich beobachte immer wieder, dass die Menschen dieser älteren migrantischen Generation an Formen von Depressionen leiden, ohne dass diese allerdings benannt und thematisiert werden. Weder von den Migrant*innen, noch von der deutschen Gesellschaft insgesamt, weil es eben, wie du gesagt hast, als ein Phänomen einer privilegierten Gesellschaft gilt. Oder allgemein auch gar nicht als ernstzunehmende Krankheit, die zu therapieren ist, betrachtet wird. Und das noch weniger in einer kurdischen Gesellschaft, in der man sagt: ,Dann sei halt einfach nicht mehr traurig.’ Wenn man keine klassischen Krankheitssymptome zeigt, dann ist man ja auch nicht krank. Das Traurige bei Migrant*innen ist zusätzlich, dass Depressionen, wenn sie erkannt werden, eigentlich immer auf die Migrationsgeschichte zurückgeführt werden. Es kann natürlich sein, dass es deswegen ist, es kann aber auch viele andere Gründe haben. Diese Gründe versucht auch Sanaa bei ihrer Mutter zu ergründen, kann es aber auch nicht richtig verstehen. Sie will sich kümmern, aber ihr stehen, glaube ich, nicht die Mittel zur Verfügung, um das richtig zu tun.”
„Sanaa ist kein Opfer, sie ist aber auch keine Täterin. Sie versucht einfach nur, in ihrem Umfeld, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig hält.”
Ist Sanaa deine Heldin?
„Heldin als positive Figur? Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht. Ich wollte ihre Geschichte erzählen. Und zwar so, wie es für sie relevant wäre. Ohne es zu romantisieren oder ins Extreme zu verkehren. Sanaa ist kein Opfer, sie ist aber auch keine Täterin. Sie versucht einfach nur, in ihrem Umfeld, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig hält. Beide Extreme, Heldin oder Anti-Heldin, würden sie nicht ausreichend beschreiben. Das dazwischen trifft es irgendwie am besten. Man muss sich ja auch gar nicht entscheiden.”
Ist „Beschreibung einer Krabbenwanderung” ein trauriges Buch?
„Zum Teil. Ich mag diese Bücher, die in einem Moment traurig sind, und dann immer wieder auch eine Gewisse Leichtigkeit transportieren, die lustig sind, aber unter der Oberfläche traurig, tragisch-komisch. Das ist für mich kein Widerspruch, sondern fügt sich gut zusammen.”
„Ich glaube, die vermeintlich deutsche Gesellschaft nimmt sich selbst zu wichtig, um zu verstehen, dass dieses Buch eben nicht für sie als Definition von deutscher Gesellschaft geschrieben ist, sondern für eine Gesamtgesellschaft, zu der auch die Migrant*innen gehören.”
Für wen hast du das Buch geschrieben?
„Darüber habe ich mich sehr viel mit meinen Freund*innen unterhalten, als ich die Kritiken gelesen habe. Ich habe schon erwartet, dass es in der Rezeption vordergründig um Migration und Integration gehen würde. Dadurch werden aber die echten Konflikte dieser jungen Frau übersehen. Ihr Kampf, nicht nur mit einer Kultur, sondern mit den Menschen, die sie umgeben. Klar, die Kultur im Hintergrund spielt eine Rolle, aber nichtsdestotrotz ist es auch eine Geschichte über den Kampf zwischen Eltern und Tochter, zwischen Familienmitgliedern. Das wurde fast komplett übersehen. Für meine Freund*innen wiederum, die selbst auch einen anderen kulturellen Hintergrund haben, waren genau das die zentralen Themen.
Ich glaube, die vermeintlich deutsche Gesellschaft, also die ohne präsente Migrationsgeschichte in der eigenen Familie, nimmt sich selbst zu wichtig, um zu verstehen, dass dieses Buch eben nicht für sie als Definition von deutscher Gesellschaft geschrieben ist, sondern für eine Gesamtgesellschaft, zu der eben auch die Migrant*innen gehören. Auch sie sind mein Publikum. Und zu ihnen spreche ich.”
Wie sieht die deutsche Gesellschaft für dich aus?
„Es gab einen Kommentar zu dem Buch, über den ich mich total geärgert habe. Dort hat jemand geschrieben, die beschriebene Realität sei nicht ,unsere’ – also die der deutschen Gesellschaft – Welt. Aber genau das ist jetzt ,unsere Welt‘. Und das sind auch unsere Konflikte. Wenn man nur die Migrations- und Integrationsthemen dieses Buches sehen will, schafft man wieder eine Isolation der Migrant*innen, die man wie irgendwelche Tiere im Zoo betrachtet, die man erforschen muss. Und das sind ihre Geschichten eben nicht. Sie sind ein Teil der deutschen Gesellschaft, mit Konflikten, die auch deutsche Konflikte sind. Sanaa ist für mich eine Deutsch-Kurdin. Und wenn eine Deutsch-Kurdin diese Probleme hat, dann sind sie genauso ernst zu nehmen wie bei einer deutsch-deutschen Figur.”
Es gibt also nicht mehr nur eine Perspektive?
„Nur eine einzige Perspektive – genau dagegen kämpft doch die Literatur an. Sie kämpft doch dafür, dass wir ganz viele verschiedene Perspektiven und Geschichten lesen können, weil es eben nicht nur eine Realität gibt.”
Du bist eigentlich Lehrerin. Hast du das Buch auch für deine Schüler*innen geschrieben?
„Ich finde es immer gut, wenn positive Vorbilder sichtbar sind. Mir ist es wichtig, dass Schüler*innen aus Einwandererfamilien positive Vorbilder sehen. Das passiert aber nicht, wenn ich ein Buch schreibe. Damit erreiche ich sie nicht. Das passiert, wenn ich unterrichte und sie in mir jemanden sehen, mit dem sie sich identifizieren können.”
Als Schriftstellerin mit einem deutsch-kurdischen Hintergrund wurde dein Debut auch als „Aufsteigerin” gefeiert. Nervt dich das?
„Bei Migranten ist es immer ein Aufstieg. Egal, ob du ein migrantisches Kind von Lehrer*innen, Ärzt*innen oder was auch immer bist, sobald du in Deutschland bist, wirst du auf der sozialen Leiter ganz unten verordnet. Egal, ob du es wirklich bist, egal wie viel kulturelles Kapital du hast, so wirst du betrachtet. Und wenn du dann die Sprache beherrscht und gut in der Schule bist, sind alle erst einmal überrascht. Dann wird konstruiert, dass man irgendwie sozial und bildungstechnisch aufgestiegen ist, obwohl da, bei mir zum Beispiel, kein Aufstieg war. Wären wir im Irak geblieben, hätte ich auch studiert.”
In der deutschen Literaturszene werden Werke aus einer migrantischen Perspektive immer wieder als etwas total Neues gefeiert. Ich glaube, das ist gerade im Hinblick auf internationale Literatur eine ziemlich engstirnige Sicht. Hast du literarische Vorbilder?
„Ja. Eine Autorin, die in Deutschland überhaupt nicht bekannt ist, die ich aber total verehre: Sandra Cisneros, eine amerikanische Schriftstellerin mit mexikanischen Wurzeln, die über vermeintlich traurige Themen so schreibt, dass sie irgendwie doch erträglich werden und man eine andere Perspektive annimmt. Und das mit einer Sprache, die man einfach nur als ,schön’ beschreiben kann. Durch meinen Studiengang (Anglistik) verehre ich aber auch viele amerikanische und britische Autorinnen: Zadie Smith oder Toni Morrison zum Beispiel.”
Karosh Taha: Beschreibung einer Krabbenwanderung, Dumont Buchverlag, März 2018, 240 Seiten, 22,00 Euro
Die Bücher sind natürlich auch bei den lokalen Buchhändler*innen eures Vertrauens zu finden. Support your local Book-Dealer!
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